Kampfplatz Deutschland – Stalins Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg

Kampfplatz Deutschland – Stalins Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg

Kampfplatz Deutschland – Stalins Deutschlandpolitik im Zweiten Weltkrieg

 

Kurzzusammenfassung des Vortrags vom 01.12.2008
Dr. Phil. habil. Bogdan Musial

 

Der Vortrag von Bogdan Musial behandelte zweierlei Themen: einmal die Deutschlandpolitik Stalins von 1919 bis 1941 und sodann die Kriegspolitik des sowjetischen Diktators (1941-1945). Musial machte gleich einleitend deutlich, dass für die Bolschewiki wie Lenin Deutschland sowohl aus industriellen, ökonomischen als auch politischen und gesellschaftlichen Gründen immer interessant war. Russland war trotz aller Industrialisierungsbemühungen unter dem zaristischen Herrschaftssystem überwiegend agrarisch ausgerichtet, die Revolutionierung gestaltete sich in jeder Hinsicht schwierig. In Deutschland wurde mit einem Potential der Arbeiterschaft von 15 bis 20 Millionen gerechnet. In Deutschland gab es eine starke Kommunistische Partei, die KPD. In Deutschland lockte auch eine starke Industrie, die stärkste in Europa. Der Zugang zu deutschen Fabriken und zur deutschen Waffenproduktion war entscheidend für die revolutionären Ambitionen der Bolschewiki. Berlin und Deutschland galten ihnen als Herz Europas. Wer dort herrschte, konnte ihrer Ansicht nach Europa beherrschen und revolutionieren. „Nur Deutschland bedeutet die Sicherung des Sieges der Revolution im internationalen Maßstab“, erklärte Stalin im Juni 1924.

Im Jahre 1923 wurden in Moskau Putschpläne für die KPD entwickelt und gefördert. Ein organisierter Aufstandsversuch und Staatsstreich sollte im Oktober 1923 in Hamburg stattfinden, doch hätten sich gemäß Musial die bolschewistischen Anführer verkalkuliert, denn die Hamburger Arbeiter folgten nicht den kommunistischen Aufständischen. Es gelang außerdem die Stabilisierung der deutschen Wirtschaft. Sie erholte sich nach 1923 und konsolidierte sich in den nächsten Jahren. In der Folge kam es zu einer Paradoxie: Während in Westeuropa (auch in Deutschland trotz Reparationslasten) ein ökonomischer Aufstieg erfolgte, sank die sowjetische Wirtschaft nach einem rasch einsetzenden Aufschwung bald wieder ab. Alle Versuche, das Land zu industrialisieren, scheiterten. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre fürchtete man sich im Kreml sogar vor Bauernaufständen, insbesondere in der Ukraine, aber auch in den Kosakengebieten. Das eigene Land musste „befriedet“ werden.

Ab 1927 entwickelte Stalin Pläne für die Intensivierung der Aufrüstung, um sich auf den künftigen revolutionären Krieg vorzubereiten. Aber erst der „schwarze Freitag“ des Jahres 1929 an der New Yorker Börse war laut Musial für Stalin eine Zäsur bei den Kriegsvorbereitungen. Durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise für Europa und Deutschland war er von großer Arbeitslosigkeit, Entlassungen, Verarmung und einem Aufschwung der kommunistischen Parteien in Deutschland und Europa ausgegangen. Stalin startete einmal mehr neue Rüstungsprojekte und gab Anweisung an die KPD, ein neues Programm zu entwickeln, den Einsatz für die „nationale Revolution“ und die Rechte der deutschen Minderheiten im Ausland zu propagieren und letztlich gemeinsam mit der NSDAP (zugleich aber gegen die SPD!) an der Destabilisierung und Schwächung der Weimarer Republik zu arbeiten. Stalin sah diese Koalition für die Zerschlagung der Weimarer Republik in den 1930er Jahren für entscheidend an.

Zugleich ließ Stalin gigantische Pläne zur Aufrüstung konzipieren und sie dann in Angriff nehmen. Mit seiner Denkschrift vom 11. Januar 1930 entwarf Michail Tuchatschewski, Kommandierender des Leningrader Kriegsbezirks (Volkskommissar für das Kriegswesen war Kliment Woroschilow) eine Denkschrift für Stalin, verbunden mit einem ersten Plan für einen modernen Blitz- und Vernichtungskrieg. Seine Analyse ging davon aus, dass die zukünftige sowjetische Armee eine Vernichtungskriegsstrategie verfolgen solle. Hauptangriffspunkt war Polen mit seinen Verbündeten, das eigentliche Ziel aber Deutschland, das Herz Europas. Nur für einen Krieg gegen Polen brauchte man nicht die 40.000 Flugzeuge und 50.000 Panzer für die sowjetische Armee, die Tuchatschewski in seiner Denkschrift vorsah. Trotz zwischenzeitlicher Kritik an Tuchatschewskis Plänen durch den Generalstab, von der sich auch Stalin anfangs beeinflussen ließ, entschuldigte er sich dann später sogar bei Tuchatschewski für seine Kritik und gab ihm letztlich grünes Licht für die konkrete Ausarbeitung einer Blitz- und Vernichtungskriegsstrategie. Tuchatschewski avancierte 1931 zum stellvertretenden Volkskommissar für das Kriegswesen und die Flotte.

Auf die Hitlers Machtübernahme im Jahre 1933 reagierte Stalin gelassen. Der antisowjetischen Rhetorik Hitlers schenkte er keinen Glauben, er ging von dessen Westexpansionsabsichten aus. Die Bewilligung eines Handels- und Waren-Kredits von Hitler für die Sowjetunion im Ausmaß von 200 Millionen Reichsmark im Frühjahr 1935 gab Stalin Sicherheit in diesem Denken, ja wirkte wie eine Sicherheitsgarantie. In den nächsten Jahren wurde jedoch die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit faktisch unterbrochen

Erst zwischen Mai und Juli 1939 wurden erneut Gespräche zwischen Berlin und Moskau aufgenommen, um diesmal ein gemeinsames Vorgehen gegen Polen zu arrangieren.

Warum hatte Stalin ein Bündnis mit Frankreich und Großbritannien gegen Deutschland verworfen? Denkschriften von Timoschenko (Generalstabschef der Roten Armee) vom Juli 1939 deuteten in diese Richtung: Stalin wollte Krieg entweder mit Deutschland gegen den Westen oder mit dem Vereinigten Königreich und Frankreich gegen Deutschland. Letztendlich erschien Stalin das deutsche Angebot viel attraktiver. Das von der bisherigen militärgeschichtlichen Forschung vorgetragene Argument von der Kriegsstrategie der Sowjetarmee mit defensivem Charakter, welches nach der Wendezeit 1989/90 aufgekommen war, ist laut Musial nicht haltbar. Es existierte so etwas wie eine Ideologie des revolutionären Eroberungskrieges. Der Referent zitierte hier Notizen von Andrej Schdanow sowie Tagebuchaufzeichnungen von Georgij Dimitroff, die an Eindeutigkeit kaum mehr etwas offen lassen. Im September 1939 ging Stalins Rechnung zunächst auch auf. Im Westen gab es Krieg, aber dieser ging viel zu schnell zu Ende (Frankreichfeldzug). Durch den leichten Sieg der Sowjetarmee in Ostpolen, stürzte sich Stalin bald in den Krieg gegen Finnland (30.11.1939). Trotz über zehnjähriger Vorbereitung endete diese kriegerische Auseinandersetzung mit einer militärischen Schlappe für die Rote Armee. Die ernüchternde Erkenntnis in Kreml war: Die Rote Armee taugte in dieser Verfassung nicht für Angriffskriege. Die Konsequenz daraus war eine weitere massive Rüstungsanstrengung sowie umfassender Um- und Ausbau der sowjetischen Streitkräfte.

 

Musial machte klar, dass trotz des Umstandes, wonach die Sowjetarmee in einer langfristigen Strategie auf einen Angriffskrieg eingestellt wurde, die Präventivkriegsthese bezüglich Hitlers und NS-Deutschland nicht zu halten sei. In der bisherigen Deutung gab es im Wesentlichen zwei Lager: eine Seite argumentierte, die Rote Armee sei im Mai und Juni 1941 angriffsbereit gewesen, während die andere Seite davon ausging, dass die Rote Armee eine defensive Strategie verfolgt habe. Beides, so Musial, stimme „nicht ganz“. Die Sowjets hatten einen Angriffskrieg im Sinne, waren aber im Jahre 1941 weder objektiv noch subjektiv dazu bereit. Im Frühjahr 1941 waren umfassende Auf- und Umrüstungen noch im Gange. Man brauchte noch Zeit für den Aufbau einer schlagkräftigen Angriffsarmee, die den Deutschen gewachsen sein würde. Stalin war sich dessen bewusst, mittel- und langfristig war aber der Angriff auf Deutschland fest eingeplant. Bereits 1940 gab es die ersten Anzeichen dafür, als beispielsweise die KOMINTERN – bis dato ganz auf Linie hinsichtlich des Nichtangriffspaktes – angewiesen wurde, Deutschland solle nicht mehr unterstützt werden. Im Herbst 1940 kam bei Stalin die Idee auf, eine polnische Division (in Kasachstan) aufzustellen, die im Krieg gegen Deutschland eingesetzt werden sollte. Im Mai 1941 folgte der geheimnisumwitterte Flug des Führerstellvertreters Rudolf Heß nach Schottland, um den Briten ein Separatfriedensangebot zu unterbreiten, was bei Stalin „große Unruhe“ hervorrief und in der anschließenden Diskussion noch berührt wurde. Die Aufstellung einer polnischen Division fand nicht mehr statt. Hitler kam mit seinem Krieg im Osten Stalin zuvor. Subjektiv wie objektiv habe Deutschland aber keinen Präventivkrieg geführt, so Musial. Die Reichsführung war über die Angriffspläne der UdSSR nicht „im Bilde“ (so Goebbels). Der „Große Terror“ und die Zerschlagung der Roten Armee-Führung waren zwar in Berlin bekannt, nicht aber beispielsweise die enormen Dimensionen des Auf- und Ausbaus der Panzerproduktion, wie es aus dem Tagebuch von Joseph Goebbels hervorgeht. Man habe die sowjetische Stoßkraft und Ausrüstung und die damit entstandenen militärischen Schwierigkeiten unterschätzt, schrieb Goebbels in seinem Tagebuch Mitte August 1941. Der „Führer“ war ungehalten, so Goebbels, weil er sich über das deutsche Potential hatte täuschen lassen. Er war von einer geschätzten Zahl von 5.000 sowjetischen Panzern ausgegangen, während es tatsächlich über 20.000 waren. In einem Gespräch mit dem finnischen Oberbefehlshaber Mannerheim am 4. Juli 1942, räumte Hitler ein, dass man „selber auch nicht so genau“ wusste, „wie ungeheuerlich dieser Staat [die Sowjetunion] gerüstet war“: „Die haben die ungeheuerste Rüstung, die Menschen denkbar ist. […] Wenn mir jemand gesagt hätte, daß ein Staat mit 35.000 Tanks antreten kann, dann hätte ich gesagt: Sie sind wahnsinnig geworden! […] Hätt’ ich’s geahnt, dann wäre mir noch schwerer zu Herz gewesen, aber den Entschluß hätte ich dann erst recht gefasst, denn es blieb ja keine andere Möglichkeit. Ich war mir schon klar schon im Winter 39 und 40, daß die Auseinandersetzung kommen mußte.“ Musial schloss aus diesen Aussagen, dass Hitler 1939/41 keine Präventivkriegsgedanken gehegt hatte. Beiden Diktatoren hatten sich demgemäß getäuscht: Stalin über Hitlers Expansionsabsichten im Westen unter Vermeidung eines Zweifrontenkrieges, Hitler über die Schwäche der sowjetischen Armee.

Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 beendete jäh das deutsch-sowjetische Bündnis und die Waffenbrüderschaft. Deutschland mit seinem Wirtschafts- und Menschenpotenzial verwandelte sich in den Augen von Stalin von der unabdingbaren Voraussetzung der Weltrevolution zum Hauptfeind der Sowjetunion. Stalin und seine Genossen waren von der Haltung der Deutschen, insbesondere der deutschen Arbeiter, die als Soldaten der Wehrmacht „wie die Teufel“ kämpften (so Stalin), mehr als enttäuscht. In Deutschland hatte eine Revolution stattgefunden, wie es die Bolschewiken vorausgesagt hatten, allerdings nicht eine kommunistische, sondern die nationalsozialistische, die die Sowjetunion an den Rand der Katastrophe brachte. Nun sann Stalin auf Vergeltung und blutige Rache. Die viel zitierte Formel „Die Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt bestehen“ war Propaganda. In Wirklichkeit bestanden laut Musial Vernichtungs- und Zerstörungsabsichten bezüglich Deutschlands und deutschen Führungseliten.

Stalin stimmte mit den westlichen Alliierten überein, dass Deutschland nachhaltig geschwächt werden müsse. Man hatte vor, Deutschland über längere Zeit zu okkupieren und es anschließend in mehrere Staaten aufzuteilen. Man beabsichtigte auch, die deutsche Industrie zu zerschlagen. Stalin, Roosevelt und Churchill unterhielten sich darüber zum ersten Mal während der Konferenz in Teheran (Ende 1943). Churchill behauptete später, dass während der Konferenz in Teheran Stalin als Erster den Vorschlag unterbreitet habe, Deutschland zu zersplittern. Darüber hinaus schlug Stalin vor, die polnische Westgrenze bis zur Oder-Linie zu verschieben, um Deutschland zu schwächen, wofür er sich einsetzen wollte. Die Alliierten waren sich zugleich einig, dass diese Pläne und Überlegungen geheim bleiben sollten, weil man fürchtete, die Deutschen würden sonst noch größeren Widerstand leisten, da sie nichts zu verlieren hätten.

Stalin forderte auch ein Katyn für deutsche Offiziere. Alle deutschen Offiziere, rund 100.000 Mann sollten, erschossen werden. Stalin sprach auch darüber anlässlich der Konferenz der „Großen Drei“ in Teheran. Churchill teilte diese Auffassung nicht, während Roosevelt daraus einen Scherz zu machen versuchte. Jedoch im Februar 1945, in Jalta, erklärte Roosevelt im Gespräch mit Stalin, dass er hoffe, Stalin würde diesen Vorschlag (Erschießung deutscher Offiziere) nochmals unterbreiten, um dann seine Zustimmung zu erteilen. Stalin unternahm diesen Vorstoß aber nicht mehr.

 

 

Das Gesamtfazit lautet: Die weltanschaulich begründete Westexpansion des Sowjetreichs war nicht nur eines der wichtigsten Charakteristika, sondern vielmehr das Hauptmerkmal des ersten kommunistischen Staates, den die Bolschewiki auf den Trümmern des Zarenreiches aufgebaut hatten. Sie war auch sinnstiftende Basis für den kommunistischen Internationalismus. Den Sieg der russischen Revolution 1917 in Russland sahen die Bolschewiki als ersten Schritt zur Weltrevolution und meinten dies laut Musial sehr ernst. Der zentrale strategische Ort in diesen Plänen kam wiederholt Deutschland zu und zwar aufgrund seines Wirtschafts- und Menschenpotentials wie auch aufgrund der sehr günstigen geopolitischen Lage im Zentrum Europas. Führende Bolschewiki sahen die Revolution in Deutschland als conditio sine qua non für die Weltrevolution und strengten sich auch an, diese mit allen Mitteln herbeizuführen. Intendiert war, im geeigneten Moment militärisch zu intervenieren. Ab 1924 sanken allerdings die Hoffnungen auf eine kommunistische Revolution in Deutschland. Es mussten neue Pläne und Strategien entwickelt werden. Ab 1925 behauptete sich Stalin mit einer Auffassung, die Lenin bereits 1915 formuliert hatte: Der erste sozialistische Staat der Welt müsse notfalls im Alleingang die kommunistische Revolution mit Waffengewalt verbreiten. 1927 genehmigte das Politbüro Aufrüstungspläne, ihre Verwirklichung scheiterte jedoch an der unterentwickelten und rückständigen Industrie der Sowjetunion. Nach dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise im Zuge des 25. Oktober 1929 intensivierte Stalin, der seine Machtstellung zu einer totalitären Diktatur ausgebaut hatte, die Kriegsvorbereitungen, die umfassende und weitreichende Dimensionen annahmen. Ab 1930 wurde die sowjetische Ökonomie und Gesellschaft auf Vorbereitungen für einen Angriffskrieg ausgerichtet. Zugleich setzte Massenterror gegenüber all jenen ein, die diese Vorbereitungen störten bzw. sabotierten und im künftigen Krieg das eigene Hinterland gefährden würden. Primär ging es dabei um die bäuerliche Bevölkerung, die sich gegen die gewaltsam eingetriebenen Getreideabgaben stemmte und Widerstand gegen die Zwangskollektivierung leistete. Stalin wollte dabei mit Getreideexporten die weitreichende Aufrüstung finanzieren. Ab 1930 setzte ein zügiger Aufbau der sowjetischen Kriegswirtschaft und der Streitkräfte ein, die neu strukturiert und entsprechend umgerüstet wurden. Neue Technologien, Anlagen und Waffenprototypen wurden im westlichen Ausland eingekauft und mit Rohstoffexporten (u. a. Getreide, Holz), ja sogar mit gesteigertem Wodkaverkauf innerhalb des eigenen Landes finanziert. Laut Musial verwandelten Stalin und sein Herrschaftssystem in den 1930er Jahren die Sowjetunion zu einem einzigartigen Zwangsarbeitslager, nur um das Land auf einen langjährigen revolutionären Eroberungskrieg vorzubereiten. Die rasch ansteigende Masse an Kriegsmaterial und Kriegsausrüstung ging nicht mit entsprechender Qualität Hand in Hand. Flugzeuge und Panzer wurden mit schweren Produktionsmängeln ausgeliefert und waren damit pannenanfällig. Die Soldaten, alles andere als willig, sollten schlecht ernährt, bekleidet, ausgebildet, geführt und unmotiviert sein. Unzählige Ausfälle, Pannen und Unfälle waren auch kennzeichnend für die Kriegswirtschaft, die umgehend als Sabotage geahndet wurden. Der Große Terror der 1930er Jahre hatte laut Musial seine Wurzeln in den nicht wie vorgesehen verlaufenden Kriegsvorbereitungen und den dabei erlittenen Rückschlägen. Er entwickelte eine Eigendynamik und erfasste mit der Zeit alle Sektoren von Gesellschaft und Staat. Weitreichende Säuberungsmaßnahmen innerhalb der Roten Armee, des Partei-, Staats-, Wirtschafts- und NKWD-Apparats massierten sich 1937/38. Am meisten davon betroffen war die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung, die zur Zwangsarbeiterschaft der kommunistischen Bürokratie herabgestuft wurde. Die dörflichen Führungsschichten, darunter gut situierte Bauern, Geistliche, konfessionell gebundene Personen und politisch engagierte nicht-kommunistische Personen sowie die nationale Intelligenz der verschiedenen Sowjetrepubliken wurden systematisch ausgerottet, d. h. liquidiert oder in Internierungslager des GULAG eingesperrt, im noch günstigeren Fall mit samt den Familien in ungastliche Territorien im Norden und Osten der Sowjetunion verbracht, wobei das Sowjetregime Sippenhaftung praktizierte.

Die Weltwirtschaftskrise führte jedoch nicht zu einem Krieg unter den imperialistischen Mächten, wie sich Stalin und seine Genossen das gedacht hatten. Im Jahre 1933 kam Hitler in Deutschland an die Macht und zerstörte zunächst alle Hoffnungen auf eine kommunistische Revolution. Erst mit 1939 kam die im Kreml erhoffte außenpolitische Wende. Am 23. August 1939 wurde in Moskau der Hitler-Stalin-Pakt und damit die vierte Teilung Polens in seiner neueren Geschichte besiegelt. Der Nichtangriffspakt war ein Angriffspakt auf Polen. Der von Stalin erwartete, vorhergesagte und angestrebte europäische Krieg sollte wahr werden. Im Wahn des Sieges der kommunistischen Idee, der durch den sowjetischen Einmarsch in Ostpolen am 17. September 1939 erfolgte, begann der Diktator den Winterkrieg 1939/40 mit Finnland. Der Krieg wurde zum militärischen Desaster für die Rote Armee, obwohl Finnland doch nachgeben musste. Das Entsetzen über den schrecklichen Zustand der eigenen Streitkräfte war immens. Stalin erließ neue und noch radikalere Reformen, um eine tiefgehende Umstrukturierung und radikale Umrüstung der Roten Armee einzuleiten und machte dies zu seinem höchstpersönlichen Anliegen. Spätestens ab Jahresbeginn 1941 bereiteten sich die sowjetischen Streitkräfte bereits explizit auf einen Angriffskrieg gegen Deutschland vor. Der deutsche Überfall am 22. Juni 1941 überraschte Stalin und die Rote Armee inmitten dieser Vorbereitungen, ohne dass Hitler selbst von den auf Hochtouren laufenden sowjetischen Kriegsvorbereitungsmaßnahmen etwas geahnt hätte. Die sowjetischen Niederlagen vom Sommer 1941 ergaben sich dann aus der sowjetischen militärisch-strategischen Konzeption des Angriffskrieges und den noch nicht abgeschlossenen Vorbereitungen. Die Sowjetunion und ihre Armee konnten dem dann letztlich sehr teuer erkauften Sieg über Hitler-Deutschland dem gigantischen Ausbau der eigenen Kriegsindustrie der 1930er und frühen 1940er Jahre zuschreiben. Musial argumentiert: Es darf auch nicht vergessen werden, dass der Massenterror der 1930er Jahre den Völkern der Sowjetunion das Rückgrat gebrochen hatte, insbesondere den Bauern. Ein antikommunistischer Aufstand im sowjetischen Hinterland, vor dem Stalin sich immer gefürchtet hatte, war im Jahr 1941 so gut wie ausgeschlossen. Der kommunistische Bürokratieapparat, die NKWD-Organe und auch die Miliz hielten die durch Massenterror traumatisierte und atomisierte Bevölkerung des Landes fest im Griff.Die sowjetischen Kriegsmaßnahmen, die weitreichende Aufrüstung und der Große Terror sind untrennbar mit der Person Stalins und dem Aufstieg zum absoluten Diktator mit uneingeschränkter Machtfülle verbunden. Musial schlußfolgerte: Stalin ist unbestreitbar eine der einflussreichsten Gestalten der Weltgeschichte im 20. Jahrhundert, er hat die Sowjetunion zur Weltmacht hochgerüstet, große Teile Europas erobert, sowjetisiert, unterworfen. Dafür bezahlten die Völker der Sowjetunion einen furchtbaren Preis. Stalin legte auch die heutigen Grenzen in Mittel-und Osteuropa fest, veranlasste die ethnische Zurückdrängung der deutschen Siedlungsgebiete um Hunderte Kilometer nach Westen und die damit verbundene Verschiebung Polens um 200 Kilometer nach Westen. Stalin mit seinen kommunistischen Gefolgsleuten war auch derjenige, der in Europa im 20. Jahrhundert die größten Massenverbrechen beging. Die Zahlen der Opfer, die der kommunistische Massenterror in den 1930er Jahren in der Sowjetunion und ab 1939 auch in den besetzten Gebieten forderte, übersteigen die des nationalsozialistischen Terrors in Europa. Vor diesem Hintergrund verwundert es immer wieder, dass in der kollektiven Erinnerung und historischen Diskursen all diese historischen Tatsachen noch nicht verankert sind, ja teilweise geradezu ausgeblendet werden.“ Mit seinem Buch hofft der Autor, die noch heute wirkende kommunistische Propaganda von der pazifistischen sowjetischen Augenpolitik der 1930er Jahre und den Mythos des unschuldigen Opfers des Zweiten Weltkrieges in Frage gestellt zu haben.“ Diese Auffassung bezieht Musial auf die herrschenden Kommunisten, nicht aber auf die Völker der Sowjetunion, die unter deren Herrschaft furchtbar gelitten haben“.

Der Vortrag Musials war sehr gut besucht. In der anschließenden Diskussion wurde noch eine Reihe weiterführender Fragen aufgeworfen. Die Antworten führten noch zu wichtigen Erkenntnissen.