„Warum wollen wir vergessen – und was?“

Wednesday, 30. May 2012 um 18:02 Uhr

Seit 22 Jahren stehen sie auf der Bühne, für die Schauspieler des Türkisch-Deutschen Theaters ist kulturelle Vielfalt normal. In der neuen Inszenierung beschäftigen sich die 20- bis 65-jährigen Schauspieler unterschiedlicher Berufsgruppen und Herkunftsländer vom 31. Mai bis 5. Juni mit dem Vergessen. „Durch die Auseinandersetzung mit Politik, Geschichte und der eigenen Biographie entsteht eine szenische Collage. Warum wollen wir vergessen – und was?“, fragen Isabel Schwenk und Markus Wenzel. Die beiden Studierenden der Universität Hildesheim leiten das Theater.

„Wie beeinflusst das Vergessen unsere Biografie?“, fragt Isabel Schwenk, die mit Markus Wenzel seit 2011 das Türkisch-Deutsche Theater (TDT) leitet. Erstmals seit der Gründung des Theaters vor 22 Jahren baut die aktuelle Inszenierung „Der Dämon in uns sehr sehr frei nach…“ auf Texten von türkischen Autoren auf. „Einige Spieler haben sich das gewünscht, es ist sehr bereichernd, die Inszenierung auf Sabahattin Alis Texten aufzubauen. Ausgehend von seiner Biografie haben wir uns mit weiteren türkischen, armenischen, kurdischen und alevitischen Intellektuellen beschäftigt. Wir haben nach dem Thema ‚Vergessen‘ gesucht – auch in unseren Biografien Geschichten entdeckt, die wir bereits vergessen glaubten.“

Isabel Schwenk und Markus Wenzel studieren an der Universität Hildesheim Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis sowie Szenische Künste. Das bewusste Vergessen sei eine gängige Praxis, erklären sie. „Regierungen im Großen und der Mensch in alltäglichen Situationen vergessen. Der Türkei-Armenien-Konflikt zeigt, dass Regierungen bis heute die dunklen Kapitel ihrer Geschichte ‚vergessen machen‘ wollen. Durch die Auseinandersetzung mit Politik, Geschichte und der eigenen Biographie entsteht eine szenische Collage. Warum wollen wir vergessen – und was?“ Gerne würden auch die Gründe vergessen, warum Türken nach Deutschland migrieren. Im Theater wird Integration praktiziert und hinterfragt.

Die Kulturwissenschaftsstudierenden sind die nächste Generation in der Kulturlandschaft. Wie sie die Debatten um „gelungene Integration" erleben? „Es ist wichtig, Menschen zu Wort kommen zu lassen und ihnen zuzuhören. Das fehlt in unserer Gesellschaft und da begreife ich Theater als eine mögliche Form und als Chance auf Missstände hinzuweisen“, erklärt Isabel Schwenk, die zum Nachdenken anregen möchte. „Integration ist ein schwammiger, oft populistisch verwendeter Begriff. Häufig beschreibt er, wie sich eine Minderheit einer Mehrheit anpasst. Ein von Grund auf ungünstiger Ansatz. In so einem vielseitigen und vielfältigen Land wie Deutschland gibt es kaum Mehrheiten. Wir sind 81 Millionen Minderheiten. Wohin sollen wir uns denn bitte integrieren? Gibt es eine Leitkultur? Wenn Kultur einen Beitrag zur Debatte leisten kann, dann, dass sie sich nicht in das Fahrwasser dieses populistischen Diskurses begibt. Verständigung, statt Integration! Austausch, statt Anpassung!“, fordern Isabel Schwenk und Markus Wenzel.

Beim Türkisch-Deutschen Theater entwickeln die Spieler gemeinsam das Stück, bringen eigene Texte und selbst recherchiertes Material mit ein. Das Leitungsteam sieht sich eher in der Rolle der Moderatoren. „Vor allem zu Beginn der Probenzeit nimmt die theaterpädagogische Arbeit viel Raum ein. Wir finden uns als Gruppe, lernen wie man sich auf der Bühne bewegen kann, wie man laut spricht. Jeder Spieler bringt ein anderes Vorwissen, andere Interessen und vor allem andere Fähigkeiten mit“, sagt Markus Wenzel. Es sei wichtig, die Fähigkeiten der einzelnen Spieler zu erkennen, zu fördern und die Spieler in ihrem Potential zu unterstützen.

Isabel Schwenk wird das Theater auch künftig leiten. „Ziel ist es, ein konstanteres Leitungsteam zu finden, um mit dem TDT außerhalb von Hildesheim eine größere Öffentlichkeit zu erreichen. Thematisch und künstlerisch soll die Arbeit darauf aufbauen, was wir in der letzten Saison erarbeitet haben.“

Das Türkisch-Deutsche Theater in Hildesheim

Wie reagieren Kulturinstitutionen auf Migration? Das Türkisch-Deutsche Theater wird seit 1990 von Studierenden der Universität Hildesheim und Bürgern aus der Region Hildesheim geleitet. Damals wollten sie einen Raum schaffen, um künstlerisch „über das Verhältnis von Einheimischen und Fremden“ nachzudenken, indem sie die „Probleme und Möglichkeiten des Zusammenlebens“ darstellten, so der Gründer und Regisseur Sebastian Nübling. Während in den Anfangsjahren Integration direkt auf der Bühne behandelt wurde, findet sie inzwischen ganz praktisch hinter der Bühne statt.

Die Schauspieler? Männer, Frauen, Ältere, Jüngere, unterschiedliche Berufsgruppen und Herkunftsländer. Gemeinsam mit den 20- bis 65-jährigen Schauspielern, die unterschiedliche soziale und kulturelle Hintergründe mitbringen, erarbeiten Studierende der Universität Hildesheim die Inszenierungen.

Seit der Gründung steht Neclâ Eberle-Erdógan auf der Bühne des TDT – neben ihrer Arbeit im Mehrgenerationenhaus Hildesheim. „In erster Linie ist Theater eine Möglichkeit, über meine Ansichten und Einstellungen in Bezug auf das Zusammenleben in der Gesellschaft nachzudenken und Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Menschen zu finden“, sagt die türkischstämmige Deutsche.

Aktuelle Inszenierung über das Vergessen

Die Premiere der Inszenierung „Der Dämon in uns sehr sehr frei nach...“ des Türkisch-Deutschen Theaters am 31. Mai ist bereits ausverkauft. Weitere Aufführungen am 1., 2. 4. und 5. Juni jeweils um 20:00 Uhr im Weinsziehr/ LitteraNova (Wallstraße 12, Hildesheim).

Isabel Schwenk und Markus Wenzel sind erreichbar unter der E-Mail-Adresse info[at]tuerkischdeutschestheater.de.


Wie reagieren Kulturinstitutionen auf Migration? Das Türkisch-Deutsche Theater wird seit 1990 von Studierenden der Universität Hildesheim und Bürgern aus der Region Hildesheim geleitet. Damals wollten sie einen Raum schaffen, um künstlerisch „über das Verhältnis von Einheimischen und Fremden“ nachzudenken. Fotos: Andreas Hartmann

Wie reagieren Kulturinstitutionen auf Migration? Das Türkisch-Deutsche Theater wird seit 1990 von Studierenden der Universität Hildesheim und Bürgern aus der Region Hildesheim geleitet. Damals wollten sie einen Raum schaffen, um künstlerisch „über das Verhältnis von Einheimischen und Fremden“ nachzudenken. Fotos der aktuellen Inszenierung: Andreas Hartmann