Bilanz und Zukunftsaufgaben der Weltgeschichtsschreibung

Bilanz und Zukunftsaufgaben der Weltgeschichtsschreibung

Kurzzusammenfassung des Vortrags vom 28.01.2008
Prof. Dr. Hans-Heinrich Nolte

„Global History“ oder „World History“ sind in den letzten Jahren in Mode gekommen. Dies ist besonders vor dem Hintergrund des gewachsenen und gestärkten Bewusstseins für die neuen Formen und Folgen der Globalisierung der 1990er Jahre zu erklären. Mit rein europa- oder integrationsgeschichtlichen Fragestellungen scheint man sich gar nicht mehr so intensiv beschäftigen zu wollen. Nun soll gleich der Sprung ins Weltgeschehen gewagt werden, auch um dem Verdacht des „Eurozentrismus“ zu entgehen. Wie aber gestaltet sich die Realität in Deutschland? Sieht man einmal von Jürgen Osterhammel (Universität Konstanz) ab, gibt es nicht sehr viele aktive, institutionalisierte und gleichzeitig auch als profiliert zu bezeichnende deutsche „Welthistoriker“ (Hans-Heinrich Nolte bedauerte in diesem Zusammenhang sehr, dass Osterhammel einen Ruf an das Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen abgelehnt hat, wobei es in einem für deutsche Universitäten typischen Streit um Stellen letztlich sogar zur Auflösung des selbigen Instituts gekommen und damit auch eine sehr gute Chance zur Schaffung eines Zentrums für Weltgeschichte vertan worden ist). Tatsächlich war an deutschen Universitäten die Erforschung der „Weltgeschichte“ nach dem Zweiten Weltkrieg und in den folgenden Jahrzehnten stark vernachlässigt worden. Nolte erwähnte in diesem Kontext die in den letzten 25 Jahren notwendig gewordenen Transferleistungen aus den USA, bei denen beispielsweise die Forschungen des US-amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein im Zusammenhang mit Geschichte der kapitalistischen Weltwirtschaft und der modernen Weltsystem-Analyse ins Deutsche übersetzt
worden sind.

Der eklatante Rückstand der deutschen Forschung in der Weltgeschichte erstaunt umso mehr als diese in der Historiographie und Soziologie vor dem Ersten Weltkrieg mit „Universalgeschichte“ durchaus einen beachtlichen Stellenwert (August Ludwig Schlözer, „Vorstellung seiner Universal-Historie“, 2 Bde.; Friedrich Christoph Schlosser, „Weltgeschichte für das deutsche Volk“, 19 Bde.; Leopold von Ranke, „Weltgeschichte“, 16 Bde. oder auch Max Weber mit interkulturellen Vergleichen religiöser Lebensführungen und universalhistorischen Vergleichen der gesamten Moderne, u. a. der von Europa ausstrahlenden christlich-kapitalistischen rechtsstaatlichen Kultur) besaß. Allerdings wurden jüdische Historiker wie Alexander Gerschenkron als Wirtschaftshistoriker mit seinem Schwerpunkt bei der ungleichen Entwicklung und Ausbreitung der Industrialisierung [siehe Henry Rosovsky (Hrsg.), Industrialization in Two Systems, New York 1966. Festschrift für Alexander Gerschenkron] aus dem deutschen Sprachraum vertrieben. Viele kluge Leute wurden zur Emigration gezwungen oder umgebracht, was zu einem intellektuellen Provinzialismus beitrug. Nach dem Krieg vertrat Ernst Schulin z. B. mit der Rezeption der englischen Geschichte und der Befassung mit weltgeschichtlichen Fragestellungen [siehe auch Gangolf Hübinger/Jürgen Osterhammel/Erich Pelzer (Hrsg.), Universalgeschichte und Nationalgeschichten. Ernst Schulin zum 65. Geburtstag, Freiburg 1994]) universalgeschichtliche Fragestellungen.

Weltgeschichte wurde an deutschen Universitäten jedoch nicht fachwissenschaftlich institutionalisiert bzw. konstant und kontinuierlich gelehrt. Sie galt als „fragwürdiges Sondergebiet“ (Schulin). An deutschen Hochschulen wurde und sollte deutsche Geschichte gelehrt werden. Eine Ausnahme stellte schon die osteuropäische Geschichte dar, die nach dem Ende des Kalten Krieges dann als Fach sogar Kürzungen und Stellenstreichungen hinnehmen musste.

Durch seinen Forschungs- und Lehraufenthalt in Lincoln/Nebraska erlebte Nolte ein Umfeld im Lehrpersonal mit Afrikanisten, Sinologen usw. „Area studies“ standen und stehen hoch im Kurs in den Vereinigten Staaten. Afrika, China, Europa und Russland waren in Forschung und Lehre vertreten. Nolte verwies dabei auch auf den in den USA bestehenden wirksamen Zusammenhang zwischen High Schools, Colleges und den Universitäten, wo „World History“ gelehrt wird.

Welthistoriker haben unterschiedliche Hintergründe und Provenienzen. Der (sowjet-) marxistische „Historische Materialismus“ hat mit Blick auf die Ökonomie welthistoriographische Ansätze verfolgt, aber auch Ideenhistoriker, die sich beispielsweise mit den Freiheitsidealen oder der Entwicklung der Menschenrechte befasst haben, darunter Marxisten, Soziologen, Intellektuelle und Philosophen, zählen dazu. Als mit Ende des Kalten Krieges das „Ende der Geschichte“ hinsichtlich eines Endes der Ideologien und des Durchbruchs eines liberal-demokratischen Zeitalters verkündet wurde (Francis Fukuyama), war laut Nolte tatsächlich aber das Gegenteil der Fall. „Jetzt ging es eigentlich erst richtig los“, meinte der Welthistoriker rückschauend, v. a. mit Blick auf das gestiegene Interesse an anderen Kontinenten sowie deren unterschiedlichen Kulturen und Traditionen. Dagegen seien die älteren amerikanischen Traditionen der „cultural studies“ im Sinne eines „rise of the West“ westorientiert und europazentriert angelegt gewesen und
geblieben.

Sinn und Zweck der Weltgeschichte sieht Nolte in neuen Fragestellungen, auch und insbesondere in Richtung Nationalgeschichte. Themenzentrierte Forschungen zum Hunger, zu Seuchen oder zur Medizin seien global zu begreifen, zu denken und anzugehen, während geographisch begrenzte Studien wie die von Fernand Braudel, der mit dem Mittelmeer eine neue Art französischer Geschichtsschreibung anging, trotz seiner großen Wirkung auf alle transnationale Geschichtsschreibung keine Globalgeschichte im strengen Sinn repräsentierten. Seit den 1990er Jahren stieg im anglo-amerikanischen Raum die Weltgeschichtsschreibung stetig und stabil an. Es gibt ein „Journal for World History“ sowie ein „Journal for Global History“. Seit 2000 existiert eine „Zeitschrift für Weltgeschichte“ (ZWG) in Deutschland und ein Verein für Geschichte des Weltsystems wurde gegründet, als dessen Herausgeber bzw. Vorsitzender Hans-Heinrich Nolte fungiert. Doch damit war keine breite Institutionalisierung verbunden. Hingegen ist an der Universität Wien (mit Peter Feldbauer, Andrea Komlosy, Michael Mitterauer) durch die Berufung von Peer Vries, einem Wallerstein-Kritiker von der Universität Leiden, eine Institutionalisierung von weltgeschichtlichen Forschungen verbunden worden. Deutlich wird das z. B. an dem von Margarete Grandner herausgegebenen Sammelband „Globalisierung und Globalgeschichte“, Wien 2005 (Mandelbaum). Für Deutschland sieht dies Nolte am ehesten mit dem Zentrum für Höhere Studien an der Universität Leipzig sowie mit dem Periodikum „Comparativ. Leipziger Beiträge zur
Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung“ um den aktiven Autor und Herausgeber Matthias Middell verwirklicht, der damit in der Tradition eines Karl Lamprechts gesehen werden kann, der für das „Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte“ (1890 ff.) stand.

Warum Weltgeschichte kaum an den deutschen Universitäten repräsentiert ist, erklärt sich für Nolte u. a. durch den Umstand, dass diese Fachausrichtung in Deutschland nicht Karriere förderlich gewesen ist – ein Zustand, der wohl immer noch zu beklagen ist. Zum Stand der Forschung verweist Nolte auf den Band von Sebastian Conrad, Andreas Eckert und Ulrike Freitag, die mit „Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen“, Campus Wissenschaft, 2007, eine Bilanz der Weltgeschichte vorgelegt und dabei sehr theoriebezogen gearbeitet haben. Demgemäß gibt es vier Ausrichtungen der Weltgeschichtsschreibung: (1) eine ökonomie- und sozialgeschichtliche Orientierung, die sich weltwirtschaftlichen Fragen widmet (z. B. David Landes mit Wohlstand und Armut der Nationen; Immanuel Wallerstein mit der Ausbreitung des europäischen Modells und einer negativen Bewertung desselben; der Experte für europäische und außereuropäische Forschungen Reinhard Wendt, Vom Kolonialismus zur Globalisierung, Paderborn 2007 oder die „California School“ mit einer Neubewertung der Wirtschaftsgeschichte Chinas); (2) eine geistes-, ideologie- und ideengeschichtliche Tendenz ( die sich z. B. mit dem „Wilsonian Moment“, der Selbstbestimmungsidee als weltweiter Bewegung oder den „multiple modernities“ z. B. von Shmuel N. Eisenstadt befasst); (3) die Geschichte der Globalisierung mit Blick auf Bündnisse, aber auch neuere Formen wie transnationale Konzerne, NGOs verbunden mit einem multizentrischen Ansatz von „agencies“; sowie (4) „post-colonial studies“ u. a. mit einem Konzept von Weltgeschichte als Verflechtungsgeschichte oder der histoire croisée, die auf Transfers und Interdependenzen verweist (mit einer Kulturgeschichte der Sklaverei, z.B. Jazz in New Orleans).

Nolte fügte noch drei weitere Trends der Weltgeschichtsschreibung hinzu: (5) Eine area-studies-bezogene Orientierung, die z. B. Osteuropa mit ihren Eingebundenheiten in die Weltgeschichte begreift, für die er selbst steht, wobei Europa auch nur als eine Region zu sehen wäre. Zitiert wurde in diesem Zusammenhang das Schlagwort „provincializing Europe“ und damit gesagt, dass Europa als eine Provinz zu behandeln sei. Diese Formulierung nimmt Bezug auf den Titel einer Publikation des US-amerikanischen Historikers indischer Herkunft, Dipesh Chakrabarty, „Provincialzing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference“; (6) Eine diplomatie- und politikgeschichtliche Weltgeschichte im Sinne einer Geschichte der Mächte, wie sie bspw. durch das „Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen“ repräsentiert wird (z. B. Heinz Schilling mit der Konfessionalisierung und der Staatenbildung, aber auch Autoren wie Winfried Baumgart, Heinz Duchhardt, Klaus Malettke, Hans-Jürgen Schröder oder Franz Knipping einschließt). (7) Einen letzten Trend sieht Nolte in jüngeren Autoren, die mit steigendem Interesse an der Weltgeschichte zu arbeiten beginnen (z. B. Edgar Wolfrum/Cord Arendes, Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts. Grundkurs Geschichte, Stuttgart 2007). Die Bilanz ist insgesamt durchwachsen: Seit 25 Jahren hat sich Weltgeschichte in den USA und in Großbritannien als neue Subdisziplin breit etabliert. Österreich geht den Weg der Institutionalisierung, in Deutschland ist dies noch nicht der Fall, dafür ist wache Aufmerksamkeit und gestiegenes Interesse gegeben, im voruniversitären Raum mit Journalen, Gesellschaften (z.B. www.vgws.org/Impressum.html) und Vereinen (z.B. www.vgws.org/). Der aktuelle Kontext mit beweglichen transnationalen Konzernen (Stichwort verkündeter Abzug von NOKIA aus Bochum und geplanter Verlagerung nach Rumänien), globalen Migrationen und Bundeswehr-Einsätzen in Afghanistan bieten Anreize für die zukünftige Forschung. Nolte verwies in der abschließenden Diskussion auf die Mängel des deutschen Bildungssystems, welches sich unter dem Niveau dessen bewegt, was betrieben werden könnte.

Wie die anschließende Diskussion zeigte, wird Deutschland immer noch als „eigene Welt für sich“ (M. Gehler) betrachtet. Die Scheu vor dem Vergleich aus Angst des Relativierens bestand lange Zeit und wohl abgeschwächt immer noch (auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und des Nationalsozialismus mit seinen Verbrechen). Die nach 1990 einsetzende Intensivierung der DDR-Forschung bündelte ebenfalls viele Kräfte. Nolte stimmte diesen Beobachtungen und Feststellungen zu. „Global studies“ müssten, so Nolte abschließend, institutionalisiert werden. Sie gehörten zum Kanon des Geschichtsunterrichts und der Geschichtsforschung. Wenn es einen Lehrstuhl für Weltgeschichte in Riga gebe und solche noch nicht in Deutschland, so sei deutsche Geschichtsforschung nicht nur provinziell, sondern ihr Abstieg auch in die intellektuelle Peripherie gewiss.


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