Europa und seine ottonische Reichskirche: Das himmlische Jerusalem St. Michael in Hildesheim (mit Buchpräsentation)

Europa und seine ottonische Reichskirche: Das himmlische Jerusalem St. Michael in Hildesheim, mit Buchpräsentation

Es gilt das gesprochene Wort!

 

Prof. i.R. Dr. Manfred Overesch, studierte Altphilologie und Geschichte in Münster, Tübingen und Wien. Danach absolvierte er beide Staatsexemina für  das Lehramt an Gymnasien und war im  höheren Schuldienst tätig. Bis 1982 war er Dozent an der TU Braunschweig, dann 1982-2005 Leiter des Instituts für Geschichte der Universität Hildesheim. Er stellte im folgenden Vortrag gleichzeitig die Kernthesen seines Buches vor: Himmlisches Jerusalem in Hildesheim: St. Michael und das Geheimnis der sakralen Mathematik vor 1000 Jahren, von Alfhart Günther und Manfred Overesch, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2009.

1010 legte Bischof Bernward den Grundstein für St. Michael in Hildesheim. Die doppelte Symmetrie des vorromanischen Baukörpers, seine Ikonoplastik im Innern und die Ästhetik generell lassen die Kirche als Ideal mittelalterlicher Weltsicht erscheinen, als Ort christlicher Botschaft vom ewigen Leben und imperialer Herrschaft des Kaisers. Genaue Vermessungen, röntgentechnische Untersuchungen und computergestützte Auswertungen klären die baugeschichtlichen Hintergründe. Nur die griechisch-byzantinische Mathematik besaß jene Kenntnisse, die den Bau dieser Kirche als "himmlisches Jerusalem" ermöglichten. Das Zusammentreffen von Orient und Okzident spiegelt sich in dem einmaligen Bauwerk wider. St. Michael könnte auch als zentrale ottonische Kirche eines neuen Reiches begriffen werden.

Overesch beginnt seinen Vortrag im bis auf den letzten Platz gefüllten Saal der Industrie-und-Handelskammer Hildesheim mit einem Überblick über die Gliederung seiner folgenden Ausführungen. Zunächst wird er sich der Frage widmen, weshalb die Kirche St. Michael als so schön auf den Betrachter wirkt, dann erläutern, wer sie gebaut haben mag, und schließlich, für wen sie gebaut wurde.

 

1. Warum ist St. Michael so schön?

Betritt er die Kirche St. Michael, ist der Besucher durch die „wuchtige, wohlproportionierte Einheit“ der Kirche fasziniert, so Overesch. Man fühle sich spontan angesprochen von einer „himmlischen Harmonie“. – Doch was habe man unter „himmlischer Harmonie“ konkret zu verstehen? Diese Frage, führt der Redner aus, könne man im Prinzip mathematisch beantworten.

Eine weit verbreitete Ansicht besagt, dass das Mittelschiff von St. Michael aus drei aneinandergereihten Quadraten besteht. Eigene Messungen ergaben jedoch, dass dies nicht stimmt. Hinzu kommt, dass ein erst kürzlich bei den Renovierungsarbeiten deutlich hervorgetretener markanter roter Sandsteinpilaster genau an jener Außenstelle der Südmauer hervorsticht, der den Kernbau der Kirche in der Nord-Süd-Achse in zwei gleich große Hälften zerteilt. (Der entsprechende Pilaster an der Nordseite ist zerstört.) Eine solche Achse würde eine alternative geometrische Haupteinteilung des Sakralbaus nahelegen.

Die folgenden Ausführungen veranschaulicht Overesch anhand einer Grundrisszeichnung St. Michaels, die diesem Protokoll beigefügt ist und vergleichend herangezogen werden sollte.

 

 

Die Innenseite der vier Ecktürme berührend, ergibt sich nach den Messungen von Overesch ein Außenquadrat von exakt 100 sächsischen Fuß Seitenlänge. Die Höhe der Vierungstürme beträgt ebenfalls 100 sächsische Fuß, so dass ein Kubus von 100 sächsischen Fuß Seitenlänge gebildet werde. Die Offenbarung des Johannes 21:16 spricht bemerkenswerter Weise von einer Stadt, deren Länge, Breite und Höhe gleich seien. Jene Stadt aber ist nichts Geringeres als das neue Jerusalem. Hesekiel 42:20 beschreibt seine Vision des neuen Tempels des Volkes Israel. Auch dieser Tempel sollte so breit wie lang sein – und das Heilige vom Unheiligen trennen. Beide Prophezeiungen benennen eine Sehnsucht nach göttlicher Vollendung und Gegenwart.

Um seine These zu untermauern, macht Overesch auf zwei weitere Quadrate aufmerksam, die das Äußere der Kirche umfassen und 120 bzw. 150 sächsische Fuß (33,3 cm) messen. 100, 120 und 150 jedoch seien aufgrund ihrer Verhältnisse zueinander heilige Zahlen, denn die Be­zie­hun­gen al­ler drei Qua­dra­te zu­ein­an­der ent­spre­chen har­mo­ni­schen In­ter­val­len: 100 :  150 = 2 : 3 = Quin­te; 100 : 120 = 5 : 6 = klei­ne Terz; 120 : 150 = 4 : 5 = gro­ße Terz.

Hinzu komme, dass man nach Osten und Westen entlang der Mittelachse durch das innerste Quadrat ein gleichschenkliges Dreieck bilden könne. Betrachtet man die Spitze des westlichen Dreiecks, so weise diese genau auf die Brust Bischof Bernwards, dessen Grab sich in der dortigen Krypta befindet. Im Osten markiere die Spitze den Ort des heute nicht mehr vorhandenen Altars von Johannes dem Täufer. Die Spitze eines gleichschenkligen Dreiecks, dass an die Mittelachse des äußeren Quadrats wiederum nach Westen gerichtet wird, weist auf die Außenmauer der runden Krypta. Archäologische Untersuchungen hätten ergeben, dass das Mauerwerk dort gestört ist. Hier vermutet Overesch den ursprünglichen Ort der Hildesheimer Bronzetüren, die ebenfalls auf Bernward zurückgehen und fälschlicherweise und ohne Beweise als für den Dom gedacht gedacht werden, wo sie sich seit 1035 befinden. (Aufgrund der Renovierungsarbeiten am Dom sind sie im Moment im Roemer- und Pelizaeus-Museum ausgestellt.)

Auch sonst bilde die Kirchenarchitektur ein kompliziertes Geflecht aus theologisch bedeutsamen Zahlen und Maßen. Drei als Zahl der Dreieinigkeit hat hier eine herausragende Stellung inne. Als drei mal drei tritt diese Zahl dem Betrachter beispielsweise in den neun Arkaden (sächsischer Stützenwechsel) vor Augen. In den Obergaden darüber befinden sich aber nicht neun, sondern zehn Fenster, was beispielsweise auf die zehn Gebote hinweist. St. Michael ist als vorromanische Kirche gebaut und besitzt damit eine Flachdecke. Bei einer Flachdecke lassen sich ohne Rücksicht auf statische Notwendigkeiten theologische Aussagen machen. Gott hat „alles nach Maß, Zahl und Gewicht [sc. Musik] geordnet“ (Weish.11:20), zitiert Overesch, um zu verdeutlichen, dass in dieser Kirche Gott anschaulich gemacht werden sollte. Wer in der Krypta lag, der lag im „himmlischen Jerusalem“. Die Entfernung des Bernward-Grabes zum Kruzifix des Ostchores beträgt nach Berechnungen des Redners etwa 40 Meter, also exakt der Entfernung des Christusgrabes von Golgatha. (In der von Flavia Iulia Helena begründeten Tradition, der Mutter Kaiser Konstantins, ist beides innerhalb der heutigen Grabeskirche lokalisiert.)

 

2. Wer hat St. Michael gebaut?

Eine Theorie besagt, dass St. Michael nach Anicius Manlius Severinus Boëthius´ (ca. *475-480; † ca. 524-526) De institutionis arithmetica libri II (Zwei Bücher über die Arithmetik) erbaut worden sein soll. Overesch jedoch meint, dass das mit diesem Werk nicht möglich gewesen sei. Nur im Osten, d.h. in Konstantinopel, Kairo, Bagdad oder Damaskus, habe man vor 1000 Jahren über ein entsprechendes Wissen verfügt. Die notwendigen Kenntnisse seien vermutlich über Theophanu in den Westen gelangt. Die Ottonen hatten durch ihre Siege über Ungarn (Schlacht bei Riade an der Unstrut 933 und Schlacht auf dem Lechfeld 955) und Slawen die Führungsrolle im westlichen Europa erlangt. (Ihr Feldzeichen sei der Erzengel Michael gewesen, daher sei die Kirche St. Michael nach diesem benannt.) Otto I. ließ in Konstantinopel für seinen Sohn um eine möglichst enge Verwandte des Kaisers werben. Auf diese Weise kam 972 die Hochzeit zwischen Otto II. und Theophanu, einer Nichte des oströmischen Kaisers Tzimiskes, zustande. Im Gefolge der Theophanu vermutet Overesch auch den Architekten der St. Michaelskirche von Hildesheim, denn Sachsen war bis dahin ein unterentwickeltes Land, und Bernward, der Erzieher Ottos III., habe die weitreichenden Kenntnisse sicherlich nicht gehabt. Nur am Kaiserhof könne er von den Byzantinern Theophanus entsprechende Anregungen erhalten haben.

 

3. Für wen wurde St. Michael gebaut?

Gerade die Vierungstürme würden auf die enge Beziehung des Bischofs an den Kaiserhof hinweisen: Sie sorgen für eine „doppelte Symmetrie“ und dafür, dass der Bau sowohl eine Kirche als auch eine Stadt repräsentiere. Dies könne man als Hinweis auf das sogenannte „ottonisch-salische Reichskirchensystem“ bzw. darauf verstehen, dass die Kirche nach Bernwards bzw. byzantinischem Verständnis nicht nur geistliche, sondern auch weltliche Macht versinnbildliche. Erst im 11. Jahrhundert sei die Bewegung der libertas ecclesia, der Freiheit der Kirche vom Staat, zu beobachten.

1010 wurde nicht nur St. Michael, sondern auch Cluny gegründet, das mit seinen Neuerungen zu Zölibat, Simonie und Laieninvestitur eine bedeutende Strahlkraft entwickelte. Spätestens mit dem Gang nach Canossa durch Heinrich IV. (1077) sei eine Kirche wie St. Michael nicht mehr denkbar gewesen.

 

 

Da die Thesen von Overesch an der herkömmlichen geometrischen Deutung der Kirche rüttelten, kam aus dem mit die Kirche z.T. sehr gut vertrauten Publikum im Anschluss an den Vortrag eine Reihe Fragen. Insbesondere das Verwerfen der „alten Quadrat-Theorie“ und ihr Ersetzen durch eine neue stießen auf interessierte Skepsis. Der Autor des neuesten Buches zur sakralen Mathematik St. Michaels setzte nochmals seine Messmethoden auseinander und erläuterte, dass man erstens genau messen und im Detail zwischen verschiedenen Fußmaßen unterscheiden müsse, die beim Bau der Kirche verwendet wurden (nicht nur sächsischer Fuß, sondern auch fränkischer Königsfuß etc.).

Liturgische Gesichtspunkte spielten nach dem neuen Konzept des Redners keine entscheidende Rolle für die Architektur der Kirche.

 

Bericht als Download (pdf)