Das europäische Stahlkartell der 1960er und der unrühmliche Abgang der Hohen Behörde der Montanunion

Europagespräche des Instituts für Geschichte, Stiftung Universität Hildesheim

 

 

06.05.2013 – Charles Barthel: Das europäische Stahlkartell der 1960er und der unrühmliche Abgang der Hohen Behörde der Montanunion (Luxemburg)

Der Vortrag behandelt die Aufstellung in den 1960er Jahren der wohl ausgefeiltesten Kartellbestimmungen die die westeuropäische Eisenindustrie bis dato je gekannt hatte. Das vom internationalen Club der Stahlindustriellen in die Wege geleitete gentlemen’s agreement beinhaltete sowohl Einschränkungen der Rohstahlerzeugung sowie gemeinsame Kontore für die wichtigsten Walzprodukte, Preisabsprachen, Exportsubventionen und einen Bußgeldkatalog für Verstöße gegen das private Regelwerk. Trotz strenger Geheimhaltung war die Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bestens informiert. Trotzdem unternahm sie nichts. Nachdem die Fusion der europäischen Exekutiven im April 1965 beschlossene Sache war, und die Hohe Behörde von Tag zu Tag mit ihrer endgültigen Ablösung durch die Brüsseler Kommission rechnen musste, ging es den meisten ihrer neun Mitglieder nur noch darum, das Ansehen des ersten, supranationalen Europa der Gründerväter Schuman, Monnet & Co zu retten. Die Wahrung des Scheins konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Hohe Behörde den wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Stahlsektor völlig machtlos gegenüberstand, nicht zuletzt auch weil ihre Mitglieder gänzlich darüber zerstritten waren, ob und wie man die flagranten Verletzungen der Kartellbestimmungen des Pariser Vertrags von 1951 ahnden sollte. Damit öffnete die EGKS den nationalen Regierungen und Industrieverbänden Tür und Tor für eine ausgedehnte Aushöhlung des europäischen Solidargedankens.


Zum Referenten: Dr. Charles Barthel ist Direktor des Centre d'études et de recherches européennes Robert Schuman in Luxemburg. Er ist verantwortlich für die wissenschaftliche Aufbereitung der europäischen Integration im Journal of European Integration History, Generalsekretär der Verbindungsgruppe der Professoren der Zeitgeschichte bei der Kommission der EU.

Mehr zum Referenten vgl. die Links:

 

www.cere.public.lu/fr/index.html

 

www.cere.public.lu/fr/cere/equipe/charles-barthel/index.html

 

 

Charles Barthel beginnt seinen Vortrag am Sitz der ehemaligen Zentrale der EGKS in Luxemburg. Die dortige Hohe Behörde ist der Vorläufer der EU-Kommission in Brüssel. 1965 fand hier eine recht sonderbare Sitzung statt, so Barthel: die neun Mitglieder der Hohen Behörde und die Chefs der wichtigsten Abteilungen der Montanunion trafen sich dort mit den Herren des 1953 gegründeten Stahlclubs. Dieser rekrutierte sich aus den ersten sechs Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft. Die Herren des Stahlkartells boten der Hohen Behörde an, die Schirmherrschaft über ein Kartell zu übernehmen. Dazu, erläutert der Redner, müsse man wissen, dass Kartelle seitens der EGKS eigentlich strengstens untersagt waren. Obwohl man bei den 60er Jahren gemeinhin an die Golden Sixties denken mag, steckte die Stahlindustrie in den 60er Jahren in einer ziemlich tiefen Krise. Die Produktion stieg zwar stetig an, doch die Preise verfielen merklich. Teilweise musste die Stahlindustrie sogar Minusgeschäfte hinnehmen. Als eine der Ursachen wäre die verschärfte internationale Konkurrenz zu nennen, insbesondere der Ostblock produzierte weit billiger. Ab 1962 wird auch in Europa immer mehr auf Halde produziert, was die Preise jedoch noch weiter verfallen ließ. Die Bosse der großen Stahlunternehmen suchten ihr Heil in nationalen, aber auch internationalen Absprachen. Doch die Krise war so ernst, dass die einzelnen Akteure diese Absprachen immer wieder unterliefen, so dass dem Markt dadurch noch fatalere Signale gesendet wurden. Solange es keinen Zwang gab, funktionierten die Absprachen also nicht. Daher ging man dazu über, ein Produktionskartell zu gründen, doch auch diese Maßnahme musste 1964 als gescheitert gelten, da die Italiener und die Belgier hier bald ausstiegen. Aus diesen Gründen wandte man sich an die Hohe Behörde.

Die Hohe Behörde jedoch sagte ab, so dass die westeuropäische Stahlindustrie daranging, das ausgetüfteltste Stahlkartell auszuarbeiten, das es bis dahin je gegeben hat: Der Entwurf war eigentlich ein französischer, erklärt Barthel. Das Kartell sollte zunächst auf ein Jahr gültig sein. Doch die aufgestellten Regeln waren dadurch noch verkompliziert, dass nicht alle Regeln für alle gleichermaßen galten, und sich die Struktur ständig wandelte. Verschiedene Vertragsbedingungen wurden sogar noch nachträglich verfeinert, um die Abrechnungen machen zu können, denn das Kartell wurde 1967 nicht verlängert. Einige Partner waren zudem sehr unzuverlässig und das Kartell bestand im harten Kern nur aus Franzosen, Deutschen, Belgiern und Luxemburgern.

Das Kartell bestand im Wesentlichen aus drei Teilen:

1. dem sogenannten ‚Stahldach’: Hier wurde die Produktion festgelegt bzw. reduziert und aufgeteilt. Die Produktion sollte drastisch heruntergefahren werden, um die Preise wieder in die Höhe zu treiben.

2. sogenannten ‚Kontoren’ für sechs verschiedene Stahlprodukte: Sie umfassten sowohl die Exporte, als auch die Binnenmärkte der Mitgliedsländer, als auch die sogenannten Interpenetrationen, d.h. den Austausch (Warenfluss) innerhalb der Montanunion. Es gibt eine Sonderkommission, die den Markt beobachtet und Empfehlungen abgibt. Hier kommt es zu einer Regulierung der Lieferungen und Erlöse. Auf dieser Basis wurde ein Ausgleich gesucht, damit jedes Mitglied einen ‚gerechten’ Anteil erhielt. Auf dieser Basis kam es zu einem Austausch, der die Gewinne reguliert. Wenn die Kontore zuviel produzierten, mussten Strafen gezahlt wurden.

3. Preis- und Marktabsprachen. Darüberhinaus gab es bilaterale Interpenetrationsabkommen.

Mit dieser letzten Maßnahme hatten die Stahlkonzerne in den Augen der Hohen Behörde, so Barthel, eine Todsünde begangen, denn derartige bilaterale Preisabsprachen waren ein Verstoss gegen den freien Binnenmarkt der EGKS, die Heilige Kuh der europäischen Gründerväter. War die Hohe Behörde in Luxemburg kurz nach ihrer Gründung noch eine vielbestaunte Institution, war ihr Stern Anfang der 60er Jahre bereits verblasst. Hierfür gab es viele Gründe, z.B. weil im Rahmen der Bekämpfung der Kohlenkrise in den 1950ern viele nationale Regierungen der Hohen Behörde der EGKS in Luxemburg einen ‚Maulkorb’ verpassten, oder weil die Kommission der EU in Brüssel zum neuen Star avanciert war. 1965 war es beschlossen: Die Hohe Behörde sollte aufgelöst werden, und ihre Aufgaben und Befugnisse an die Kommission übergehen.

Das Klima war damals also nicht so sehr danach, Experimente zu wagen. Vielmehr ging es darum, die Ehre der Gründerväter für die Nachwelt und die Zukunft der EU zu retten. Daher wollte die Hohe Behörde von der Idee eines Kartells unter ihrer Schirmherrschaft nichts wissen. Sie gab den Stahlkonzernen die schwammige Antwort, dass sich diese auf die Einführung von Produktionsquoten einstellen solle, ohne sich weiter darum zu kümmern, was da kommt. Zunächst sollte jedoch abgewartet werden, was die nationalen Regierungen dazu sagen.

Die Stahlindustriellen sahen ein, dass sie das Superkartell ohne die Hohe Behörde auf die Beine stellen müssten. Nichtsdestotrotz spalteten diese Vorgänge die Führungsriege der EGKS in zwei Lager. Auf der einen Seite gab es die Pragmatiker, auf der anderen diejenigen, die unbedingt an den Regeln und Verträgen festhalten wollen.

Einen Tag später lag der Abschlussbericht der Montanunion einer Affäre vor, die sich um den von der Bonner Regierung im Ahrtal als Ausweichregierungssitz gebauten Bunker drehte. Bereits hier waren Aufträge unter der Hand an deutsche Stahlunternehmen vergeben worden. Die Deutschen hatten hier heimlich unterteuerten Stahl aus Belgien gekauft, doch die Angelegenheit war aufgeflogen, und die Hohe Behörde hatte eine Untersuchung angestrengt. Es lag nun auf der Hand, dass hier jede Menge Verstöße gegen das Regelwerk der EGKS vorlagen, und die einzige Frage war im Grunde nur noch, welche Strafen gegen die beteiligten Stahlkonzerne verhängt werden sollten. Insbesondere der Niederländer Johannes Lindhorst Homan, ein Rechtsfanatiker, so Barthel, gab zum Ausdruck, dass er die Missachtung der Verträge durch die Industriebosse leid sei und forderte, ein Exempel zu statuieren. Dies ist jedoch gar nicht im Sinne der deutschen Mitglieder der Hohen Behörde, die höchstens eine symbolische Bestrafung hinnehmen wollten. Auch wurde die Überlegung angestellt, dass es vor allem darum gehen müsse, die Wirtschaftskrise zu lösen. Und das ginge nur mit den Stahlbossen. Auch symbolische Strafen würden von ihnen schlecht aufgenommen. – So war es denn auch. Auf der nächsten Sitzung ließen sich die Chefs der Stahlkonzerne entschuldigen.

Doch für ein Zurückrudern war es schon zu spät, da Lindhorst-Homan inzwischen eigenmächtig keine Gelegenheit ausgelassen hatte, Pressekonferenzen abzuhalten und Pressemitteilungen zu verschicken, in denen er ankündigte, man werde alles daran setzen die dunklen Machenschaften der Industrie aufzudecken und bei der Gelegenheit auch zeigen, dass die Hohe Behörde durchaus noch Zähne habe. Der Behörde blieb nun gar nichts anderes mehr übrig, als weitere Untersuchungen durchzuführen, die sehr schnell sehr viele weitere Verstöße ans Licht brachten. Bald wusste man bestens Bescheid, wie das Kartell funktionierte. Andererseits schalteten die Stahlbosse – insbesondere die Deutschen – nun auf stur. Die Hohe Behörde stand nun vor der Frage den Gerichtshof von Luxemburg anzurufen, um ein Fortsetzen der Untersuchungen und Akteneinsichten erzwingen zu können. Doch davor schreckte die Hohe Behörde zurück, so dass nun die unteren Beamten ihre Vorgesetzten zunehmend kritisierten. Auf der anderen Seite übten die Gewerkschaften ebenfalls Druck aus: Man solle die Stahlkonzerne beim Ausbau des Kartells gewähren lassen, da dadurch Arbeitsplätze erhalten blieben.

Am 22. November 1966 kam die ‚Stunde der Wahrheit’, so Barthel: An diesem Tag tagte der Ministerrat. Die Industrieminister der Montanunion traten an diesem Tag zusammen und hierbei stellte sich heraus, dass diese die meisten von ihnen ebenfalls gegen die Hohe Behörde eingestellt waren, ja im Grunde die wahren Gegner derselben darstellten. Die Stahlkonzerne verstanden, dass es opportun wäre, sich noch enger an die nationalen Regierungen anzulehnen.

Der Ministerrat beschloss, dass eine Ad-hoc-Kommission gebildet werden solle. An dieser jedoch sollten nur Minister und Mitglieder der Hohen Behörde teilnehmen. Nun sahen die Stahlindustriellen ein, dass sie ihren Frieden mit der Hohen Behörde würden schließen müssen, um wieder mitreden zu können.

Am 15. Dezember 1966 kam es zu einem neuen Treffen. Als Lindhort Homan hier erneut meinte, den Industriellen, eine Strafpredigt halten zu müssen, schlug ihm der Unmut auch seiner eigenen Kollegen entgegen. Die Gräben innerhalb der Hohen Behörde zeigten sich mittlerweile als tief, so dass es nicht mehr möglich schien, mit einer Stimme zu sprechen.

Lindhorst Homan erreichte letztlich mit seiner Sturheit genau das Gegenteil von dem, wofür er sich inhaltlich einsetzte. Die Hohe Behörde hatte solange funktionieren können, wie sie einen starken Präsidenten hatte. Dies war damals jedoch nicht mehr der Fall.

Auf der anderen Seite wäre es auch verfehlt, die ganze Schuld der Hohen Behörde zu geben. Die Verträge der EGKS waren ein so enges Korsett, dass man auf den realen Markt gar nicht flexibel reagieren konnte.

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