Wie studiert man eigentlich Kulturwissenschaften?

Monday, 14. July 2014 um 15:04 Uhr

Musik tönt über die Plätze der Domäne, Theaterleute laufen in Kostümen über die Wiese, Luftballons steigen auf. Das Projektsemester „Verschwendung“ läuft auf Hochtouren. Einen Einblick in das Studium der Kulturwissenschaften erhält man am besten mitten im Projektsemester. Antonia Schreiner, Praktikantin in der Pressestelle, hat sich umgehört.

Camilla Loeffler Berg, 4. Semester, studiert Musik und Theater

„Es gibt mehrere Schwerpunkte, die alle irgendwie miteinander verknüpft sind.“ Was Camilla besonders gefällt, ist der große Anteil an Praxisbezug. Das Projektsemester ist keineswegs selbstverständlich. Es muss viel selbstständig organisiert werden und alle arbeiten gemeinsam. Sie möchte später in Richtung Musik oder Kulturvermittlung gehen und durch Praktika hat sie Einblicke im Bereich Dramaturgie erhalten.

Wer Kulturwissenschaften in Hildesheim studiert, ist mehrheitlich auf der Domäne unterwegs. Die 22-Jährige beschreibt diesen idyllischen Ort allerdings auch als eine „Kulturblase“: Man ist ein bisschen außerhalb der anderen Welt. Auf dem Campus ist „überall was los, man hört Musiker üben und man sieht Schauspieler proben.“

Uta Meyer, 4. Semester, studiert Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis, und Eric Christopher Straube, 6. Semester, studiert Szenische Künste

Als Kulturwissenschaftler studiert man sowohl praktische als auch theoretische Module. Das ist genau das, was Uta wollte: „Ich brauche eine Mischung zwischen Kopfanstrengen und Nachdenken, aber eben auch viel Anwendung und Ausprobieren von dem theoretisch Gelernten.“ Eric hat sich Hildesheim wegen des hohen praktischen Anteils als Studienort ausgesucht: „Ich wusste, dass ich Projekte brauche, um studieren zu können.“ Seine Mitbewohnerin kam neulich zu einer Projektvorstellung in den Thega-Filmpalast, um sich Ergebnisse anzusehen und war begeistert: „Ihr macht ja richtig professionelle Filme, wie man sie im Fernsehen sehen würde! Ihr habt ja ein Studio und die volle Ausrüstung.“

In den Kulturwissenschaften wird viel interdisziplinär gearbeitet, jeder hat die Chance, mit anderen Gruppen zusammenzuarbeiten und dadurch entsteht ein guter Austausch zwischen den verschiedenen Schwerpunkten. Wenn zum Beispiel ein Student mit dem Hauptfach Theater eine Inszenierung startet und musikalische Anteile in seinem Stück mit einbauen möchte, dann kann er einfach zu den Musikern gehen und fragen, wer Lust hat, an der Inszenierung mitzuwirken. Oder er braucht Hilfe bei dem Bühnenbild, dann fragt er die Künstler, ob sie mitarbeiten wollen.

Eric betont, dass es die Verbindung zur künstlerischen Praxis, wie sie in Hildesheim möglich ist, nirgendwo anders gäbe. Es sei ein „anderes Paket“, so der 25-Jährige. „Wenn man nur praktisch arbeiten würde, fehlt einem etwas im späteren Leben. Hier in Hildesheim wirst du auf beides genauestens vorbereitet.“ Beruflich entdecken die Studierenden neue Wege. „Als ich hergekommen bin, wollte ich Theaterpädagogin werden, mittlerweile habe ich andere Richtungen entdeckt. Es gibt viele Bereiche, die mich interessieren, auf die ich erst hier aufmerksam geworden bin“, sagt Uta. Das Ziel der beiden: Mit einem kreativen Beruf wollen sie später finanziell auf sicherem Boden stehen.

Wie so ein praktischer Anteil im Studium aussieht? Oh, da gibt es viele Möglichkeiten, beginnt Eric. Ein aktuelles Beispiel wäre das Projektsemester. „Man arbeitet Mittwoch bis Freitag an einem Thema mit einer Gruppe. Anfangs theoretisch – also man eignet sich Wissen im Gebiet an oder ließt Fachtexte. Dann sucht man, wie man das eigene Thema auf die Bühne, in einen Raum oder auf Film bringen möchte – und probiert. In meinem ersten Projektsemester zum Thema Arbeit war ich in Heiner Müllers 'Lohndrücker' von Mieke Matzke und Jens Roselt: Da war es so, dass wir Donnerstag immer Therieblock hatten, Freitag dann Zeit zum Experimentieren und ausprobieren – auf freiwillige Basis auch am Wochenende – und dann am Mittwoch präsentieren, um dann am Folgetag weiter darüber zu reden und forschen", beschreibt Eric. In diesem Projektsemester war er im 16mm-Film-Seminar bei Uwe Schrader im Filmstudio Hannover. Er nahm an Theorieseminaren, etwa „Einführung in den handlungsorientierten Film“ und nachmittags an einer Übung teil, um Drehbücher zu entwickeln. Dann folgte der Filmdreh. „Man lernt von der Pike auf einen Film zu produzieren, drehen, machen, schreiben – ja, fast schon einen Film leben", sagt Eric. Um die Bachelor-Arbeit vorzubereiten, werden Übungen und Seminare verknüpft. Der Theaterstudent hat etwa das Seminar „Selbstinszenierung“ und die Übung „Sich selbst inszenieren“ besucht.

„So wendet man Theorien, Ideen, Mittel großer und historischer Theatermodelle an sich selbst an und entwickelt sie weiter. Anders, aber ähnlich bei den Medien: Dort drehe ich in der Übung einen Film, bereite in der Bildenden Kunst eine Ausstellung vor. Immer passend zum Seminarthema - ein Räderwerk zum lernenden Verstehen und verstehenden Lernen", meint Eric.

Das Umfeld, in dem sie studieren, sei besonders. „Man fühlt sich wie im Urlaub, wenn man hier auf dem Campus Pause hat und sich auf den Hof setzt. Es ist wie eine große Familie, jeder kennt jeden und man findet schnell Anschluss“, sagt die Kulturwissenschaftsstudentin Uta. Eric vergleicht die Domäne mit einem studentischen „Mehrgenerationenhaus“.

Jana Kegler, 4. Semester, studiert Kunst und Theater

„Es gibt so unglaublich viele verschiedene Varianten des Studiums hier in Hildesheim. Keiner studiert so, wie der andere studiert.  Jeder wählt seine eigenen Kombinationen im Bereich Kulturwissenschaften: von Kunst, Literatur, Musik bis zu Theater und Medien“, sagt die 21-jährige Jana Kegler. Die Berufsfelder sind bei ihr noch unklar, da sie so viel entdeckt hat, was sie interessiert.

Verena Schröder, Theater und Medien, und Rebecca David, Philosophie - Künste - Medien, beide im 4. Semester

„Es ist die Mischung, die das Studium in Hildesheim so besonders macht“, sagt die 24-jährige Verena. Studierende haben viele Möglichkeiten, das in der Theorie Gelernte praktisch umzusetzen. Rebecca findet es spannend, dass auch aktuelle Themen behandelt werden und zum Beispiel der professionelle Synchronsprecher von Leonardo DiCaprio ein Seminar geleitet hat oder der Hauptdarsteller von „Sturm der Liebe", Moritz Tittel in die Lehre eingebunden wurde. Es ist viel eigene Kreativität gefragt und vor allem kann sie schon während des Studiums üben, Drehbücher zu schreiben.

Raus auf die Wiese, rauf auf die Bühne: Das zweite Festivalwochenende

Rauschendes Festival: Im Projektsemester zeigen etwa 400 Lehrende und Studierende der Kulturwissenschaften in den kommenden Tagen, wie sie sich in Film, Musik und Theater dem Thema Verschwendung angenähert haben. Ein „Archiv der verschwendeten Dinge" entsteht, Studierende suchen nach Menschen, die Hildesheim lieben oder hier ihr Herz verloren haben. Sie bringen Autobiographisches auf die Bühne und befassen sich mit der Bilderflut im digitalen Zeitalter. In Zusammenarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Komponisten entwickeln sie – ausgehend von Märchen und Kinderbüchern – Theaterinszenierungen, in denen Geräusche und Klänge eine besondere Rolle spielen. Filmschaffende erzählen ihre Geschichten zum Thema Film im Film auf 16 Millimetern, mit strauchelnden Schauspielern, verliebten Kameraleuten und besessenen Filmteams.

Auf dem mittelalterlichen Burggelände, dem Kulturcampus Domäne Marienburg der Hildesheimer Universität, tickt die Zeit anders. Seit 1982 geht das regelmäßig so. Statt in der üblichen 90-Minuten-Taktung laufen die Projekttage auch einmal zehn Stunden bis in die Nacht. 350 Studierende und 35 Lehrende der kulturwissenschaftlichen Studiengänge verlassen seit April ihre Hörsäle und Seminarräume, um ein Semester lang Projekte in den Bereichen Theater, Literatur, Medien und Film, Philosophie, Musik und bildende Kunst zu produzieren und zu vermitteln. Raus auf die Wiese, Austausch beim Frühstück, rauf auf die Bühne. Dabei dreht sich in diesem Jahr alles um das Thema „Verschwendung". Beteiligt sind Studierende der Studiengänge Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis, Kreatives Schreiben, Szenische Künste und Philosophie-Künste-Medien, deren besondere Stärke in der Verbindung von künstlerischer Praxis und wissenschaftlicher Auseinandersetzung liegt. Das Festival endet am 20. Juli 2014 (zum Programm). Interessierte Lehrende und Studierende aller Fachbereiche sind herzlich eingeladen, Theater- und Musikaufführungen, Performances und Ausstellungen zu erleben und an einer geführten Tour teilzunehmen. Es gibt auch ein Festivalcafé. Wer Fragen hat, kann die Organisatoren via info@projektsemester.de erreichen. 

„Kulturwissenschaftler auf der Bühne. Wo das Herzblut fließt / Wer in Hildesheim Kulturwissenschaft studiert, muss irgendwann raus aus der Bibliothek: Die Ergebnisse des Praxissemesters präsentiert jetzt das Verschwendung-Festival", 05.07.2014, TAZ die tageszeitung

„Was ist eigentlich Kulturwissenschaft? Ein Studiengang an der Universität Hildesheim / Gespräch mit den Professoren Birgit Mandel, Geesche Wartemann und Matthias Rebstock", 24.06.2014, NDR Hörfunk (ab Minute 19:50)

„Zeit vertrödeln – aber nicht verschwenden. Studenten zeigen die Ergebnisse eines Projektsemesters zum Thema 'Verschwendung'", 14.07.2014, Hildesheimer Allgemeine Zeitung (ab 8. Tag nach Veröffentlichung hier abrufbar)


Die Studenten Camilla, Uta und Eric, Jana, Verena und Rebecca während der Eröffnung des Projektsemesters. Etwa 400 Lehrende und Studierende der Kulturwissenschaften zeigen, wie sie sich in Film, Musik und Theater dem Thema Verschwendung angenähert haben. Fotos: Antonia Schreiner

Die Studenten Camilla, Uta und Eric und Jana während der Eröffnung des Projektsemesters. Etwa 400 Lehrende und Studierende der Kulturwissenschaften zeigen, wie sie sich in Film, Musik und Theater dem Thema Verschwendung angenähert haben. Fotos: Antonia Schreiner

Die Studenten Camilla, Uta und Eric sowie Jana während der Eröffnung des Projektsemesters. Etwa 400 Lehrende und Studierende der Kulturwissenschaften zeigen, wie sie sich in Film, Musik, Theater dem Thema Verschwendung angenähert haben. Fotos: Antonia Schreiner