Frauen- und Geschlechterrollen in der Europäischen Kulturgeschichte

Frauen- und Geschlechterrollen in der Europäischen Kulturgeschichte

Kurzzusammenfassung des Vortrags vom 23.06.2008
Prof. Dr. Silvio Vietta (Universität Hildesheim)

Der Referent sprach einleitend die Aktualität der Thematik am Beispiel einer Cover-Story des deutschen Nachrichtenmagazins Der Spiegel zum Thema der Rolle der Frauen in der Gesellschaft an. Damit unterstrich er die Bedeutung und die Präsenz der Kultur in der Geschichte und die Relevanz der Kulturgeschichte für die Gegenwart. Die zweite eingangs gemachte Anmerkung bezog sich auf die Notwendigkeit der Einbeziehung des Kriteriums „Naturbezogenheit“: Geschlechter und ihre Rollen rein als gesellschaftliches Konstrukt zu behandeln würde ihn doch sehr zögerlich machen, bekannte Silvio Vietta. Diese Geschlechterrollen seien doch auch durch die Natur vorgegeben. Es gebe eine „Gleichursprünglichkeit“ von Natur, Geschlecht und Kultur. Mit ihrer Geburt würden die Menschen geschlechtlich konstituiert, „sie beginnen zu atmen, sich zu bewegen, zu schreien und sie entwickeln sich von der ersten Sekunde an körperlich weiter“. Eine dritte Anmerkung zu Beginn der Ausführungen bezog sich auf die Bedeutung der Literaturgeschichte und die Literaturwissenschaft, Gegenstände, mit denen der Referent als Forscher und Wissenschaftler von Beginn seiner Tätigkeit an verbunden war: Die Verwendung literarischer Texte und die Vermittlung von Textkompetenz seien wichtig und müssten noch stärker in die Kulturwissenschaften eingebracht werden. Sein Vortrag beinhalte daher auch eine persönliche Komponente, was allein schon durch den Zugang und die Auswahl der Stoffe bedingt sei, weswegen seine Ausführungen kontroverse Elemente einschließen.
Sodann führte Vietta aus, dass er an Hand dreier Fälle die Thematik aufrollen und fokussieren wolle: (1) das Beispiel der Medea von Euripides 431 v. Chr., (2) das Beispiel des Abaelard und Héloïse ca. 1130 n. Chr. und (3) das Beispiel der Caroline Schlegel Schelling zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Vietta schilderte den jeweiligen kulturell-historischen Hintergrund, um dann die spezifisch frauen- und geschlechtergeschichtlichen Aspekte, v. a. aber die Stellungen der Frauen in der jeweiligen Gesellschaft Europas, herauszuarbeiten.

Zu 1) Euripides, geboren 485/480 v. Chr. in Salamis, gestorben 406 v. Chr. in Pella, war einer der namhaftesten Tragiker nach Aischylos und Sophokles. Im Unterschied zu den genannten Vorgängern war er nicht in der Polis aktiv. Er hatte weder ein staatliches Amt inne, noch an einem Krieg mitgewirkt. Diese Distanz zur Politik könnte erklären, warum er Athen in seinen letzten Lebensjahren verließ und nach Makedonien ging. Relativ erfolglos zu seiner Zeit wurden die Stücke des Euripides bald nach seinem Tod wieder aufgeführt, so dass er zu einem der meist gespielten Tragödiendichter des 4. Jahrhunderts aufstieg. Seine Wirkung erstreckte sich auf die europäische Theaterwelt bis in die Neuzeit sowohl im Bereich der Tragödie als auch im Lustspiel. Durch Überlieferungszufälle sind von Euripides 19 Stücke (von insgesamt 90) vollständig überliefert und damit mehr als zweimal so viele wie von Aischylos oder Sophokles. Im Spätwerk herrscht eher ein pessimistischer Grundton vor. Euripides wurde Zeitzeuge eines politischen und sittlichen Niedergangs angesichts des jahrelang unter Belagerung stehenden Athens, dessen definitive Niederlage er nicht mehr erlebte. Die zunehmend negative Weltsicht offenbart sich insbesondere im Weltbild seiner Stücke: Die Menschen sind bei ihm nur mehr noch Objekte der Willkür der Götter, die sich wie die Menschen von ihren nackten Begierden und leidenschaftlichen Trieben leiten lassen. Dieser Aspekt steht in krassem Widerspruch zu den Stücken seiner Vorgänger, die bei aller Skepsis gegenüber den Menschen die Götter jedenfalls nicht in Frage stellten. Die Abkehr Euripides von den herrschenden Lebensformen wird auf den Einfluss der sophistischen Aufklärungsbewegung zurückgeführt. Die Skepsis gegenüber der Götterwelt spiegelt sich in seinen Werken wie in der leisen Ironie mit der Sprache und den Elementen der Tragödie wider: Motive der Wiedererkennung („Anagnorisis“) und der Intrige erlangen Bedeutung. Die heroischen Menschen werden in der mythischen Tradierung in die Sphäre des Weltlichen versetzt. Wir befinden uns im nach-perikleäischen Zeitalter Griechenlands, der Zeit des Übergangs vom Mythos zum Logos. Aischylos stellt die ungeheuerliche Frage, was schwerer wiege, der Vater- oder der Muttermord, also der Mord der Klytaimestra an Agamemnon oder der Muttermord des Orest an der Frau und Mörderin seines Vaters. Gerichtsverfahren werden abgehalten, der Areopag ist öffentlicher Verhandlungsort, Athene agiert als Richterin, Urteile werden nach rationaler Argumentation gesprochen. Der Mann gilt aber als höherwertig, was später Aristoteles auch philosophisch begründet. „Morphae“ steht für die Form und den Logos. Der Mann wird mit dem männlichen Samen assoziiert. „Hyle“ steht für die Materie und dieser wiederum für das Weibliche, das gleichsam als das Passive, Ungeformte und Ungestaltete figuriert. Diese Differenz wird das leitende Unterscheidungsmerkmal bis zum Mittelalter (während sich später in jüngerer Zeit eine Ironie der Umkehrung Bahn bricht. Das männliche Y-Chromosom gilt heute als eher „beiläufig“). Vietta schließt diesen Befund mit einer ersten These, wonach mit der griechischen Kulturgeschichte die negative Codierung der Geschlechterrollen einsetzt. Die Männerwelt findet sich im Theater und Gerichtswesen. Dagegen werden die Frauen abgewertet. Hesiod spricht von Frauen als „Drohnen“, die alles verzehren, was die Männer herstellen. In der griechischen Welt tauchen die Frauen zwar in der Öffentlichkeit auf, sie haben aber keinen politischen Stellenwert bzw. politische Funktionen. Vietta macht diese Muster am Beispiel Euripides fest und deutlich. Die beherrschenden Frauenfiguren sind bei ihm entgegen den real existierenden Verhältnissen starke psychologische Porträts.

„Medea“ ist eine von Euripides 431 v. Chr. verfasste Tragödie und basiert auf der Argonautensage des griechischen Mythos. Die Tochter Medea des Königs Aietes (Sohn des Sonnengottes), verfügt über magische Kräfte. Ihr Mann Jason, der auf der Suche des Goldenes Vlies ist und das Schwarze Meer als Fundort ausmacht (was für die kolonialistische Ausweitung der poleis steht), muss eine Reihe von Proben bestehen. Medea hilft ihm. Ihr Mann, für den sie ihre eigene Familie zurückgelassen und verraten hatte, verstößt sie aber. Er heiratet Glauke, eine korinthische Königstochter. Die Frauen erscheinen so als „traurigstes Geschlecht“. Es gebe nur die Alternative zwischen Eheglück oder Tod, was die Abhängigkeit vom männlichen Geschlecht dokumentiere. Die Männer im öffentlichen Raum werden zu Adressaten einer weiblichen Anklage. Die „Rede an die Frauen“ vor einem Männerpublikum in der polis beinhaltet die Racheandrohung. Frauen könnten eine Mordgier entwickeln, die zur Vernichtung des Mannes führen würde, was dem Drama seine Zuspitzung verleiht. Euripides gibt der eingeschränkten Rolle der Frau hier ein offenes Wort. Der Zuschauer weiß dies und der König von Korinth droht dieser gefährlichen Frau mit Landesverweis. Doch Medeas Rache ist fürchterlich. Glauke verbrennt in einem von Medea vergifteten Kleid wie ihr Vater Kreon. Jason wird gleichsam physisch vernichtet. Denn Medeas Rache hat noch kein Ende, sie rächt sich weiter grausam, indem sie sogar zur Tötung ihrer eigenen Kinder schreitet. Der Kindsmord gräbt sich tief in die europäische Erinnerung ein. Vietta verweist auf die langanhaltende Rezeption bei Seneca, Boccaccio, Corneille, Grillparzer bis hin zu Christa Wolf. Was bleibt ist der unterprivilegierte Status der Frau, die sich an den herrschenden Umständen rächt und was schließlich in einer Katastrophe endet.

Zu 2) Die Zeit vom Ende des 11. zur ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ist in Europa eine Zeit großer Umbrüche. Das Zeitalter der Romanik wird von der Gotik abgelöst und führt zu einer neuen Bewusstseinsform. Die Christianisierung Mittel- und Nordeuropas ist abgeschlossen, eine frühmoderne Stadtkultur beginnt sich zu formieren. Der französische Historiker Georges Duby spricht von der „Zeit der Kathedralen“. Es ist die Zeit der Gründung der Universitäten Bologna, Oxford und Paris als den ältesten Universitäten Europas. Es ist aber auch die Zeit der Ketzerverfolgungen, wenn man an die Katharer und Albigenser denkt. Das Schisma von 1054 deutet die Umbruchzone an. Es entsteht der Nominalismus-Realismus-Streit um die Frage der Benennungen und Realitäten, es wogt der fundamentale Disput zwischen weltlicher und kirchlicher Macht. Der Investiturstreit zwischen Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. führt zum „Gang nach Canossa“ (1077) zur Unterwerfung der weltlichen unter die geistliche Macht, doch endet der Dissens im Kompromiss des Wormser Konkordats (1122). Frankreich und England ringen um die Vorherrschaft innerhalb Frankreichs. Die Kirche strebt eine religiöse Erneuerung der Mönchsorden und der Priesterschaft an, es geht um das Zölibat, die Simonie (Ämterkauf) und die Laieninvestitur. Einerseits handelt es sich um das Vordringen des Christentums in muslimische Gebiete des Mittelmeerraums, andererseits erfolgt die Eroberung Jerusalems durch die Seldschuken, einem Mongolenstamm. Das führt zur Ausrufung der ersten beiden Kreuzzüge (1096-99 und 1147-49) und trägt zur religiösen, politischen und kulturellen Auseinandersetzung mit islamischen Einflüssen bei, was für Mitteleuropa einen Schub auf ökonomisch-technischem Sektor (Ackerbau, Handel, Architektur) bewirkt. Das Zentrum dieser geistig-intellektuell-theologischen Entwicklung befindet sich um Paris (Ile de France). Dort lehrt ein gewisser Petrus Abaelardus, so die latinisierte Form, sein Geburtsname lautete Pierre Abaillard (es existieren noch viele andere Varianten wie Peter Abaelard, Pierre Abélard, Pierre Abaelard, Abailardus, Abaielardus). Abaelard nimmt in den oben genannten Frontstellungen eine Zwischenposition ein. Die Rolle der Frauen im Mittelalter war ebenfalls unterprivilegiert. Die Männer besetzen die Positionen der Krieger, der Adeligen, der Kleriker und der Bauern. Frauen werden weiterhin von der physischen, nämlich nach aristotelischem Verständnis passiven Natur her definiert, die „Politik“ bleibt Männersache. Ausnahmen gibt es nur wenige: Die byzantinische Kaiserstochter Theophanu, verehelicht mit Otto II. und Prinzenerzieherin mit Hilfe von Bischof von Bernward von Hildesheim. Thomas von Aquin fragt in seiner „summa theologica“ zweifelnd, was mit den Geschlechtsteilen passiere, wenn wir im Himmel seien. Die Antwort fällt so aus: Gott lasse die Menschen mit ihrem Geschlecht auferstehen, das aber natürlich im Himmel funktionslos sei. Daher gelte es schon auf Erden Askese zu üben. Wie Vietta ausführt, beginnen aber Frauen trotz ihrer passiven Rollenzuschreibung am geistigen Leben Anteil zu nehmen. Er verweist auf Äbtissinnen (Roswitha von Gandersheim), Mystikerinnen, die Bewegung der Beginen im klösterlichen Bereich, v. a. in Flandern - soweit der kulturell-historisch Hintergrund im starken Wandel einer europäischen Welt der Polaritäten.
Abaelard wurde 1070 in Le Pallet bei Nantes geboren und verstarb am 21. April 1142 im Kloster Saint Marcel/Saône. Er war ein kontroversieller und kämpferischer französischer Geistesgelehrter und Exponent der frühen Scholastik, der in Paris Theologie, Logik und Dialektik lehrte. Der österreichische Kulturhistoriker Friedrich Heer nennt ihn das „erste moderne Individuum“ und Jacques LeGoff „le premier professeur moderne“. Auf seine Herkunft deutete der Beiname „doctor palatinus“ („fürstlicher Lehrer“) hin. Abaelard vertrat schon lange vor der Aufklärung den Vorrang der ratio nicht nur in der Philosophie, sondern auch in Fragen des Glaubens und der Religion (Sein Hauptwerk „sic et non“). Er erforscht die Bibel auf ihre inneren Widersprüche, ist gläubig, beginnt aber den christlichen Glauben rational zu durchdringen. Die Trinität wird überdacht. Abaelard als moderner Denker entwickelt eine eigene Logik des Heiligen Geistes.
Aufgrund der berühmt gewordenen Liebesaffäre mit Héloïse geriet er aber in ein schwerwiegendes Dilemma mit zahlreichen Konflikten und Konsequenzen. Neben umfangreicher Korrespondenz sind die theologischen Streitschriften mit Bernhard von Clairvaux Legion. Héloïse (1101-1164) war eine Schülerin und Geliebte des Abaelard. Sie ist zwischen 1099 und 1101 wahrscheinlich in Paris geboren worden. Zeit, Ort und Eltern sind nicht präzise eruierbar. Sie wurde jedenfalls als Waise im Kloster Argenteuil erzogen (1102-1116), wo sie die Lateinschule besuchte. Als „ungewöhnlich gelehrsam“ lebte sie ab 1117 im Haus ihres Oheims und Vormunds, des Kanonikus Fulbert. Dort erhielt sie Unterricht durch Abaelard, dem damals bereits berühmten Lehrer für Theologie an der Pariser Domschule, aus der die spätere Universität Sorbonne hervorgehen sollte. Sie studieren aber nicht nur die antiken Autoren und Kirchenväter, sondern kommen sich auch körperlich näher. Er ist 31 Jahre älter und wird ihr Geliebter. Zwischen Abealard und Héloise entwickelte sich eine immer enger werdende Beziehung. Als sie schwanger wird, entführt Abaelard sie in die Bretagne ins Haus seiner Schwester in Le Palais bei Nantes. Dort wird der Sohn Peter Astrolabius geboren, vermutlich identisch mit dem späteren Chorherrn der Kathedrale von Nantes. Nach ihrer Rückkehr nach Paris heirateten Héloise und Abealard heimlich. Zunächst hatte sie in der Befürchtung eine Heirat abgelehnt, dass eine Ehe Abealard in seinem Ansehen schädigen und seine Laufbahn behindern würde, aber auch aus Furcht, dass ihre Liebe durch die Eheschließung institutionalisiert und dadurch erkalten würde. Abealard dagegen hatte auf die Heirat gedrängt, da er die Rache des Wüterichs Fulbert fürchtete – nicht zu Unrecht: Trotz der Eheschließung verfolgte Fulbert Abealard mit seinem heiligen Zorn und versuchte den „sündigen Schwängerer“ zu entmannen.Der Kanonikus schickt Männer ins Haus von Abaelard und lässt ihn im Auftrag der Familie Fulberts kastrieren. Es folgt die „Bestrafung an dem Glied, mit dem er gesündigt hat“. Héloise wird ins Frauenkloster Argenteuil gebracht. Sie legte dort 1117 die Gelübde ab. Abealard schließlich wird Mönch im Kloster Saint Denis. 1123 verließ er es und gründete das Kloster Le Paraclete bei Nogent-sur-Seine. 1129 wurde das Kloster Argenteuil aufgelöst; im folgenden Jahr nahm Abealard Héloise und ihre Mitschwestern in Le Paraclete auf, wo Héloise Äbtissin der Frauengemeinschaft wurde. Sie starb am 15. Mai 1164 in Le Paraclete und wurde dort neben Abealard bestattet; im 19. Jahrhundert wurden die sterblichen Überreste der beiden auf den Pariser Friedhof Père-Lachaise überführt.

Die Geschichte der spannungsreichen Beziehung zwischen Héloise und Abealard ist durch Abealards autobiographische Schrift „Historia calamitatum“ und den Briefwechsel zwischen den beiden überliefert. Héloises Briefe belegen den permanenten Widerstreit zwischen klösterlichem Leben und erotischer Leidenschaft. „Du allein bist’s, der trösten kann“, hält sie fest. Sie ist nun in der Nonnenrolle, vergisst aber nicht ihr Liebesglück. Die Gewalt des Herzens bricht sich Bahn. Vietta bezeichnete dies als Verselbstständigung ihrer Emotionen und sieht darin einen Durchbruch der „Autonomie des Gefühls“. Sie offenbart, dass sie sich zwar auf Wunsch ihres Geliebten in ihr Schicksal füge, aber sie eigentlich für Klosterleben und Frömmigkeit nicht geschaffen sei. Wie Vietta argumentiert, handele es sich um eine erste Art von Gleichstellung. Im Diskurs mit Abaelard ist die Frau auf der Höhe des Diskurses gleichwertig, sie unterstellt sich jedoch letztlich „seinem Befehl“, der Anordnung des Entmannten.
Bernard de Clairvaux klagt Abaelard wegen seiner Lehre der Scholastik an und belegt ihn mit Lehrverbot und Kirchenbann. Zermürbt stirbt Abaelard 1142. Héloise lässt seinen Leichnam in das Kloster Le Paraclet überführen. Durch ihre Korrespondenz mit Abaelard und mehreren großen Äbten dieser Zeit wird sie bekannt, aber auch durch Lyrik.
1147 erhält sie durch Papst Eugen III. für ihren Konvent die Bestätigung eines umfangreichen Grundbesitzes. Hèloise stirbt 1164. Sie wird an der Seite ihres Mannes in Paraclet beigesetzt.
1817 erhalten beide ihr Grabmal auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise. Héloise stellt innerhalb der mittelalterlichen Frauendichtung die theologisch-philosophische Vertreterin dar.
Einige Jahrzehnte vor ihr hatte die Nonne Konstanze vom Kloster Le Ronceray in Angers bereits die „Heroides“ (Ovids Liebesklagen der Heroinen) nachempfunden und Versepisteln gewechselt mit dem Abt Baudoin von Borgueil. Im 13. Jahrhundert setzt mit dem Rosenroman (Jean de Meung) die Heroisierung der Frauenliebe ein, für die Héloise ein Vorbild ist: die selbstbewusste Liebeswahl, die freie Partnerschaft, die der Ehe gegenübergestellt wird. In der weiteren Literatur lassen sich Petrarca (Besteigung des Mont Ventoux) und später Jean Jacques Rousseau mit „La Nouvelle Héloise“ (1704) von dieser Thematik faszinieren. In der Romantik wird dieses Motiv neu entdeckt durch Hofmann von Hofmanns-Waldau (Heldenbriefe) und durch die Verarbeitung des Briefwechsels in der englischen Literatur (Pope, Eloisa to Abaelard und Rousseau „La nouvelle Heloise“éloise“)). Héloise wird zum Inbegriff der schrankenlosen Leidenschaft und der innig Liebenden: die Reinheit des Gewissens begründet das Recht auf Liebe und Leidenschaft.


Zu 3) Als letztes Beispiel widmet sich der Literaturwissenschaftler Vietta dem Beispiel der Caroline Schlegel-Schelling. Zum historisch-kulturellen Hintergrund: In Paris wütet seit 1789 die Revolution. Der König wird hingerichtet, nachdem er sich nicht den republikanischen Gesetzen unterordnen will. Die Revolution wird zunächst in Frankreich ausgerufen, aber auch in den von den französischen Truppen eroberten Ländern der Nachbarschaft etabliert. Freiheitlich-revolutionäre Gedanken breiten sich auch in deutschen Landen aus. Napoléon besetzt weite Teile Deutschlands, darunter auch Preußen. Die königliche Familie muss Berlin verlassen. Erst in den Befreiungskriegen von 1813 wird das Land wieder frei. Es beginnt die Zeit der Restauration, die keine Freiräume für Revolutionäre duldet. Zeitungen, Zeitschriften und Bücher werden der Zensur unterworfen. Caroline Schlegel-Schelling, 1763 in Göttingen als Tochter des international bekannten Göttinger Orientalisten und Theologen Michaelis geboren, genießt eine fundierte Ausbildung. Sie besitzt ein ausgeprägtes bürgerliches Selbstbewusstsein. Im Elternhaus begegnet sie Professoren und bekannten Persönlichkeiten wie Gotthold Ephraim Lessing, Georg Friedrich Lichtenberg und Johann Wolfgang von Goethe. Mit zwanzig Jahren heiratet sie den Bergmedikus Böhmer. Sie leben in Clausthal-Zellerfeld. Aus der Ehe entspringt dreifacher Nachwuchs. Nach vier Jahren stirbt der Mann. Zwei der drei Kinder sterben ebenfalls. Sie zieht mit ihrer Tochter Auguste nach Mainz, wo sie eine Freundin aus Zeiten hat (Therese Huber geb. Heyne). Bald nach ihrer Ankunft besetzen französische Revolutionstruppen die Stadt. Dort wird analog zu den Vorgängen in Paris „die Republik“ ausgerufen. Sie lernt überzeugte Republikaner kennen und besucht Sitzungen einer „Gesellschaft der Freunde der Gleichheit und Freiheit“, eines Jakobinerclubs. Mit einem französischen Offizier hat sie ein Kind. Preußische Truppen intervenieren und beenden die Republik. Caroline wird mit verfolgten Republikanern gefangen genommen, weil sie als „Revolutionärin“ gilt. Ihr Bruder kann sie zwar aus der Gefangenschaft der Festung Königstein im Taunus befreien, aber sie findet keine Unterkunft. So heiratet sie 1796 den Literaturkritiker August Wilhelm Schlegel. Es ist eine Vernunftehe. Glück und Leidenschaft fehlen. In Jena leben sie zusammen mit Friedrich Schlegel, dem Bruder ihres Mannes, und Dorothea Veit-Schlegel, der späteren Frau Friedrichs. Zur Aufbesserung des Haushaltsbudgets unterhält sie einen Mittagstisch für zahlende Gäste, zu denen auch der junge Schelling gehört. Nach dem plötzlichen Tod ihrer fünfzehnjährigen Tochter Auguste macht sie sich schwere Vorwürfe. Sie sieht in dem Tod eine Art Gottesurteil gegen ihre verbotene Liebe zu Schelling. 1803 trennen sich August Wilhelm und Caroline. Sie heiratet Friedrich Wilhelm Schelling, Philosoph und Professor an der Universität Jena. In jungen Jahren hatte sie sich stets gewünscht, glücklich zu sein. Nun ist sie es in ihrer Liebe zu Schelling, auch wenn sie den Tod ihres geliebten Kindes zu verarbeiten hat. Die politische Sozialisation im Kontext der Revolutionswirren und die innige Liebesehe mit Friedrich Wilhelm Schelling lässt sie zu einer gleichrangigen Gesprächspartnerin werden. Erneut manifestiert sich die Teilhabe am rationalen Diskurs wie die Gefühlsautonomie, wie Vietta noch kurz erläutert. Er sieht eine Parallele mit der Geschichte von Abaelard und Héloise. Caroline Schlegel-Schelling ist zweifelsohne keine Pionierin des modernen Feminismus. Sie will etwas für sich, nicht für andere. Sie will die Welt nicht verändern, erhebt aber für sich den Anspruch, Normen zu negieren, die sie in ihrer Persönlichkeitsentfaltung hemmen. Für beide Ehemänner, Schlegel und Schelling, arbeitet sie als Übersetzerin, Lektorin, Sekretärin. Sie prüft Manuskripte, selber aber publiziert sie so gut wie nichts. Ihre Hinterlassenschaft sind einige Rezensionen und Briefe. 1809 stirbt sie sechsundvierzigjährig, während eines Besuchs bei den Schwiegereltern in Maulbronn. In der Beziehung zu Schelling war sie eine gute Diskurspartnerin. Sie sieht in seiner dichterischen Veranlagung eine Überlegenheit gegenüber Fichte: O mein Freund, wiederhole es Dir unaufhörlich, wie kurz das Leben ist, und dass nichts so wahrhaftig existiert als ein Kunstwerk – Kritik geht unter, leibliche Geschlechter verlöschen, Systeme wechseln, aber wenn die Welt einmal aufbrennt wie ein Papierschnitzel, so werden die Kunstwerke die letzten lebenden Funken sein, die in das Haus Gottes gehen – dann erst kommt die Finsternis.“


In der anschließenden Diskussion wurden zahlreiche, teils schwierige methodische, teils umfassende inhaltliche Fragen aufgeworfen: Wie weit ist die griechische Kulturgeschichte und die Stellung der Frau in Griechenland originär, d.h. ursprünglich bzw. welche orientalischen Einflüsse lassen sich mit Blick auf die griechische Kultur feststellen und wie sind diese mit Blick auf die Stellung der Frau zu gewichten? Auf die Rolle der katholischen Kirche, die Reformation und die Gegenreformation wurde aufmerksam gemacht. Weitere Fragen lauteten: Lässt sich an dieser sprunghaften Beispielsdemonstration eine kontinuierliche Entwicklung der gestiegenen Stellung der Frau in der europäischen Kulturgeschichte festmachen? Wie weit sind die genannten Fälle europäisch vergleichbar, was dabei ist wirklich und eigentlich europäisch? Gibt es mit Blick auf die betrachteten Beispiele ein Stadt-Land-Gefälle? Sind die hier benannten Beispiele Ausdruck einer europäischen Elitengeschichte, die nur bedingt Repräsentativität für die europäische Bevölkerung und Gesellschaft beanspruchen können? Die gestellten Fragen machten deutlich, welche Forschungsaufgaben noch bestehen und wie viele Fragen noch offen und zu klären sind. Vietta unterstrich, dass diese Beispiele für sich stehen und keine Linearität suggerieren sollten. Es sei zwar eine Fortschrittsgeschichte, die aber in Auf- und Abbewegung sich vollzog und von Rückschlägen (z. B. die Reformation und Gegenreformation) begleitet worden sei. Der Vortrag und die anschließende Diskussion die über real player abgerufen werden kann, machten „Lust auf mehr“. Mit dem Referenten wurde daher vereinbart, dass es im Sommersemester 2009 einen Fortsetzungsvortrag zum Thema der Rolle der Frauen in der europäischen Kulturgeschichte von der Romantik bis in die Postmoderne geben würde.

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