Lehren aus der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise

Lehren aus der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise

Es gilt das gesprochene Wort!

 

Dr. Jürgen Stark, derzeitiger Vorsitzende des Stiftungsrates der Stiftung Universität Hildesheim, war 1998-2006 Vizepräsident der Deutschen Bundesbank. Der Honorarprofessor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Eberhard Karls Universität Tübingen hatte und hat zudem viele andere bedeutende Ämter wie z.B. G-7 und G-20-Stellvertreter (1999-2006) oder Mitglied des EU-Wirtschafts- und Finanzausschusses (seit 1999) inne. Seit 1 Juni 2006 ist er Mitglied des Direktoriums der EZB, sowie des EZB Rates und zuständig für die Geschäftsbereiche Volkswirtschaft und Informationssysteme.

 

Stark beginnt seine Ausführungen zum Thema „Die Lehren aus der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise“, die in der Volksbank Hildesheim in Anwesenheit der Presse gehalten werden, mit der Feststellung, dass Zentralbanker im Gegensatz zu Historikern, „die in Ruhe die Entwicklung abwarten und die Quellen auswerten können“, in Echtzeit, in einem Umfeld von sehr großer Unsicherheit und teilweise ohne die Möglichkeit, alle erforderlichen Daten wissen zu können, zu entscheiden haben.

Was die Ursachen der Krise anbelangt, so liegen diese nach Starks Einschätzung nach einerseits in der Politik, andererseits bei einzelnen Marktteilnehmern. In Bezug auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik konstatiert er zu lange Phasen niedriger Zinssätze vor allem in den USA. Auch die Regulierung und Bankenaufsicht habe unzulänglich funktioniert. Einzelne Marktteilnehmer wiederum seien zu hohe Risiken eingegangen. Der Kollaps des globalen Wirtschaftssystems habe nur durch massivste Eingriffe von Politik und Zentralbanken verhindert werden können. Diese bestanden vor allem in durch Steuergelder finanzierte staatlichen Hilfs- und Stützmaßnahmen in (auch) für ihn bisher unvorstellbaren Ausmaßen. Die Entscheidungen der EZB spätestens seit Oktober 2008 hält Stark für zielführend und richtig.

 

Im Folgenden, so Stark, gehe er auf die Fragen ein, wo wir heute ökonomisch stünden, wie die Sanierung des Bankensystems voranschreite und welche Konsequenzen Politik und Bankensektor aus der Krise gezogen haben.

 

Hinsichtlich der ersten dieser Fragen stellt er fest, dass die Krise als zweifellos tiefster Einschnitt seit der Weltwirtschaftskrise 1929 zu werten ist. Zwar scheint ihm die Talsohle durchschritten, doch die nun eintretende Stabilisierung bewege sich noch auf sehr niedrigem Niveau und werde sich sicherlich noch mehrere Jahre hinziehen. Das derzeitige Wirtschafts-„Wachstum“ liege bei ungeschönten -4%. Wenn er eine Prognose abgeben solle, werde die Arbeitslosigkeit (ein Spätindikator der Wirtschaftslage) bis 2010 weiter steigen. Die Gefahr einer namhaften Inflation sieht er hingegen genauso wenig wie die einer Deflation. Hier bestünden keine Risiken.

 

Wie steht es um die Sanierung des Finanzsektors? Hier nimmt der Redner heute wieder ein größeres Vertrauen der Banken untereinander wahr, die in der ersten, unübersichtlichen Zeit der Krise kaum Bereitschaft zeigten, sich gegenseitig finanziell zu stützen. Die EZB, betont Stark, habe jedoch ein fundamentales Interesse daran, dass dieser Markt funktioniert. Nur so seien die gravierenden Eingriffe zu rechtfertigen, die zur Krisenbewältigung von ihr vorgenommen wurden. Um dem Auditorium eine zumindest vage Vorstellung vom Ausmaß des Problems zu geben, benennt Stark den Verlust des Bankensektors nur im Eurogebiet (der lediglich 25% des globalen Bankensektors ausmacht) mit 553 Milliarden €. 366 € an Rückstellungen seien zwar bereits geleistet worden, doch die letztlichen Auswirkungen der Krise könne man noch gar nicht absehen. Es sei jedenfalls kaum davon auszugehen, dass – wie man den obigen Zahlen zu entnehmen versucht ist – bereits zwei Drittel des Verlustes „abgearbeitet“ seien. Das liege auch daran, dass des Übels Wurzel nicht beseitigt ist.

Diese müsse man z.B. in den globalen Leistungsbilanzungleichgewichten suchen, die man eindeutig unterschätzt hatte. Ein weiteres Problem bestünde in der breiten Verschuldung der US-Haushalte, die zu der verheerenden Immobilienpreis-Blase geführt habe. Rückblickend müsse man sagen, dass die Komplexität der Finanzwelt auch von Spitzenbankern damals nicht vollständig durchschaut wurde.

 

Welche Konsequenzen, so Stark, müsse man hieraus ziehen und wurden tatsächlich gezogen? – Wichtig sei vor allem mehr Transparenz der Finanzmärkte, deren Funktionsweise gleichzeitig verbessert werden müsse. Auch müsse man die stärkere Eigenkapitalunterlegung bei der Kreditvergabe als das richtige Instrument betrachten, denn auch wenn das Wachstum dadurch möglicherweise geringer ausfalle, sei es doch sicherlich ein nachhaltigeres. Eine weitere nötige Konsequenz, erläutert Stark, müsse die bessere Überwachung der Finanzinstitute sein. Hier stellt sich nicht zuletzt die Frage nach den Bonusregelungen. Es sei notwendig, dass diese nicht den schnellen Gewinn, sondern die langfristige Rentabilität belohnen. Bislang hätten die G-20 hier leider unterschiedlich reagiert, doch hoffe er in diesem Punkt noch auf eine Einigung.

 

„Was ist die neue Normalität?“, sucht Stark nun zu bilanzieren, um gleich darauf die sich daraus ergebene Frage zu stellen, was denn im Finanzmarkt überhaupt als normal zu betrachten sei. Um in „normale“ Gefilde zu gelangen sei man schon gezwungen, „ein ganzes Stück zurück“ zu gehen, da auch die 1990er Jahre nicht frei von sektoralen Finanzkrisen waren. Das derzeitig niedrige Niveau des Potentialwachstums bedeute jedoch eindeutig, dass unser Wohlstand absinken wird, wenn nun nicht mit Nachdruck sowohl von der Politik als auch vom Banksektor die erforderlichen Maßnahmen konsequent ergriffen würden.

Bisher hätten sie USA als einzige verbliebene Supermacht und mit ihrer scheinbar alles stemmen könnenden Wirtschaftskraft das globale Wirtschafts- und Finanzsystem gestützt, doch das Vertrauen in sie sei nun erschüttert. China sei zwar „im Kommen“, doch stelle sich dieses Land nach wie vor als sehr ungleichmäßig entwickelt dar: Während der Osten sich hochmodern zeige, sei die Situation im Westen so, dass noch viele Menschen dort mit einem Euro pro Tag ihr Leben zu fristen hätten. China werde zwar zunehmend wichtig, doch im Moment habe es noch so große eigene Probleme zu bewältigen, dass es den Platz der USA nicht einnehmen könne. Europa mit seiner alternden Bevölkerung und der unterschiedlichen Bereitschaft, unbequeme Konsequenzen aus der Krise zu ziehen, habe erst recht nicht das Potential, im Notfall in die Bresche zu springen.

Das Banken- und Finanzsystem wird Starks Einschätzung nach insgesamt schrumpfen. Es müsse unbedingt verhindert werden, dass es sich praktisch wieder von der Realwirtschaft abkoppele. Stattdessen sieht Stark die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels: Man habe sich hier wieder auf die Grundfunktionen des Bankwesens zurückzubesinnen. Dem entgegen stehen Gesetzmäßigkeiten, die einige Banken sich als „systemisch relevant“ (= für das globale Finanzsystem unverzichtbar) und in entsprechender Sicherheit wähnen lassen könnten. Hierbei gilt es zu bedenken, dass, wenn eine Bank zu groß ist, um den Markt zu verlassen, sie so groß ist, dass sie eigentlich gar nicht existieren dürfte. Niemand könne allerdings eine klare Definition dafür formulieren, wann eine Bank in diesem Sinne als groß genug bzw. zu groß angesehen werden kann oder muss. Abgesehen davon sei es aber ohnehin von vornherein kontraproduktiv, Banken als „systemisch relevant“ zu bezeichnen und ihnen damit eine Überlebensgarantie und de facto einen Blanco-Scheck für jegliches Risiko auszustellen. In diesem Zusammenhang gelte es auch zu beachten, dass die EZB in der Krise zwar erfolgreich eingeschritten ist, doch gerade dadurch die trügerische Sicherheit verbreitet hat, dass sie dies auch in Zukunft wieder tun könne und würde. Allgemein formuliert: Jeder Eingriff des Staates hat auch Veränderungen des Verhaltens der Marktteilnehmer zur Folge.

Was das öffentlichen Defizit betreffe, so lag dieses für Deutschland 2007 bei 0,7%. 2010 werden sie für das Eurogebiet, so die Prognose des Referenten, allerdings bei ungefähr 7% liegen. Mit den öffentlichen Defiziten steigt zudem automatisch die öffentliche Verschuldung an. Am Beispiel Großbritanniens erläutert er, dass dessen Schuldenberg sich infolge der Wirtschaftskrise von 2007 bis 2011 um 40% erhöhen werde. In anderen Staaten sehe es ähnlich dramatisch aus. Die Sanierung der öffentlichen Haushalte ist noch nicht geleistet. Allerdings hofft Stark, dass spätestens 2011 mit der allgemeinen Konsolidierung begonnen werden könne. Immerhin funktioniere die Marktregulierung nun deutlich besser. Sorge breitet ihm jedoch, dass nicht wenige Finanzmarktteilnehmer bzw. Banker („ich sage ausdrücklich nicht ´Bankiers´“, so Stark) die nötige Lektion nicht gelernt hätten. Ihre Mentalität habe sich kaum geändert, und es kursiere sogar vereinzelt die Losung: „Das Casino hat wieder geöffnet.“

 

Rückblickend bezeichnet Stark die Zeit der Kriseneindämmung von Oktober 2008 bis Februar 2009 als die intensivste und Nerven aufreibendste Arbeitsphase seines Lebens. Zwar gebe es noch sehr viel zu tun, aber „wir haben gehandelt wie wir gehandelt haben, und es war sicherlich nicht alles falsch, was wir gemacht haben.“

 

Wie üblich schloss sich auch diesem Vortrag eine rege Diskussion an. In dieser gab Stark vor allem seiner Einschätzung Ausdruck, dass sich der Euro in der Krise bewährt habe: Ohne die Einheitswährung wäre die Reaktion auf die Krise wesentlich heterogener und weniger effektiv gewesen. Der Euro und die EZB hätten sich als „Stabilitätsanker“ erwiesen.

 

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