20 Jahre Erfahrungen einer Europaparlamentarierin, 1989-2009

"20 Jahre Erfahrungen einer Europaparlamentarierin, 1989-2009"

Vortrag der niedersächsischen CDU-Europaabgeordneten 
Dr. Godelieve Quisthoudt-Rowohl 
an der Universität Hildesheim

(Es gilt das gesprochene Wort!)

A. Gliederung

1. Einleitung

2. Historischer Bogen 1989-2009

3. Geschichte des Europaparlaments

4. Persönlicher Handlungsspielraum

5. Fazit/Eröffnung des Gesprächs

Es gilt das gesprochene Wort!

B. Ausformulierter Text

Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Einladung und fühle mich geehrt, die Europagespräche im Sommersemester 2009 einleiten zu dürfen. Natürlich liegt es in der Natur der Dinge, dass ich die Ereignisse durch meine eigene Brille sehe und - wie es immer bei autobiographischen Erzählungen der Fall ist - in der Lage bin zu selektieren, was ich Ihnen erzähle. Ich hoffe, dass ich durch meinen Vortrag heute für Sie die EU und ihr Parlament ein Stück weit personalisieren kann, anstatt lediglich trockene Institutionenkunde zu betreiben.

Als Europaabgeordnete bin ich ständig unterwegs, pendele zwischen Brüssel, Straßburg und meinem Wahlkreis Niedersachsen hin und her und werde deshalb neben meinen Visionen für eine gute Politik natürlich besonders von den Geschehnissen eines hektischen Alltags geleitet. Oft bleibt so wenig Zeit für Reflexion. Sie kennen das wahrscheinlich, Sie nehmen sich vor Tagebuch zu schreiben und dann kommen Sie letztendlich doch nicht dazu. Deswegen bin ich dankbar, dass ich heute die Gelegenheit erhalte, einmal die Vogelperspektive einzunehmen, herauszuzoomen, und Ihnen meine Erfahrungen mitzuteilen, die ich im Rahmen des unglaublich erfolgreichen europäischen Projekts in den letzten 20 Jahren gemacht habe. Allerdings möchte ich Ihnen nicht nur Anekdoten erzählen - obwohl ich das sehr gerne tue - sondern die Gelegenheit nutzen, um meine persönliche Erfahrungen mit der Geschichte des Europäischen Parlaments zu verknüpfen und um ein wenig in der Vergangenheit zu blättern, um in der Zukunft zu lesen.

Als ich vor 20 Jahren als junge Abgeordnete in das Europaparlament einzog, befand sich die Welt - und besonders Europa - in einer Phase des großen Umbruchs. Die Europäische Union bestand damals aus 12 Mitgliedsstaaten und war gerade dabei, nach einer Periode der Erweiterung eine Vertiefung anzustreben. In einer meiner ersten Plenarsitzungen in Straßburg sprach am 22. November Francois Mitterrand zu den damals noch 518 Abgeordneten des Parlaments. Es war ein historischer Augenblick, der sich tief in mein Gedächtnis eingegraben hat und auf den ich mich gerne zurückbesinne, wenn in den Medien wieder einmal die negativen Aspekte der EU in den Vordergrund gestellt werden. Vor dem Hintergrund des Falls der Berliner Mauer sagte er damals:

"Unser Hunger ist noch nicht gestillt; wir sehen, was sich überall in den polnischen Städten, in den Städten Ostdeutschlands, in Ungarn ereignet und ereignet hat. Wir hören den Ruf der Mengen in Prag, und wenn wir die Stimme des rumänischen Volkes nicht hören, dann nur, weil sie noch erstickt wird.

Eines Tages wird auch dieses Volk sich dem Konzert der Nationen anschließen, das wir bereits zwischen unseren zwölf Ländern bilden, die in der Geschichte dieses Jahrhunderts durch so viele Ereignisse getrennt wurden und sich dennoch zusammengefunden haben, da sie es wollen, und vielleicht auch, weil sie der Notwendigkeit gehorchend erkannten, dass sie es wollen mussten.

Vor jedem von uns liegt viel Arbeit. Wir alle stehen vor dem, was wir bisher geschaffen haben, und wir müssen herausfinden, auf welche Weise wir das Europa von morgen gestalten wollen."

Ich habe das damals als persönlichen Ansporn begriffen, das Projekt der europäischen Ostererweiterung als einen Beitrag zur Friedenssicherung und Prosperität in Europa zu verstehen und bin stolz darauf, dass heute Länder wie Polen, Ungarn, Rumänien und Tschechien Vollmitglieder der Europäischen Union sind.

Gegen Ende seiner Rede schilderte Mitterrand eine Vision, die er selbst als improvisiert und kühn beschrieb, eine Vision, die heute Wirklichkeit geworden ist und den meisten von uns als eine Selbstverständlichkeit erscheint. Er sagte:

"So könnte man eines Tages - und hier improvisiere ich und lasse meinen Gedanken freien Lauf - einen ungarischen Studenten sich vorstellen, der vom ERASMUS-Programm profitiert, um in Oxford zu promovieren, einen Studenten aus Leipzig, der dank des COMETT-Programms ein Praktikum in einem niederländischen, italienischen oder, warum nicht, französischen Unternehmen absolviert, einen Französischlehrer aus Warschau, der sich in dieser Sprache dank des LINGUA-Programms fortbildet usw."

Heute nehmen jährlich mehr als 160.000 Studenten aus allen europäischen Ländern und den assoziierten Staaten, wie z.B. der Türkei, am Erasmus-Programm teil und sorgen dafür, dass nicht nur ihre Mitstudenten in den verschiedenen Ländern, sondern auch ihre Professoren von ihnen lernen können und die tatsächlich "europäische" Sichtweise der Dinge erfahren.

Im Europäischen Parlament in Brüssel mache ich eine ähnliche Erfahrung: Wenn ich dort auf dem Weg zu einer Ausschusssitzung vom 15. Stock aus meinem Büro in den dritten Stock fahre, so begegne ich Dutzenden von jungen Leuten aus allen europäischen Ländern, die hinter den Kulissen diesen Mikrokosmos am Laufen halten und die alle ihre dynamische Sichtweise auf Europa mit ins Parlament bringen. Insgesamt zählen sie fast 1500 und ich bin froh, dass neben den vielen erfahrenen Abgeordneten diese jungen Leute eine immerwährende Aufbruchsstimmung im Parlamentsgebäude verkörpern.

Lassen Sie mich im Folgenden etwas zur Rolle des Europaparlaments sagen:

In diesem Jahr ist es genau dreißig Jahre her, dass das Europäische Parlament erstmals als einzige Institution der Europäischen Union direkt gewählt wurde. In diesen dreißig Jahren hat sich das Europäische Parlament schrittweise im Rahmen der Vertragsrevisionen volle parlamentarische Rechte erkämpft und hat sich von einer weitgehend beratend tätigen Versammlung zu einem vollwertigen Mitgesetzgeber und zur Haushaltsbehörde - gemeinsam mit dem Ministerrat - in der Europäischen Union entwickelt.

Kaum ein Beschluss in der Europäischen Union kann heute ohne ausdrückliche Zustimmung des Parlaments gefasst werden. Bei den meisten Entscheidungen hat das Europäische Parlament ein Mitspracherecht und damit Einfluss auf die Gestaltung der Politik der Europäischen Union. Gleichgültig, ob es um die Liberalisierung des Verkehrs, die Regelung der Finanzmärkte, die Begrenzung der CO2-Emissionen, die Festsetzung von Produktnormen oder den Verbraucherschutz geht, das Europäischen Parlament ist mitentscheidend und damit ebenso wichtig in der Beschlussfassung wie die Mitgliedstaaten im Rahmen des Ministerrates bei der europäischen Gesetzgebung.

Heute beschließt das Europäische Parlament bei zwei Drittel aller EU-Gesetze gleichberechtigt und gemeinsam mit dem Ministerrat. Mit dem Vertrag von Lissabon wird sich der Anteil der Bereiche, in denen das Parlament mitentscheidet, auf 95 Prozent erhöhen - einschließlich der Agrarpolitik und des gesamten Haushaltsverfahrens.

Die derzeit laufende Legislaturperiode zeigte auch, dass in zunehmendem Maße der entscheidende politische Kompromiss in der Europäischen Union in allen der Mitentscheidung unterliegenden Fällen im Europäischen Parlament gefunden wird. Besonders deutlich wurde das bei zwei wichtigen Gesetzgebungsverfahren in dieser Legislaturperiode – der Dienstleistungsrichtlinie und der Chemikalien-Verordnung („REACH“).

In der Tat haben die Mitglieder des Parlaments in den letzten Jahren die europäische Politik entscheidend gestaltet und vorangebracht.

In den vor uns liegenden Jahren wird die Arbeit nicht geringer, im Gegenteil die vor uns liegenden Herausforderungen werden größer.

Es ist die Verantwortung aller Institutionen der Europäischen Union und aller politisch Handelnden, sich diesen Herausforderungen zu stellen und im Interesse der Bürgerinnen und Bürger Lösungen für die sie bewegenden Fragen zu finden. Ein Europa der Ergebnisse mit einem spürbaren Mehrwert für die Menschen, das ist es, was die Bürgerinnen und Bürger fordern.

Die Mitglieder des Parlaments sind Stimme und Vertreter der Interessen der Bürgerinnen und Bürger, denn sie beziehen ihre Legitimation nicht allein aus den Verträgen, sondern aus der demokratischen Wahl durch die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union.

Die Europawahlen der vergangenen Jahre haben jedoch gezeigt, dass die Bereitschaft der Bürger immer geringer wird, ihr demokratisches Wahlrecht wahrzunehmen und ihre Stimme bei der Wahl abzugeben. Eine wichtige Voraussetzung für die Motivation zur Wahl zu gehen ist, dass die Wählerinnen und Wähler wissen, was für sie auf dem Spiel steht, welche Einflussmöglichkeiten das Parlament und die von ihnen gewählten Vertreter auf politische Entscheidungen in der Europäischen Union haben. Ich möchte Sie daher im Rahmen dieser Veranstaltung ausdrücklich bitten, von Ihrem Stimmrecht am 7. Juni Gebrauch zu machen und auch der europäischen Identität, die Sie alle in sich tragen, Ausdruck zu verleihen.

Europäisches Parlament

Die zunehmende Europäisierung der Politik führt also zu einer veränderten Aufgabenstellung der nationalen Parlamente. Diese Entwicklung darf aber nicht mit einer Entparlamentarisierung des politischen Prozesses gleichgesetzt werden. Denn die Europäische Union hat - anders als internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds oder die Welthandelsorganisation - eine eigene, parlamentarische Dimension: das Europäische Parlament. Und die Kompetenzen dieses Parlaments wurden im Laufe der Jahre ständig ausgeweitet - gewissermaßen synchron zur fortschreitenden Vertiefung der EU.

Die Gemeinsame Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1952 bestand aus 78 Parlamentariern der sechs Gründerstaaten. Die Architekten der Verträge hatten sie allerdings bewusst schwach konzipiert, denn weder wurden die Abgeordneten direkt gewählt, sondern lediglich von den nationalen Parlamenten abgeordnet, noch bestanden effektive legislative Mitwirkungsbefugnisse. In 1957 sahen auch die Verträge von Rom für die geschaffenen Gemeinschaften, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft eine parlamentarische Dimension vor.

Die Parlamentarierversammlung, die sich 1958 konstituierte, war im Weiteren für alle drei Gemeinschaften zuständig; sie umfasste 142 Abgeordnete. Usus war weiterhin das Doppelmandat. Die Abgeordneten der fusionierten Versammlung waren zugleich auch Mandatsträger in ihren nationalen Volksvertretungen. Dieses parlamentarische Organ der Europäischen Gemeinschaften nannte sich ab März 1958 in Deutsch und Niederländisch „Europäisches Parlament“. Obwohl die Bezeichnung 1962 in allen Gemeinschaftssprachen förmlich angenommen wurde, dauerte es bis 1987, bis sie von Regierungsseite erstmals offiziell dokumentiert wurde.

Im Jahr 1960 wurde von den Parlamentariern zwar ein Entwurf zur Einführung der Direktwahl des Europäischen Parlaments vorgelegt; er scheiterte jedoch am Widerstand der nationalen Regierungen. Auch in verschiedenen nationalen Parlamenten wurden Initiativen zur Einführung der Direktwahl ergriffen, die in einer Resolution des Europäischen Parlaments im Jahre 1969 gipfelten, in der die Parlamentarier ihren Unmut über die Untätigkeit der nationalen Regierungen in dieser Angelegenheit zum Ausdruck brachten. Es dauerte schließlich jedoch noch bis 1976, bis sich die Mitgliedstaaten auf eine Direktwahl einigen konnten, die drei Jahre später, 1979, dann das erste Mal durchgeführt wurde.

Wie haben sich die Kompetenzen des Europäischen Parlaments im Laufe der Jahre entwickelt? Die ursprünglichen Zuständigkeiten der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl lagen in minimalen Kontrollpotentialen der Hohen Behörde - so die frühere Bezeichnung der Kommission. Rudimente von Haushaltsrechten kamen der Versammlung in Kooperation mit der Ministerversammlung zu. Anfang der 1970er Jahre wurden diese Rechte zu nennenswerten Zuständigkeiten ausgebaut, nachdem die Europäische Gemeinschaft auch durch ein Eigenmittelsystem finanziert wurde.

Der eigentliche Aufstieg des Europäischen Parlaments begann jedoch mit der Einführung des so genannten Kooperationsverfahrens durch die Einheitliche Europäische Akte im Jahr 1987.

Insbesondere die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens durch den Vertrag von Maastricht, in dem das Europäische Parlament und der Ministerrat in den meisten Politikfeldern zu gleichberechtigten Spielern geworden sind, bedeutete einen Quantensprung in dieser Hinsicht. Jede Vertragsrevision erhöhte die Zahl dieser Politikfelder.

Dabei ist der Prozess der Parlamentarisierung der Europäischen Union noch keinesfalls abgeschlossen. Die einschlägigen parlamentarischen Kompetenzen sollen durch einen neuen Vertrag abermals substantiell erweitert werden - auch wenn er nicht mehr als „Verfassung“ bezeichnet wird. So wird das Mitentscheidungsverfahren in allen Bereichen eingeführt, in denen der Rat mehrheitlich entscheiden kann. Außerdem soll die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Kommission gestärkt werden. Der Präsident der Europäischen Kommission wird in Zukunft von den Staats- und Regierungschefs unter Berücksichtigung der Wahlen zum EU-Parlament vorgeschlagen. Der Kommissionschef erhält seine demokratische Legitimation aus der Volksvertretung: Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.

Besonderheiten des Europäischen Parlaments

Zuweilen stellen Beobachter die Parlamentsqualität des Europäischen Parlaments unter Hinweis auf ein fehlendes Volk, auf fehlende Stimmwertgleichheit oder auf eine unterentwickelte Öffentlichkeit in Frage. In diesem Sinne urteilte etwa Sir Ralf Dahrendorf in einem Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Es gibt kein europäisches Parlament, das den Namen verdient.“ Ähnlich hat sich auch der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm geäußert.

Sind diese Urteile gerechtfertigt? Um das entscheiden zu können, muss man sich näher mit den Gründen auseinandersetzen, auf denen sie beruhen. Trifft es zu, dass das Europäische Parlament keine europäische Volksvertretung ist, weil es kein europäisches Volk, keine kollektive europäische Identität gibt? Ich denke nicht. Denn diese Annahme beruht auf der Voraussetzung, dass nationale und europäische Identitäten gleich strukturiert seien und sich gegenseitig ausschließen müssen. Das ist meines Erachtens aber wenig plausibel.

Um es mit den Worten des britischen Historikers Timothy Garton Ash zu sagen: „Unsere neue europäische Geschichte wird niemals glühende Treueschwüre hervorrufen, wie wir es bei den Nationalstaaten vor 1914 erlebt haben. Das heutige Europa ist nicht so - zum Glück. Unser Unternehmen braucht und will nicht diese Art emotionaler Hitze. Europäisch zu sein, bleibt eine sekundäre kühlere Identität. Die Europäer von heute müssen nicht für Europa sterben. Die meisten brauchen nicht einmal für Europa zu leben. Alles, was man braucht, ist Europa leben zu lassen.“ Dieser Sicht der Dinge kann ich mich nur anschließen.

Der komplexen Realität des 21. Jahrhunderts wird dementsprechend nur eine differenzierte Sichtweise gerecht. Jeder territoriale Verband, der die Bürger auf seiner geographischen Ebene allgemein vertritt, hat sein eigenes Volk - also auch die Gemeinde, das Bundesland und die supranationale Europäische Union. Die Völker sind ebenso wie ihre Verbände ineinander verschachtelt. Es gibt also ein katalanisches Volk innerhalb (und nicht anstelle) des spanischen und ein bayrisches Volk innerhalb des deutschen, allesamt wiederum innerhalb des europäischen Volkes. In Bayern war man sich der Pluralität der Völker übrigens schon früh bewusst. Die Verfassung von 1946 erklärt in ihrer Präambel unmissverständlich, dass sich das „Bayrische Volk“ diese Verfassung gibt. Die Fähigkeit zur demokratischen Legitimation ist kein Privileg von Staatsvölkern oder Nationen, sondern kommt jedem der Völker zu. Daher kann das Europäische Parlament seine Legimitation unmittelbar vom Unionsvolk beziehen.

Die fehlende Stimmwertgleichheit ist in der Tat ein Aspekt, der das Europäische Parlament von nationalen Parlamenten unterscheidet. Ein luxemburgischer Abgeordneter des Europäischen Parlaments vertritt derzeit nur 74.000 Menschen, ein deutscher Kandidat dagegen 833.333; das Missverhältnis zwischen Luxemburg und Deutschland beträgt also 1 zu 11,3.

Darüber hinaus fehlt dem Europäischen Parlament eine weitere in der deutschen Tradition zentrale Parlamentsfunktion: das Recht, Gesetzesinitiativen einzubringen. Ihm aber aufgrund dieses Defizits, das ja im Übrigen nicht von allen gleich gesehen wird, die Parlamentsqualität zu bestreiten, geht meines Erachtens jedoch entschieden zu weit.

Und die Kompetenzen dieses Parlaments wurden im Laufe der Jahre ständig ausgeweitet - gewissermaßen synchron zur fortschreitenden Vertiefung der EU. Insbesondere die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens durch den Vertrag von Maastricht, in dem das Europäische Parlament und der Ministerrat in den meisten Politikfeldern zu gleichberechtigten Akteuren geworden sind, bedeutete einen Quantensprung in dieser Hinsicht. Jede spätere Vertragsrevision erhöhte die Zahl der Politikfelder, auf die dieses Entscheidungsverfahren Anwendung findet. In den Bereichen, in denen das Europäische Parlament inzwischen gleichberechtigter Mitgesetzgeber ist, kann man sicherlich nicht von einem Demokratiedefizit sprechen, auch wenn das Europäische Parlament im Vergleich zu nationalen Parlamenten einige Besonderheiten aufweist.

Die Gemeinsame Handelspolitik ist eine Gemeinschaftspolitik der ersten Stunde. Von allen Bereichen der europäischen Außenpolitik ist die Konstitutionalisierung in der Außenhandelspolitik am weitesten fortgeschritten. Die Geschichte der Entwicklung der Gemeinsamen Handelspolitik beinhaltet unter diesem Gesichtspunkt möglicherweise wichtige Lektionen für die Konstitutionalisierung anderer Bereiche der europäischen Außenpolitik.

I. Status quo

Die Außenpolitik gilt traditionell als Prärogativ der Exekutive.

1. These: Diese traditionelle Sichtweise spiegelte sich auch in der institutionellen Ausgestaltung der Gemeinsamen Handelspolitik durch die Römischen Verträge.

2. These: Doch seitdem haben sich die Rahmenbedingungen sehr verändert. Der Außenhandel hat heute eine wesentlich größere wirtschaftliche und politische Bedeutung als früher.

a. Der Anteil des Außenhandels am BIP hat stark zugenommen.

b. Die handelspolitische Agenda ist heute wesentlich umfangreicher.

i. Früher ging es in erster Linie um Zölle.

ii. Heute umfasst die handelspolitische Agenda auch:

(1) technische Handelshemmnisse

(2) Subventionen

(3) öffentliches Beschaffungswesen

(4) Handel mit Dienstleistungen

(5) ausländische Direktinvestitionen

iii. Das allgemeine Interesse an Handelspolitik hat zugenommen.

3. These: Der institutionelle Rahmen der EU-Handelspolitik hat mit dieser Entwicklung nur bedingt Schritt gehalten.

a. Zwar wurden die Kompetenzen der EU in der Außenhandelspolitik durch Rechtsprechung und Vertragsrevisionen sukzessive erweitert.

b. Gleichzeitig wurden moderate Anstrengungen unternommen, die Transparenz der EU-Handelspolitik zu erhöhen.

c. Es herrscht in der europäischen Handelspolitik aber nach wie vor ein Demokratiedefizit.

II. Was bringt der Vertrag von Lissabon?

1. These: Die Außenhandelspolitik der EU wird demokratischer.

Das Europäische Parlament wird eine wichtigere Rolle spielen:

a. in Handelsverhandlungen

i. durch Einführung des Zustimmungsverfahrens.

ii. durch Ausweitung von Informationsrechten gegenüber der Kommission im Hinblick auf die Verhandlungsführung.

b. bei der Definition des Rahmens für die Implementierung der EU-Handelspolitik.

i. weil entsprechende Verordnungen per ordentlichem Gesetzgebungsverfahren verabschiedet werden müssen.

2. These: Die Außenhandelspolitik der EU wird transparenter.

a. Es wird keine gemischten Handelsabkommen mehr geben.

3. These: Die Außenhandelspolitik der EU wird effizienter.

a. Die Mehrheitsentscheidung wird deutlich ausgeweitet.

4. These: Der Geltungsbereich der Außenhandelspolitik der EU wird größer.

a. Neu in den Geltungsbereich der gemeinsamen Handelspolitik fallen ausdrücklich Abkommen über ausländische Direktinvestitionen.