Gottfried Wilhelm Leibniz – ein Europäer

13.7.2009 – Annette von Boetticher:

Gottfried Wilhelm Leibniz – ein Europäer

 

Annette von Boetticher

Gottfried Wilhelm Leibniz – ein Europäer

Vortrag in den „Europagesprächen“ des IfG der Universität Hildesheim, 13.7.2009

 

Einleitend verwies die Referentin auf das „Drei-Säulen-Modell“ des Unionsvertrages von Maastricht vom 7. Februar 1992. Die Säulenstruktur verstand sich als Anlehnung an das abendländische Europa. Sodann ging Dr. Annette von Boetticher, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Niedersächsischen Instituts für Historische Regionalgeschichte und Dozentin der Universität Hannover, auf den geistesgeschichtlichen Hintergrund und den gesellschaftlichen Kontext des Wirkens von Gottfried Wilhelm Leibniz ein. Tragende Elemente in der Geschichte Europas waren die antike griechische Philosophie (Platon, Aristoteles), das römische Recht und das Christentum. Der konfessionelle Riss, der Mitte des 17. Jahrhunderts durch Europa ging, beschäftigte sich Leibniz sehr. Dieser Gegensatz war - laut Referentin - vergleichbar mit den ideologischen Differenzen und Konfrontationen des 20. Jahrhunderts. Gekennzeichnet war Leibniz’ Denken und Schaffen wiederholt vom Bemühen um die Reunion der Christenheit. Den 1646 als Sohn eines Juristen und Moralphilosophen geborenen Leibniz als ein Kind der Nachkriegszeit, nämlich des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648), zu begreifen, war eine weitere wichtige Feststellung von Boettichers. Es war eine Zeit, in der sich Gebildete und Intellektuelle die Vereinbarkeit der Güte Gottes mit dem Leid in der Welt ernsthaft als Frage stellten.

Leibniz ist als einer der letzten großen Universalgelehrten zu begreifen. Als Mathematiker und Philosoph beschäftigte sich der promovierte Jurist nahezu mit allen Wissensgebieten seiner Zeit. Sein Denken war nach der Abwendung von der Neuscholastik von religionsphilosophischen Fragen gekennzeichnet, so z.B. von der „Theodizee“, der Rechtfertigung Gottes und einer Welt, die er im Weg der Monadenlehre zu erklären versuchte. Danach hatte Gott aus der Vielzahl von möglichen Welten die beste aller möglichen Welten auf der Grundlage einer prästablierten (also von vornherein eingerichteten) Harmonie geschaffen.

Traurig gestaltete sich sein einsames Ableben. 1716 erlag der enttäuschte und verbitterte Leibniz seinen Leiden. Der Streit mit Isaac Newton um die Entdeckung der Infinitesimalrechnung hatte ihm viel Energie und Kräfte gekostet. Wie von Boetticher ausführte, ist der Plagiatsvorwurf nicht haltbar, da beide nahezu zeitgleich und unabhängig voneinander diese Rechenmethode entwickelt hatten, wie inzwischen nachgewiesen werden konnte.

Weiters kam die Referentin auf Leibniz als Europäer zu sprechen. Sein Leben war von einer enormen Reisetätigkeit gekennzeichnet. Quer durch Europa war er auf Dienstreisen unterwegs. Errechnet wurden rund 20.000 Kilometer der Wegstrecke, die er absolvierte, was umso bemerkenswerter ist, als man mit einer Postkutsche im 17. Jahrhundert nicht mehr als 30 km pro Tag zurücklegen konnte.

Leibniz war ein Exponent grenzüberschreitenden Denkens, der in seinen Erkundungen der Welt wie auch in seinen Überlegungen für eine europäische Friedensordnung rastlos im Einsatz war.

Eine erste offizielle Würdigung seiner Persönlichkeit stellte die Eloge vom 13. November 1717 von Bernard le Bovier de Fontenelle, Mitglied der Académie des Sciences dar.

Hans Poser, Philosophieprofessor em. Und Vizepräsident der Leibniz Gesellschaft,  weist Leibniz eine Schlüsselstellung im europäischen Denken des 17. und 18. Jahrhunderts zu. Leibniz’ Leistung bestand vor allem darin, die als „verstaubt“ betrachtete und gedachte antike Wertewelt zu modifizieren und in die Neuzeit zu übertragen, ohne sie zu verstellen oder zu verfälschen.

Für einen wachen und scharfsinnigen Beobachter seiner Zeit war die Westfälische Ordnung durch die Friedensschlüsse von Osnabrück und Münster nicht ein Definitivum, also nicht das Ende aller Kriege. Im 10-Jahres-Rhythmus folgten Friedensschlüsse, die weitere Kriege, die so genannten „Kabinettskriege“ beendeten, so der Pyrenäen-Friede 1659 (zwischen Frankreich und Spanien), der Friede von Aachen 1668 (zwischen Spanien und Frankreich, der den Devolutionskrieg beendete), der Friede von Nimwegen 1678/79 (zwischen Frankreich und den Niederlanden), der Friede von Saint Germain 1688 (zwischen Frankreich und den Niederlanden), der Friede von Rijswik von 1697 (zwischen Frankreich und der Augsburger Liga) und die Friedensschlüsse von Utrecht und Rastatt 1713/14 (zwischen Spanien und den Habsburgern).

Ideen für eine europäische Friedensordnung waren damals nicht selten. Comenius hatte einen „Weltbund des Wissens“ angeregt und Sully eine Allianz der europäischen Mächte. Die Vorstellung der Schaffung einer Universalmonarchie kam wieder auf.

Leibniz setzte sich in seinen Denkschriften mit dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation als wesentlichem Teil der europäischen Friedensordnung auseinander. Eng damit verknüpft waren seine Überlegungen zur inneren und äußeren Sicherheit des Reiches, wobei er wiederholt die Konfrontationsposition Frankreichs gegenüber dem habsburgischen Österreich reflektierte. In diesem Konfliktfeld konnte sich Brandenburg-Preußen relativ ungestört entwickeln und in weiterer Folge sich als neuer Machtfaktor im Europa der Neuzeit exponieren. Aufgrund der europäischen Mittellage sah Leibniz den Wert des Reiches in seiner Struktur als Bund souveräner Staaten mit Institutionen wie einem Gemeinsamen Rat. In seinen politischen Denkschriften für den Erzbischof und Kurfürsten von Mainz kommen diese Vorstellungen gut zum Ausdruck, wobei Leibniz für eine „richtige Balance zwischen Verstand und Macht“ eintrat. Die Ideen des Abbé Saint de Pierre, getragen vom Leitmotiv der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches, lehnte Leibniz ab. Er trat hingegen für dessen Erhalt als Stabilitätsfaktor in der Mitte des Kontinents ein, als ein Bund souveräner Staaten mit dem Kaiser als Erstem unter Gleichen.

Die vergeblichen Einigungsbemühungen verbitterten Leibniz, wie er sich in einem Brief vertraulich äußerte, wonach sich nur die Toten nicht mehr schlagen würden, sonst aber die Menschen von Habsucht und Gier getragen seien. Leibniz gelangte dabei zu der ernüchternden Erkenntnis, dass Kriege Mittel der Politik waren. Und so widersprach es keineswegs seinen Friedensvorstellungen, wenn er in einer Schrift im Zusammenhang mit den „Erfordernisse[n] des Kriegswesens“ für Kaiser Leopold I. kriegstechnische und -wirtschaftliche Anregungen unterbreitete.

Seit seiner Zeit im Dienst des toleranten Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn war die Vereinigung der getrennten christlichen Kirchen ein stetes Anliegen. In seiner Friedensschrift, der „Irenica“ und in den Reunionsgesprächen mit Vertretern der verschiedenen Konfessionen für eine vereinigte Christenheit sind Grundgedanken des Bemühens um Wahrhaftigkeit, Frömmigkeit, Fürsorge und die Schaffung einer Präliminar-Union enthalten. Die Reunionsverhandlungen scheiterten letztlich – trotz Leibnizscher Vermittlungsbemühungen. Wenige Jahre vor seinem Tode hoffte er noch auf den Kurfürsten von Hannover Georg I. und versuchte Kontakte zu den anglikanischen Bischöfen herzustellen. Es sollte nicht gelingen. Immerhin konnte Leibniz kleine Teilerfolge erzielen, z. B. bei der Vermittlung irenisch-orientierter Professoren auf den (ev.-lutherischen) Lehrstuhl an der Universität Helmstedt. Bei der Annäherung und Einigung der lutherischen und reformierten Kirche zur unierten Kirche stand er auch Pate.

In den weiteren Ausführungen von Boettichers wurde deutlich, dass Leibniz weit über Europa hinaus agierte und wirkte. Mit Blick auf China und Russland war Leibniz auch im Bereich des Kulturaustausches und Wissenstransfers wichtig, wobei es ihm darauf ankam, dass dieser nicht einseitig verlief. Die Beobachtungen in China sollten mit den Erfindungen in Europa kombiniert werden. Leibniz hatte ein großes Europa, ein Europa des Ostens und des Westens vor Augen. Russland sollte zwischen Asien und Europa nicht trennend, sondern verbindend sein. Ein gebildetes und zivilisiertes Russland wirke als ideales Bindeglied. Seine Öffnung nach Westen sah Leibniz durch Zar Peter den Großen verwirklicht. Als Pjotr Michailow reiste dieser inkognito ins Brandenburgische und in die Niederlande und nach England, um westliche know-how-Importmöglichkeiten zu studieren. Petersburg wurde 1703 neue Hauptstadt Russlands, Peter entsprach nach Leibniz dem Idealbild des aufgeklärten Herrschers. Annette von Boetticher erwähnte drei Begegnungen, die es zwischen Leibniz und Peter gab. In weiterer Folge wurde der Universalgelehrte auch zum russischen Justizrat ernannt und trug mit seinen Anregungen auch zur späteren Gründung der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg mit bei. Für das Russland nach dem Zusammenbruch der UdSSR symbolisierte Leibniz Toleranz und Akzeptanz. Nach der Rückbenennung von Leningrad in Petersburg am 6. September 1991 erschien auf einer Gedenkmünze das Bildnis von Leibniz.

In diesem Zusammenhang verwies die Referentin auch auf das bedeutsame Wirken Leibniz’ bezüglich weiterer Akademiegründungen. Schon zu Lebzeiten war er Mitglied der Royal Society  und der Académie des Sciences . Als Präsident der Sozietät der Wissenschaften in Preußen rang Leibniz wiederholt mit finanziellen Problemen. Unter Friedrich dem Großen erfolgte dann die Neuorganisation der heute so benannten Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Gegen Ende ihrer Ausführungen kam die Referentin zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zurück und verwies auf die Präambel des EU-Vertrages von Lissabon, in der auf das religiös-kulturelle Erbe Europas verwiesen wird. Diese allgemeinen und vagen Hinweise reichten ihrer Ansicht nicht aus, um Europa zu begründen und zu legitimieren. Gleichzeitig verwies von Boetticher auf geistige Väter, nach denen EU-Programme benannt sind wie Erasmus, Comenius, Socrates oder Monnet. Umso mehr erstaunt, dass eine Geistesgröße wie Leibniz, einer der letzten Universalgelehrten, bisher kaum eine prominente Berücksichtigung und Würdigung im Kontext der Politik und Programmatik der Europäischen Union erfuhr. Das erstaunt umso mehr, als Leibniz mit seiner Monadenlehre „die Einheit in der Vielheit“ („unitas in multitudine“) vorwegnahm und damit einem heutigen Leitbild der EU vollauf entsprechen würde. Es verwundert ferner, da Leibniz zeitgleich auf verschiedensten Ebenen wirkte, europäisch und global orientiert war, nur einen moderaten Patriotismus „wie Griechen und Römer“ pflegte sowie stets Verbindendes vor Trennendes stellte. Die Ausführungen von Frau von Boetticher machten deutlich, dass das Europa der EU längst noch nicht alle seine Potentiale freigelegt und nutzbringend eingesetzt, d. h. sich auch entsprechend bewusst gemacht hat.

 

Verwiesen sei auf zwei Werke in diesem Zusammenhang:

 

Annette Antoine/Annette von Boetticher, Leibniz für Kinder. Mit Illustrationen von Beate Becker. Hildesheim 2008, 152 S, gebunden Verlag: KOLLEKTION OLMS junior. (16,80 €)

http://www.olms.de/artikel_15042.ahtml?T=1247835497140

 

Annette von Boetticher (Konzeption und Reaktion), Leibniz und Hannover – dem Universalgenie auf der Spur, Hannover 2009. (kostenlos zu beziehen über die Pressestelle der Leibniz Universität Hannover: info(at)pressestelle.uni-hannover.de)


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