Inklusion in den Erziehungshilfen – Herausforderungen und Ansätze zur Entwicklung inklusiver Praxiskonzepte

Monday, 30. November 2020 um 15:19 Uhr

Ein Modellprojekt der Erziehungshilfefachverbände BVkE und EREV

Durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 hat sich Deutschland dazu verpflichtet, die notwendigen und hinreichenden Maßnahmen zur Teilhabeermöglichung aller jungen Menschen zu schaffen. Damit verbunden sind auch neue Maßstäbe für das professionelle Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe. Während die jugendhilferechtliche Verankerung einer inklusiven Ausrichtung noch immer aussteht, wollen wir mit dem Modellprojekt Inklusion jetzt! bereits im Vorfeld der erwarteten Gesetzesreform[1] Leitplanken für eine inklusive Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung setzen. In dem Modellprozess sollen zusammen mit über 60 Einrichtungen der Erziehungs- und Eingliederungshilfe, ihren Fachkräften und Adressat*innen inklusive Konzepte für die Praxis entwickelt und erprobt werden.

Was die beteiligten Modellstandorte erreichen wollen, gestaltet sich im Konkreten sehr unterschiedlich aus: einige Einrichtungen halten bereits Wohngruppen mit inklusiven Ansätzen vor, die es zu erweitern gilt, andere wollen den Fokus auch auf ihre ambulanten Leistungsbereiche oder auf den Übergang zu Schule und Arbeitsmarkt legen (vgl. Hollweg/Kieslinger 2020). Trotz unterschiedlicher Zielsetzungen stehen die Projektbeteiligten vor ganz ähnlichen Herausforderungen, etwa davor, wie gemeinsame Leistungsvereinbarungen mit den öffentlichen Jugendhilfeträgern aussehen können, wie sich Kooperationen gestalten und die Mitarbeitenden motivieren lassen. Neben der strukturellen Weichenstellung braucht es nicht nur die Entwicklung inklusiver Unterstützungspraktiken, sondern ebenso die Schaffung inklusiver Organisationskulturen (Meyer/Kieslinger o. J.). Den daraus resultierenden Fragestellungen für die Praxis gehen die beteiligten Modellstandorte in insgesamt zehn Arbeitsgruppen gemeinsam nach. Ergänzend dazu finden regelmäßig Praxisworkshops zu bestimmten Querschnittsthemen statt, die zusammen mit den Einrichtungen gewichtet, beraten und bearbeitet werden: von einer inklusiven Hilfeplanung, über Fragen der Elternarbeit bis hin zu einer inklusiven Personal- und Organisationsentwicklung.

Mehr als nur eine Zusammenführung von Leistungen

Nicht erst seit Ende des gescheiterten SGB-VIII-Reformversuchs im Jahr 2017 ist unübersehbar, dass die dichotome Architektur des Hilfesystems für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Problemlagen der Betroffenen verschärft. Die seit Jahrzehnten aus unterschiedlichen Rechtsregimen gespeisten fachlichen Paradigmen haben sich fest in die jeweiligen Professionen eingeschrieben. Selbst wenn in der Novellierung des SGB VIII beide Systeme unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe zusammengefasst werden, steht sowohl den etablierten Einrichtungen und Diensten der Erziehungshilfen als auch Trägern der Eingliederungshilfe eine umfassende Neuausrichtung bevor. Wie sich die beiden Systemlogiken in der Praxis jenseits eines ‚Säulendenkens‘ zusammenbringen lassen, berührt mitunter Fragen von Multiprofessionalität, Fachkräftegewinnung und -ausbildung. Die dahinterliegenden Schnittstellenprobleme wurden in einer ersten digitalen Auftaktveranstaltung mit den beteiligten Modellstandorten immer wieder als eine zentrale Herausforderung benannt und werden in den verschiedenen Kooperationsformaten des Modellprojekts immer wieder unterstrichen. Wie können Leistungen vor dem Hintergrund unterschiedlicher Kostenträger gewährleistet werden? Wie können die Leistungsvereinbarungen mit öffentlichen Jugendhilfeträgern gemeinsam gestaltet werden? Was bedeutet das für das Fachkräftegebot? Und welche Bedingungen braucht es unter einer inklusiven Perspektive für die Betriebserlaubnis der Einrichtungen? Diese Fragen der beteiligten Einrichtungen sollen in dem Modellprozess gemeinsam beantwortet werden. Hier gilt es die fachlichen Kontakte und Diskussionen auf unterschiedlichen Ebenen auszuweiten (vgl. Hollweg/Kieslinger 2020; Oehme/Schröer 2018).

Die Erweiterung empirischer Grundlagen

Eine große Herausforderung dabei ist die durchaus dürftige empirische Grundlage, auf der die bisherigen Diskussionen basieren. Zum einen finden sich nur wenige Forschungsprojekte, die Inklusion als Leitprinzip in den Hilfen zur Erziehung beleuchten (vgl. Hopmann 2019, S. 126). Zum anderen wissen wir zu wenig über die Bedarfe und Perspektiven der Menschen, um die es geht. „Nichts über uns – ohne uns“, so der zentrale Grundsatz in der UN-Behindertenrechtskonvention. Bezogen auf den Modellprozess bedeutet dieser Leitsatz, die Adressat*innen nicht außen vor zu lassen. Ob auf Fachtagungen oder der Projekthomepage, die Perspektive junger Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen muss kontinuierlich Berücksichtigung finden. Daher ist es von besonderer Bedeutung, den betroffenen Menschen eine Stimme zu geben. Ebendeshalb wird es in dem Modellprojekt auch darum gehen, die partizipative Forschung in diesem Bereich voranzutreiben und den bisherigen Wissensstand systematisch zu erweitern (vgl. Hollweg/Kieslinger 2020).

Die gewonnenen Erkenntnisse werden in Fachtagungen und Online-Seminaren, auf einem Youtube-Kanal, in monatlichen Newslettern und einer einschlägigen Schriftenreihe für die breite Fachöffentlichkeit aufbereitet. Zusammen mit der wissenschaftlichen Begleitung (Universität Hildesheim) lässt sich die durchaus dürftige empirische Grundlage im Kontext inklusiver Erziehungshilfen damit systematisch erweitern. Darüber hinaus sollen die fachlichen Kontakte und Diskussionen auf unterschiedlichen Ebenen ausgeweitet werden, zum Beispiel durch den interdisziplinär zusammengesetzten Projektbeirat mit Vertreter*innen aus überörtlichen Jugendhilfeträgern, der Lebens- und Behindertenhilfe, der Wissenschaft, dem Deutschen Städte- und Landkreistag sowie der Einbeziehung politischer Entscheidungsträger*innen. Denn die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Inklusion nur dann gelingt, wenn alle Akteur*innen an einer gemeinsamen Vision arbeiten.

Autor*innen: Carolyn Hollweg und Daniel Kieslinger

 

Quellen:

Hollweg, Carolyn/ Kieslinger, Daniel (2020): Das Modellprojekt Inklusion jetzt! Inklusionsorientierte Erziehungshilfe: Perspektiven, Herausforderungen, Lösungsansätze. In: Frühe Kindheit 04/20, S. 70-73.

Meyer, Thomas/ Kieslinger, Christina (o. J.): Der Index für Inklusion als Orientierungs- und Umsetzungshilfe. Online unter: https://www.inklumat.de/index-fuer-die-jugendarbeit/4-der-index-fuer-inklusion-als-orientierungs-und-umsetzungshilfe.

Oehme, Andreas/ Schröer, Wolfgang (2018): Beeinträchtigung und Inklusion. In: Böllert, Karin (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden: Springer VS. S. 273-291.

[1] Basierend auf einer in Auftrag gegebenen Rechtsexpertise wurde im Modellprojekt Inklusion jetzt! auch eine Stellungnahme zum aktuellen Referent*innenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen erarbeitet, siehe www.projekt-inklusionjetzt.de.