Europagespräche des Instituts für Geschichte, Stiftung Universität Hildesheim

 

03.06.2013 – Kirsten Scheiwe: Von Fröbel bis zur EU.
Kindergarten- und Vorschulentwicklung in Europa – von der Idee zur Institution und zum Rechtsanspruch


(Hildesheim)


Kindergärten und Vorschulen haben eine lange Geschichte in Europa, angefangen mit den Ideen Fröbels und der ersten Kindergartengründung 1840 in Blankenburg (und dem Verbot der Fröbelschen Kindergärten 1851 bis 1860 in Preußen, begründet mit der Gefahr der sozialistischen und atheistischen Indoktrination der Kinder in Kindergärten)  bis hin zu den Empfehlungen und Zielvorgaben der EU: die ‚Barcelona‘-Ziele des Europäischen Rats sahen vor, dass bis 2010 mindestens 33% der Kinder unter 3 Jahren und 90% der Kinder ab drei Jahren bis zum schulpflichtigen Alter Zugang zur Förderung in Kindertageseinrichtungen oder Kindertagespflege haben sollten.
Auch die Weltbank und die OECD haben die Frage der frühkindlichen Bildung auf ihre Agenda gesetzt. Lange umkämpft, wird zum 1. August 2013 in Deutschland ein Rechtsanspruch auf Förderung in einer Kindertageseinrichtung oder Kindertagespflege für jedes Kind ab einem Jahr in Kraft treten. Der Vortrag zeichnet die wichtigsten Entwicklungslinien der Institution des Kindergartens nach und diskutiert Erklärungen der Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten der Institutionenentwicklung in Europa.

Zur Referentin: Kirsten Scheiwe, Professorin für Recht sozialer Dienstleistungen, Stiftung Universität Hildesheim, Institut für Sozial- und Organisationspädagogik, siehe

www.uni-hildesheim.de/index.php?id=3280
http://www.uni-hildesheim.de/?id=scheiwe

 

 

Scheiwe beginnt ihre Ausführungen um 1840. Sie betont, dass es ihr nicht um pädagogische Konzepte geht, sondern um die Geschichte der Entwicklung der Institution des Kindergartens. Sie spannt ihren Bogen von Friedrich Fröbel bis zum Anspruch auf einen KITA-Platz für Unter-Dreijährige 2013. 

Im Zentrum der Kindergartenidee, so Scheiwe, steht der Gedanke, dass Kinder nicht nur verwahrt werden, sondern auch etwas lernen sollen. Erste Kindergärten im Sinne Fröbels wurden um 1840 gegründet. Sie unterschieden sich deutlich von den Kinderbewahranstalten, die sich um die Kinder der unteren Schichten kümmerten, vor allem auf Disziplin achteten und konfessionell gebunden waren. Kindergärten hingegen standen allen Schichten und Glaubensrichtungen offen. De facto wurden sie vor allem von Kindern der Mittelschicht besucht.

Zu Beginn war die Kindergartenidee umstritten und wurde während des deutschen Vormärz vor allem von Liberalen und Demokraten begrüßt. Aus diesem Grund wurden Kindergärten in den 1850er Jahren auf preußischem Boden und in anderen deutschen Ländern sogar kurzzeitig verboten, weil man unterstellte, sie erzögen Kinder zum Atheismus. Als einige Fröbel-Anhänger  in die USA auswanderte, verbreitete sich die Kindergartenidee transatlantisch und international. Die ersten drei Fröbel-Kindergärten wurden in den USA zwischen 1856 und 1860 gegründet. In der Folge waren Kindergärten in den USA erfolgreicher als in Europa (ein Kindergartenjahr wurde als erste Stufe der Elementarschule etabliert), da insbesondere in den urbanen Zentren die gesellschaftlichen Voraussetzungen im Einwanderungsland USA besser passten.

 

Als nächsten Punkt wendet sich die Vortragende den Kulturkämpfen und der Kindergartenidee in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu. Die Weiterentwicklung der Kindergartenidee nahm während dieser Zeit in den einzelnen Regionen Europas und in den USA einen unterschiedlichen Verlauf. Insbesondere interessiert Scheiwe hier, weshalb es welche Parallelen und welche Unterschiede in der Entwicklung gab. Die überwiegende Entwicklungsgeschichte der Kindergartenbewegung ab 1960 greift zu kurz, erläutert Scheiwe, da so die eigentlichen Pioniere aus dem Blick geraten.

Belgien und Frankreich waren Ende des 19. Jahrhunderts Vorreiter der Kindergartenentwicklung. Hier lasse sich auch besonders gut zeigen, erklärt die Rednerin, inwiefern der Entwicklungsschub hinsichtlich der Kindergartenidee in der Phase der Herausbildung von modernen Nationalstaaten vor allem aus den Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat resultierte. Die oft anzutreffende These, dass die Katholische Kirche der Kindergartenbetreuung gegenüber rundweg negativ eingestellt war, trifft in ihrer Pauschalität nicht zu.

 

Um dies zu verdeutlichen, nimmt Scheiwe nun die Beispiele Belgien und Frankreich genauer ins Visier. In Belgien, einem rein katholischen Land, beschloss 1879 die liberale Regierung, die kirchlichen Kinderbewahrungsstätten nicht länger zu finanzieren. Des Weiteren wurden staatliche Schulen gegründet, die konfessionell nicht gebunden waren und deren Lehrkräfte einer staatlichen Ausbildung bedurften, einer Ausbildung also, die die Nonnen und Fratres der kirchlichen Ordensgemeinschaften in den kirchlichen Schulen nicht aufweisen konnten. Dies führte zu einem „dramatischen Schulkampf“, der auch dazu führte, dass sich die katholischen Kräfte zusammenschlossen. 1884 gewannen sie die Wahlen und machten das liberale Schulprogramm wieder rückgängig. Letztlich einigte man sich in dem Kompromiss, dass beide Schularten nebeneinander existieren durften und die katholischen Vorschulen und Schulen in das staatliche Schulsystem integriert und damit auch mitfinanziert wurden. Um 1900 waren in Belgien bereits 49% der Drei- bis Fünfjährigen in Vorschulen angemeldet. Seit den 1970er Jahren besuchen fast 100% der Kinder eine Vorschule.

Hauptsächlich ging es in den Vorschulen darum, dass Kinder etwas lernen, auf die Schule vorbereitet und in größeren Gruppen zur Disziplin erzogen werden sollen. Ob die Mütter zu Hause oder berufstätig waren, spielte keine Rolle. Als in den 1960er Jahren die Frauenerwerbsquote stieg, wurde dies durch die bereits vorhandenen Vorschulstrukturen begünstigt.

 

Auch in Frankreich gab es einen heftigen Kulturkampf. Doch während in Belgien die religiösen Kräfte nicht aus dem Schulsystem herauszudrängen waren, unterlagen sie in diesem Bestreben in Frankreich. Die Folge war, dass die Entwicklung der Vorschulen dort stagnierte. 1903 waren 60% aller Vorschulen katholisch. Als sie dann durch den Staat geschlossen wurden, hatte dies einen erheblichen Einbruch für die Vorschulen in Frankreich zur Folge. 1938/39 besuchten nur noch 16% der Kinder eine Vorschule. Seit 1946 kehrte sich die Tendenz wieder um, so dass seit den 1970er Jahren auch in Frankreich fast alle Kinder die Vorschule besuchen.

 

Im Überblick ergeben sich folgende Daten zu den Quoten der Kinder, die Kindergärten oder Vorschulen besuchten:

 

Land

ab 1850

ab 1900

ab 1950

Belgien

 

60% (1910)

90% (1960)

Frankreich

30% (1876)

15% (1905)

67% (1960)

Niederlande

25% (1890)

 

88% (1960)

Spanien

25% (1880)

24% (1908)

25% (1966)

Italien

20% (1899)

 

48% (1961)

Deutschland

 

13% (1910)

32% (1960)

 

In den deutschen Ländern gab es allerdings bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts große Unterschiede. In den 1960er Jahre war die Quote der skandinavischen Kinder, die einen Kindergarten besuchten, noch im einstelligen Bereich. Kurz danach änderte sich dort jedoch die Politik, so das in einer zweiten Ausbauwelle, nun vor allem auch in den skandinavischen Ländern fasste. Hier stand nun nicht mehr die Konkurrenz von Staat und Kirche im Fokus, sondern eher die Emanzipationsbewegung und eine Politik zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

 

Im folgenden Abschnitt wendet sich Scheiwe insbesondere dem deutschen Raum zu, der in Bezug auf die Kindergartenentwicklung als „Nachzügler in Europa“ bezeichnet werden könne. Ein vieldiskutierter Punkt bestand darin, ob die Kindergärten in das Schulsystem integriert werden sollten oder nicht. Zunächst ging es auch noch um die Konkurrenz zwischen dem Fürsorgemodell und dem Erziehungsmodell, ebenso wie um die Frage, ob Kindergärten nur Bedürftigen oder aber allen offen stehen sollten. Diese Konflikte setzten sich bis in die Weimarer Zeit hinein fort. In den 1920er Jahren wurden schließlich die institutionellen Weichen bis zur heutigen Zeit gestellt, an denen auch die Zeit des Faschismus kaum etwas änderte.

Kindergärten sind heute in kommunaler Trägerschaft, aber Streitpunkt ist bis jetzt, inwieweit der Bund in der Kindergartenfrage mitbestimmen darf und inwieweit dies nicht eher den Ländern obliegt, die die Kindergärten finanzieren müssen („föderale Politikverflechtungsfalle“). Die föderalen Strukturen (Kultur als Ländersache) erwiesen sich als Bremse für den Kindergartenausbau. Ab 1996 gibt es nun den Rechtsanspruch von Kindern über drei Jahren auf einen Kindergartenplatz, ab 2013 auch einen solchen von Kindern über einem Jahr auf einen KITA-Platz, was auch EU-Forderungen entsprach. Die EU hatte in den 1980er Jahren ein „Netzwerk Kinderbetreuung“ gegründet und sprach seitdem Empfehlungen aus. Auch die OECD und die Weltbank (social investment strategy) beschäftigen sich zunehmend mit frühkindlicher Erziehung und Bildung.

 

Dem Vortrag schloss sich eine rege Diskussion an. Im Rahmen derselben ging Scheiwe tiefer auf die Problematik um Schulpflicht und v.a. um Kindergartenpflicht ein, die in den Ländern Europas heute noch unterschiedlich gehandhabt werden. Die Finanzierungsstrukturen, so die Rednerin, bleiben ein Problem, doch es wird schwierig sein, diese zu ändern. Zur Frage nach den Verhältnissen in Osteuropa, meinte Schiewe, dass die DDR beispielsweise die Kindergärten ins Bildungswesen integriert hatte. Einige Aspekte haben den Zusammenbruch des Sozialismus im Osten überlebt, die sich im übrigen z.T. gar nicht so sehr vom skandinavischen Modell unterscheidet, das heute als maßgebend gilt. Auf Nachfrage, weshalb es ausgerechnet Belgien war, das sich als Vorreiter der Kindergartenbewegung hervortat, flankiert Gehler, dass auch der Neutralitätsgedanke hier eine Rolle gespielt haben wird, der auch innergesellschaftliche Kompromissen erfordert. Fröbels Kindergärten, erläutert Scheiwe, wurden damals nicht staatlich gefördert. Auf die Frage nach den internationalen Einflüssen meint sie, dass Globalisierung und veränderte Erwerbstätigkeitsmuster für Schubkraft sorgen, dass aber die nationalen Kräfte die Prozesse direkt vorantreiben, die internationalen hingegen nur indirekten Einfluss nehmen.


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