Übergang ins Erwachsenenalter: „Care Leaver“ brauchen Unterstützung

Monday, 28. November 2016 um 13:20 Uhr

Der Rechtsanspruch auf Hilfe für junge Volljährige ist zu stärken, fordern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Hildesheim. Eine Arbeitsgruppe geht der Frage nach, was aus Kindern und Jugendlichen wird, die im Heim, in der Pflegefamilie und in betreuten Wohngruppen aufwachsen und diese Erziehungshilfen verlassen.

Jugendhilfeleistungen werden oft beendet, wenn junge Menschen 18, also volljährig, werden. Diese jungen Menschen, die in öffentlicher Verantwortung zum Beispiel in der Heimerziehung oder in Pflegefamilien aufgewachsen sind („Care Leaver“), müssen dann häufig den Übergang ins Erwachsenleben – in Ausbildung, Arbeit und Beruf – ohne weitere Unterstützung meistern. Für sie, die als Kinder und Jugendliche schwierige Lebenssituationen zu bewältigen hatten, ist diese Situation eine große Belastung, sagt die Sozialpädagogin Katharina Mangold. Junge Menschen, die dagegen bei ihren Familien aufwachsen, verlassen heute durchschnittlich das Elternhaus im Alter von 24 oder 25 Jahren. „Sie können bei Fragen und Unterstützungsbedarf in der Regel wieder nach Hause kommen. Das ist jungen Menschen, die in öffentlicher Verantwortung aufgewachsen sind, vielfach verwehrt“, so Mangold.

Katharina Mangold und Professorin Kirsten Scheiwe vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik befassen sich in der Forschung mit diesen Lebenslagen. Sie teilen Forschungserkenntnisse und bringen Fachleute und Jugendliche zusammen, über 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Wissenschaft und Praxis sowie „Care Leaver“ kamen etwa im November auf einem Workshop an der Universität Hildesheim zusammen.

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) sieht vor, dass Hilfen zur Persönlichkeitsentwicklung und zur eigenverantwortlichen Lebensführung für junge Volljährige gewährt werden sollen, wenn und solange dies aufgrund der individuellen Situation notwendig ist (§ 41 SGB VIII). Im Regelfall sind Hilfen also zu gewähren, wenn dieser Bedarf vorliegt. In der Praxis sieht es jedoch je nach zuständiger Kommune in Deutschland sehr uneinheitlich aus. In vielen Bereichen treffen die Betroffenen und auch Fachkräfte oft auf Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der benötigten Unterstützung.

Im Mittelpunkt der Vorträge und Diskussionen standen deshalb Fragen von Recht und Praxis, Problemen und Veränderungsbedarf der Hilfen für junge Volljährige. Thomas Meysen vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht berichtete über die geplanten Veränderungen der Hilfen für junge Volljährige durch die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII), die noch in dieser Legislaturperiode geplant ist. Professorin Sabine Dahm von der HAWK Hildesheim zeigte an Beispielen aus der Rechtsprechung der Gerichte, dass in den wenigen Streitfällen in erster Linie die jungen Menschen ihr Recht bekamen. Vor allem das Plädoyer der Vertreterinnen der Selbstorganisationen Anna Seidel (Careleaver e.V.) und Amina Önder (Jugend ohne Grenzen) zeigte, wie notwendig die Unterstützung über das 18. Lebensjahr hinaus für alle jungen Menschen ist. Der Vertreter der Jugendämter und Leiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes der Stadt Karlsruhe, Reinhard Niederbühl, unterstützt diese Forderung. Er zeigte auf, wie junge Menschen im Übergang unterstützt werden können. Professorin Susanne Gerner von der FH Darmstadt ergänzte diese Forderungen um die Problemlagen der jungen Erwachsenen mit einer sogenannten Behinderung. Henriette Katzenstein vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht forderte nicht nur ein Ende des „Verselbständigungswahns“ mit 18 Jahren, sondern eine „stand-by“-Option, so dass die jungen Menschen wieder Zugang zur Jugendhilfe haben, auch wenn sie diese bereits verlassen haben. Bernd Hemker von der Ombudschaft Jugendhilfe Nordrhein-Westfalen konnte diese Notwendigkeit auch an einzelnen Fällen deutlich machen. Es braucht einfach manchmal nochmals einige Monate Unterstützung, auch wenn der junge Erwachsene zunächst vielleicht selbst ausziehen wollte.

Alle Beteiligten fordern, dass die gegenwärtigen Reformen in der Kinder- und Jugendhilfe dahingehend zu prüfen sind, ob sie die Rechte für junge Volljährige transparenter machen und vor allem die Durchsetzungskraft in allen Kommunen verstärken. Es sind starke Rechtsansprüche für diese jungen Volljährigen notwendig, damit sie den Übergang ins Erwachsenenleben wie andere junge Menschen auch gestalten können.

Kurz erklärt: „Care Leaver“ in Deutschland / Forschungsergebnisse

Eine Arbeitsgruppe der Universität Hildesheim untersucht die Lebenslagen und Bildungswege von Care Leavern (= Jugendliche, die Hilfen verlassen) in Deutschland und den Übergang ins Erwachsenenalter. Dabei befassen sie sich unter anderem mit der Bildungslaufbahn der Jugendlichen. Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Nach der stationären Erziehungshilfe – Unterstützungsmodelle für Care Leaver in Deutschland“ wurden im Buch „Jugendhilfe – und dann?" veröffentlicht. Die Wissenschaftler dokumentieren, wie junge Menschen den Übergang aus Erziehungshilfen ins Erwachsenenleben erleben und welche Unterstützung sie dabei erfahren. Nationale und internationale Praxisbeispiele guter Übergangsbegleitung wurden analysiert.

Die Arbeitsgruppe um Professor Wolfgang Schröer von der Universität Hildesheim geht der Frage nach, was aus Kindern und Jugendlichen wird, die im Heim, in der Pflegefamilie und in betreuten Wohngruppen aufwachsen und diese Erziehungshilfen verlassen. Manche haben zuvor einschneidende Ereignisse erlebt, einige wurden als Kleinkind misshandelt, von anderen starben die Eltern oder diese waren mit der Erziehung überfordert. Nach dem Ende der stationären Erziehungshilfe können diese Jugendlichen oft auf kein gesichertes familiäres und sozial gewachsenes Netz zurückgreifen und sind früh auf sich alleine gestellt.

Die Forschergruppe begleitet den Aufbau eines bundesweiten Netzwerkes von jungen Erwachsenen und hat umfangreichere Daten über die Lebenswege dieser jungen Menschen in Deutschland gesammelt, gelungene Übergangsmodelle in anderen Ländern erfasst und dokumentiert, wie Organisationen den Übergang in das Erwachsenenleben begleiten. Die Forscher verfolgen auch Übergänge in Hochschulen. Bislang gab es keine verlässlichen Daten darüber, wie viele Care Leaver an deutschen Hochschulen studieren und vor welchen Herausforderungen sie stehen.

Mehr Informationen zu den Forschungsprojekten des Instituts für Sozial- und Organisationspädagogik finden Sie online:

Care Leaver an Hochschulen

Medienkontakt: Kontakt zu jungen Erwachsenen und zu Dr. Katharina Mangold, Prof. Dr. Kirsten Scheiwe und Prof. Dr. Wolfgang Schröer über die Pressestelle der Universität Hildesheim (Isa Lange, presse@uni-hildesheim.de, 05121.883-90100).


Eine Arbeitsgruppe vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim untersucht die Lebenslagen und Bildungswege von Jugendlichen, die Hilfen verlassen. Dabei befassen sie sich unter anderem mit der Bildungslaufbahn der Jugendlichen und Wege in die Hochschule. Themenbild: Chris Gossmann/Hildesheimer Allgemeine Zeitung

Eine Arbeitsgruppe vom Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim untersucht die Lebenslagen und Bildungswege von Jugendlichen, die Hilfen verlassen. Dabei befassen sie sich unter anderem mit der Bildungslaufbahn der Jugendlichen und Wege in die Hochschule. Themenbild: Chris Gossmann/Hildesheimer Allgemeine Zeitung