Europa - Europäisierung - Europäistik: Neue wissenschaftliche Inhalte, Methoden, Projekte

In den letzten Jahren hat sich in verschiedenen Disziplinen eine neue Form eines europäischen Wissenschaftsdiskurses herauskristalliert, den wir im Folgenden fassen unter dem Sammelbegriff „Europäistik“. An der Stiftung Universität Hildesheim haben sich Wissenschaftler zusammengefunden, die eine Pionierfunktion haben in Bezug auf die Begründung und Entwicklung dieses neuen europäischen Wissenschaftsdiskurses. Die Tagung hat die Funktion,
(1) diese innovativen Ansätze aufzunehmen,
(2) zu bündeln,
(3) sachlich zu verknüpfen,
(4) regional im Niedersächsischen Raum zu vernetzen und
(5) der Forschung neue Impulse zu geben.
Weiterhin soll das Projekt einer neuen Europa-Forschung auch die Funktion einer differenzierten Abgrenzung des Kulturraumes Europa gegenüber anderen Kulturen haben, bzw. eine kritische Hinterfragung des globalen Anspruchs der europäischen Kultur leisten. Diesem Anliegen dienen auch eine Reihe von Vorträgen der Tagung.

Tagungsprogramm

Tagung des Instituts für Geschichte
EUROPA – EUROPÄISIERUNG – EUROPÄISTIK: NEUE WISSENSCHAFTLICHE INHALTE, METHODEN, PROJEKTE

Ort: Stiftung Universität Hildesheim: 30. April – 2. Mai 2008  
Dauer der Vorträge: 30 Minuten

Mittwoch 30. April 2008


15:00 Uhr 

  • Grußwort und Eröffnung der Tagung durch den Präsidenten, Prof. Dr. Wolfgang-Uwe Friedrich
  • Einführungsworte von Michael Gehler/Leiter Institut für Geschichte und Silvio Vietta Institut für Angewandte Sprachwissenschaften/Institut für Geschichte


15:30 Uhr

Sektion I: Perspektiven der Euro-Linguistik

  1. Reiner Arntz (Universität Hildesheim): Terminologien als Spiegel europäischer Sprachkultur (abstract als pdf)
  2. Stephan Schlickau (Universität Hildesheim): Sprachliches Handeln als Gegenstand einer vergleichenden Linguistik in Europa (abstract als pdf)


17:00 Uhr

Diskussion

18:00 Uhr

Abendvortrag im Rathaus der Stadt Hildesheim, Struckmannsaal:
Hans-Heinrich Nolte (Universität Hannover):  Europa und Europäisierung im Kontext der Weltgeschichte (abstract als pdf)


Donnerstag 01. Mai 2008


9:00 Uhr

Sektion II: Geschichte als Europa-Wissenschaft

  1. Wolfgang Schmale (Universität Wien): Die Bedeutung der Europäistik für die Geschichtswissenschaften (abstract als pdf)
  2. Michael Gehler (Universität Hildesheim): Was heißt Europäistik für eine Geschichte der europäischen Integration? (abstract als pdf)
  3. Hans-Heinrich Nolte (Universität Hannover): Was bedeutet Weltgeschichte und Globalisierung für die Europäistik? Thesen zur Diskussion (abstract als pdf)

11:00 Uhr

Diskussion

14:00 Uhr

Sektion III: Europäische Kulturgeschichte

  1. Silvio Vietta (Universität Hildesheim): Was heißt Europäistik für eine europäische Literatur- und Kulturgeschichte? (abstract als pdf)
  2. Claudia Bruns (Humboldt-Universität Berlin): Kritische Okzidentalismusforschung? Die Bedeutung der Europäistik für eine Wissensgeschichte des Rassismus (abstract als pdf)
  3. Stefan Krankenhagen (Universität Trondheim): Europa ausstellen. Die Konstruktion europäischer Integration und Identität im Musée de l'Europe (abstract als pdf)

16:00 Uhr

Diskussion

16:30 Uhr

Sektion IV: Philosophie als Europa-Wissenschaft

  1. Tilman Borsche (Universität Hildesheim): Europa als Zukunft - Zukunft Europas. Philosophische Reflexionen (abstract als pdf)
  2. Christian Stadler (Universität Wien): Europäische Identität und ihre geistig-philosophischen Grundlagen (abstract als pdf)
  3. Ralf Elm (Hochschule Weingarten): Vernunft, Freiheit und "Gestell". Ursprungsfiguren und ihre Kritik in der europäischen Kultur (abstract als pdf)

18:00 Uhr

Diskussion


Freitag 02. Mai 2008


08:30 Uhr
 
Sektion V: Europa studieren – Schul- und hochschuldidaktische Überlegungen

  1. Jürgen Elvert (Universität Köln): Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Geschichtsschreibung in Forschung und Lehre (abstract als pdf)
  2. Meike Baader (Universität Hildesheim): Europäischer Hochschulraum und European Studies
  3. Susanne Popp (Universität Augsburg): Das visuelle Gedächtnis europäischer Schulbücher – ein geschichtsdidaktischer Kommentar (abstract als pdf)

10:30 – 11:00 Uhr

Diskussion

11:00 Uhr

Sektion VI: Europa aus dem Blick der anderen

  1. Claudia Derichs (Universität Hildesheim): Europa als Counterpart des Orient: Asiatische Perspektiven (abstract als pdf)
  2. Alexej Ponomarev (Universität Hildesheim): Europa und Europäisierung aus dem Blick Russlands
  3. Paul Michael Lützeler (Washington University St. Louis/ Missouri): Europa und die EU aus dem Blickwinkel der USA (abstract als pdf)

12:30 Uhr

Diskussion und Abschlusskommentare


Für Interessenten findet am 2. Mai am Nachmittag eine Führung durch die Stadt Hildesheim statt.

Stand der Forschung

Im Bereich der real- und kulturgeschichtlichen Studien ist auffällig, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg eine breite Literatur zum Thema Europa in den 50er und 60er Jahren gab, so die Bücher von Max Beloff: Europa und die Europäer. Eine internationale Diskussion. Mit einer Einführung von Denis de Rougement von 1959, Federico Chabod: Der Europagedanke von Alexander dem Großen bis Zar Alexander I. von 1963, Heinrich Dannenbauer: Die Entstehung Europas. Von der Spätantike zum Mittelalter. Zweiter Band. Die Anfänge der abendländischen Welt von 1962, Denis de Rougemont, Europa. Vom Mythos zur Wirklichkeit. von 1962, Rolf Hellmut Foerster: Die Idee Europa 1300 – 1946. Quellen zur Geschichte der politischen Einigung von 1963, Ders.: Europa. Geschichte einer politischen Idee. München von 1967, Heinz Gollwitzer: Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts von 1964, Oskar Halecki: Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte von 1957 u. a.

Nach einer langen Pause, in welcher insbesondere die Deutschen vor allem mit ihrer eigenen Geschichte befasst waren, schnellt erst in den 1990er Jahren und zu Anfang des 21. Jahrhunderts dann wieder der Publikationspegel hoch mit Publikationen wie: Peter Koslowski und Rémi Brague: Vaterland Europa. Europäische und nationale Identität von 1997 oder großen Tagungen, wie A Soul for Europe, hrsg. von Furio Cerutti und Enno Rudolph (2001). Auch im europäischen Ausland nehmen die Publikationen zu Europa nun kräftig zu, wie z. B. die italienischen Veröffentlichungen von Reale Giovanni: Radici culturali e spirituali dell’Europa. Per una rinascita dell’ “uomo europeo” (2003) oder Sergio Romano: Europa. Storia di un’idea. Dall’ Impero all’Unione (2004) bezeugen oder in Frankreich die Publikationen des Altmeisters der französischen Mentalitätsforschung Jacques Le Goff: Das alte Europa und die Welt der Moderne (deutsch 1996) bzw. seine kleine Geschichte Europas. (2000, französisches Orig. 1996). Es entstehen Darstellungen und Textsammlungen wie die von Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart (Piper 1992) bzw. Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger (S. Fischer 1994), die das Entstehen des Europa-Gedankens, wie das bereits Foerster getan hatte, in der Historie verfolgen. Originell der Beitrag von Jürgen Mittelstrass: Europa erfinden. Über die europäische Idee, die europäische Kultur und die Geisteswissenschaften.(In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 1, 59. Jg. Stuttgart Januar 2005, S. 28 ff.) der das ganze Europa-Projekt eben als Projekt einer neuen Erfindung freigeben will.

In den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts kam beinahe zwangsläufig ein neuer Begriff auf, der einen Wandel der Forschungsperspektive anzeigte: der Begriff „Europäistik“. Der Begriff wurde zunächst in der Linguistik eingeführt und verwandt, nämlich durch die Studie von Harald Haarmann „Das geolingustische Studium der EG-Sprachen als Modell einer vergleichenden Europäistik“ von 1976. Bereits der Titel zeigt an, dass hier die Linguistik sich an einem europäischen Modell der politischen Einigung orientiert, den Europäischen Gemeinschaften. Wiederum weist der Begriff und die mit ihm verbundenen Forschungen auch über Europa hinaus. Denn der weltweite Transfer europäischer Wissenschaft, Technologie und anderer Kulturleistungen ist auch verbunden mit einer Globalisierung europäischer Sprachen, bzw. Fachsprachen. Das ist ein zentraler Punk, der mit dem Referat von Reiner Arntz auf der geplanten Tagung angesprochen werden wird.

In den 1990er Jahren hat der Historiker Wolfgang Schmale den Begriff „Europäistik“ für die  Historiographie neu geprägt und für die Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht (u. a. in dem Beitrag Die Komponenten der historischen Europäistik, in: Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, hrsg. von G. Stourzh, Wien 2002). Im Sinne eines weiter zurückreichenden zeithorizont-spezifischen Ansatzes blendeten die historiographischen Annäherungsversuche von Schmale u. a. in die europäische Vergangenheit zurück, frugen nach der Geschichte und der Identität Europas, spürten seinen mythischen Ursprüngen von der Antike ausgehend nach, analysierten Europabilder und -karten von der frühen Neuzeit an bzw. untersuchten verschiedene Europakonzeptionen und -ideen im Sinne eines körpergeschichtlichen oder kulturanthropologischen Ansatzes (so Wolfgang Schmale, Geschichte Europas, Wien – Köln – Weimar 2000).

Europa im Sinne einer longue durée wurde hier vor allem und in erster Linie als kulturelle Integration betrachtet und die politische Einigung, die Integration im engeren Sinne, in einen breiteren Rahmen eingebettet. Dabei wurden diese historischen Bilder von Europa in die gegenwärtigen Debatten eingebracht. Im Sinne eines akteurs- und konkreten integrationshistorischen Ansatzes wird der sinkende Einfluss von Staaten im Europa der 1980er und 1990er Jahre durch zunehmende Europäisierung der Politik reflektiert.

Historiker begriffen den „Integrationsprozess“ v. a. als ökonomische und im weiteren Verlauf auch als politische Option in einem vielgestaltigen und mehrdeutigen westlichen Europa, dessen mittlerer und östlicher Teil durch den Eisernen Vorhang abgetrennt war. Der Integrationsprozess wurde dabei weniger als Beitrag zum Kalten Krieg, zur Teilung des Kontinents und zur fortgesetzten Desintegration Gesamteuropas, sondern vielfach als Vorstufe für ein geeintes Europa gesehen, wobei die Vorstellungen darüber vage und unklar blieben. Die bisherigen geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen über den Verlauf der europäischen Integration haben unterschiedliche Interpretationen hervorgebracht: Einerseits die „ökonomistisch“, an binnenwirtschaftlichen wie außenhandelspolitischen Parametern ausgerichtete Integrationsforschung (Alan S. Milward, The Reconstruction of Western Europe 1945-1951, London 1984, Berkeley – Los Angeles 1986, 1992; Ders., The European Rescue of the Nation State, London 1992), andererseits ideen-, diplomatie- und politikgeschichtliche Entscheidungsprozesse im Rahmen von Kabinetts- und Konferenzbeschlüssen (Wilfried Loth, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 1990, 1996). Während letzterer im Einigungsprozess progressiv „eine beachtliche Innovation“ in der Politik Europas erblickte, die über weitere Entwicklungsmöglichkeiten verfüge, argumentierte ersterer eher retrospektiv-pessimistisch und nüchtern-visionslos, daß die Gründung der Gemeinschaften ein Produkt nationalstaatlicher Interessen war, im Bestreben, die Nationen zu erhalten und neu zu fundieren. Beide Erklärungsansätze schlossen einander nicht aus, machten aber unterschiedliche Bewertungspräferenzen deutlich. Beide Ansätze miteinander zu verknüpfen und die kurze Geschichte der „technokratisch-ökonomistischen-politikhistorischen“ europäischen Integration mit der langen (Kultur- und Mentalitäts-) Geschichte Europas zu verknüpfen kann zu einem neuen Beitrag der Europäistik der Integrationsforschung führen (vgl. ein erster Versuch der Gegenüberstellung: Michael Gehler, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung, München 2005). Der Verfasser plädierte für eine Ausweitung des kern-(west-)europapolitischen Horizonts und folglich auch für eine Erforschung der Rolle der Mitglieder des Europarates sowie eine stärkere Berücksichtigung der Perspektive und Politik der „late comers“ im Kontext der europäischen Integration.

In der Literatur und Kulturwissenschaft hat das Hildesheimer Modell Schule gemacht. Richtungsweisend war hier die große, von Silvio Vietta und Dirk Kemper organisierte  internationale, von der EU wie der Stiftung Niedersachsen finanzierte Konferenz Ästhetische Moderne in Europa (Hildesheim 1996, publiziert 1998), die zu einer bewussten Europäisierung des Fokus der Ästhetikforschung führte. Der Begriff „Europäistik“ wurde dann mehrfach von Vietta verwandt, so in dem von ihm organisierten DFG-Kolloquium Das Europaprojekt der Romantik und die Moderne von 2002 mit dem Einleitungsbeitrag von Vietta: Nationalisierung und Europäisierung der Literaturwissenschaft in Deutschland und Italien I: Methodische Vorüberlegungen zu einer Europäistik“ von 2002, publ. 2005. Die Europäische Kulturwissenschaft. Eine Einführung (2005, neue erw. Auflage 2007) von Vietta vertritt explizit das Projekt einer „Europäisitik“ und stellt dies auch in der neuen Auflage von 2007 programmatisch voran.

Daneben wird der Begriff heute auch in der Hochschuldidaktik verwandt: Christian Bremen (Hrsg.): Europa studieren. Hochschuldidaktische Überlegungen zur Europäistik. Festschrift für Kurt Hemmerich (2003), legt in diesem Sinne eine Sammlung von Aufsätzen vor und wird diesen Aspekt auch auf der geplanten Konferenz in einem Beitrag vertreten.

Die Politikwissenschaft hat ihrerseits die neue Europäisierung der Politik und den Prozess der politischen Einigung Europas mehrfach besprochen und dargestellt. Einschlägig sind hier die Studien des Heidelberger Politikwissenschaftlers Frank R. Pfetsch: Die europäische Union (3. Aufl. 2005) sowie Das neue Europa (2007).

Der Leitbegriff der projektierten Tagung wird ansonsten noch nicht häufig verwandt und insofern soll die geplante Konferenz helfen, ihn interdisziplinär zu diskutieren, weiter zu explizieren, wissenschaftstheoretisch durchzusetzen und mit dem Forschungsland Niedersachsen bzw. der Stiftung Universität Hildesheim zu verbinden.

Innovative Ansätze des Projektvorhaben

Eine neue Wissenschaft der Europäistik, bzw. neue wissenschaftliche Studien zu Europa bedeuten mehr als nur eine interdisziplinäre Vernetzung der schon bestehenden Forschung. Sie bedeutet auch einen Wandel der Perspektive. Man kann vom European Turn der Geschichts- und Kulturwissenschaften sprechen. Dies meint, dass die Leitperspektive der traditionellen Sprach-, Geschichts- und Kulturwissenschaften sich grundlegend wandelt. Traditionelle Kulturwissenschaften wie die Germanistik, Anglistik, Romanistik, Slawistik sowie die nationalen Geschichten der Geschichte, der Philosophie, Musik, Malerei, sind wesentlich Produkte des 19. und 20. Jahrhunderts und ihres nationalen Denkens gewesen. Als solche hatten sie und haben sie immer noch eine wichtige, auch Identität stiftende Funktion. Diese nationalen Kulturwissenschaften haben Enormes geleistet und Standards gesetzt, hinter die keine Wissenschaft mehr zurückfallen sollte. Aber sie haben den Blick auch verengt auf die nationalen Bahnen der Kulturentwicklung.

Das wird durch die Welle der Interdisziplinarität, die vor allem in den letzten Jahren eine große Wirkung entfaltet hat, nur bedingt korrigiert. Interdisziplinarität setzt zunächst einmal die Einzeldisziplinen voraus und vernetzt sie dann.

Unter der Leitperspektive der Europäistik dominiert nicht die Geschichte der Nationen die europäische Geschichte, sondern umgekehrt die europäische Geschichte die Nationen. Vielfach ist die nationale Entwicklung der Kulturen eine Variation bzw. Variante bzw. Deviante allgemeiner europäischer Entwicklungen und Langzeittendenzen.

Ohnehin ist es Allgemeingut, dass alle großen Epochen der europäischen Kultur von der griechischen über die römische Antike, über das christliche Mittelalter, die Neuzeit mit ihren Makroepochen Renaissance, Barock, Aufklärung, Romantik und Moderne – bei aller Problematik der Bildung dieser Begriffe und auch der nationalen Differenzen in der Ausgestaltung der Epochen – europäische Epochenbegriffe waren und sind, die den Raum der Nationen übergreifen und dies zum Teil ja auch in außereuropäische Zonen hinein. Ein Forschungsprogramm der Europäistik setzt also ein Primat dieser europäischen Epochenbegriffe als Dominante der Kulturgeschichte vor der nationalen Ausdifferenzierung und Besonderheit.

Somit dominiert in der Europäistik die Kategorie der Zeit den Raum, die europäische Epochenkodierung deren nationale Umsetzung und Realisierung.

Dabei meint der Begriff der Kodierung jenes System von Regeln, Übereinkünften und Zuordungsvorschriften, die eine tiefenstrukturelle Prägung von Kulturepochen bewirken und in diesem Sinne wie kollektive Bewusstseinsformen – Mentalitäten – wirken. Solche Kodierungen sind selbst Setzungen von Diskursen und setzen solche Diskurse in Gang.

Kodierungen sind auch supra-institutionelle Kategorien. Sie schaffen ihrerseits Institutionen und Realisierungsformen und vernetzen Diskurse und Systeme, sie sind selbst jene übergeordneten Hinsichten, auf die hin Kulturen und Kulturepochen in ihrer systemhaften und diskursiven Varietät sich entwickeln. Dabei stehen die Kulturdominanten oftmals in einem inneren Antagonismus, der sich bis in die Binnensysteme und Diskurse der Kulturepochen fortsetzen kann.

Die Methodik einer Europäistik hat somit ein weites Feld der Forschung vor sich: Ein weites Forschungsfeld eröffnen diachrone Studien zur Entwicklungsgeschichte der europäischen Leitkodierungen und der Diskurse, die sie angeschoben haben und heute global anschieben. Dazu gehört auch die Geschichte der Institutionen und Medien in der Geschichte ihrer europäischen Diffusion und Transformation. Zu diesen Arbeitsfeldern gibt es bereits gute, einschlägige Studien.

Die Europäistik wird auch eine neue Form der synchronen Studien auf den Plan rufen: Wie und über welche Kanäle verbreitet sich ein Diskurs in Europa? Bis wohin dringt er vor? Wo ist das Zentrum, wo sind die Ränder? Wie wird der europäische Leitdiskurs national gebrochen und umkodiert? Auf der Linie solcher Forschungen kann langfristig eine Kartographie der europäischen Kulturgeschichte und ihrer regionalen und temporalen Diffusionsfelder entstehen.

Die projektierte Tagung zur Europäistik hat, wie bereits in (4) erwähnt, die Funktion, erst einmal über den Stand der Forschung in den Disziplinen zu berichten, bzw. Fragestellungen und Methoden zu entwickeln, mit denen eine neue genuin europäische Geschichte der Sprachforschung, Realgeschichte, Kultur in Gang kommen kann, bzw. bereits in Gang gekommen ist. Insofern sollte die Tagung auch eine Breitenwirkung in den Wissenschaften wie auch in der Öffentlichkeit haben.

Politische Bedeutung der Europäistik

Dazu kommt ein weiterer unmittelbar politischer Aspekt bei der Entwicklung einer genuin europäischen Forschungsperspektive der Wissenschaften.

Bekanntlich vollzog sich der Prozess der Vereinigung der Länder Europas zunächst auf wirtschaftlicher Basis, war jedoch von Anfang höchst politisch motiviert. Aber schon die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS oder Montanunion, 1952), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Europäischen Atomgemeinschaft (EWG und EURATOM) durch die Römischen Verträgen von 1957, später zusammengefasst als Europäische Gemeinschaften im Fusionsvertrag von 1965, waren keineswegs nur rein ökonomisch-politische Gemeinschaftsbildungen. Erst recht die Gründung der Europäischen Union mit dem inkraftgetretenen EU-Vertrag von Maastricht (1. 11. 1993) ging explizit und entschieden über die Wirtschaftsgemeinschaft hinaus hin zu einer politischen Gemeinschaft. Diese setzte, noch expliziter als die Europäische Gemeinschaft, die europäische Real- und Kulturgeschichte als Grundlage voraus. Die heutige Europäische Union von gegenwärtig 27 Staaten konnte sich nur vollziehen auf der Grundlage eines Identitätsbewusstseins, das sich im Laufe der europäischen Kulturgeschichte entwickelt hatte.

Das neue Europa ist nicht und kann nicht sein Projekt eines Volkes. Es gibt kein ‚europäisches Volk’ wie es nationale Völker als Grundlage der Nationebildungen gab. Insofern muss die europäische Identität ganz anders begründet sein und werden als die nationalen Identitäten. Sie ist in der Tat in der europäischen Real- und Kulturgeschichte begründet.

Allerdings ist diese kulturelle europäische Identität im Kulturbegriff des Vertragswerkes der Europäischen Union noch nicht wirklich verankert. Diese Defizite sind greifbar auch in dem bisherigen Scheitern der Verabschiedung einer Verfassung für Europa. Das ist auch ersichtlich aus der konsolidierten Fassung des Vertrages von Nizza vom 26. 2. 2001. Zum Thema „Kultur“ definierte der Vertrag unter dem „Titel XII. Kultur, Absatz (1)“:

Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes. (Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, S. 45)

Dieser Kulturbegriff des Europäischen Vertrages zu Anfang des 21. Jahrhunderts beruht noch auf dem nationalstaatlichen Kulturbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts. Er nimmt also die gemeinsame Kulturidentität als gemeinsames Band der europäischen Nationen nicht wirklich in den Blick.

Demgemäß ist auch die Aufgabenstellung im Absatz (2) des Vertrages noch ganz im Kontext der Kulturen der Nationalstaaten und Völker definiert als:

[…] Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker […] (ebd.).

Die Pluralformen („Kulturen der Mitgliedstaaten“, „der europäischen Völker“) zeigt an, dass die Einheit der europäischen Kultur in der Vielfalt der europäischen Kulturen und Völker auch im Vertragswerk der EU noch nicht zugrunde gelegt wird. Zwar definiert dann der folgende Spiegelstrich die Aufgabe:

Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung […]  (ebd.).

Dies ist aber eher eine kulturkonservatorische Aufgabe. Die Präsenz der gemeinsamen europäischen Kulturgeschichte in den Denk- und Mentalitätsformen der europäischen Völker und Nationen ist darin nicht wirklich erkannt.

In diesem Sinne hat die geplante Konferenz auch die politische Funktion der Eigenständigkeit einer Europa-Forschung in Geschichte, Kulturgeschichte und Sprachforschung in den Blick zu rücken und damit auch an dem politischen Fundament einer europäischen Identitätsbildung kritisch mitzuarbeiten.

Presseberichte und Hinweise auf die Tagung