"Historiker ohne erhobenen Zeigefinger"

Saturday, 15. July 2006 um 18:51 Uhr

Prof. Dr. Michael Gehler wird neuer Direktor des Instituts für Geschichte

"Historiker weder mit erhobenem Zeigefinger noch mit bösem Blick; parteilos, familien- und kinderorientiert" - so steht es in der Einleitung auf der Homepage von Prof. Dr. Michael Gehler (Jg. 1962), der als Nachfolger von Prof. Dr. Manfred Overesch im Juli 2006 an die Stiftung Universität Hildesheim berufen wurde.

Michael Gehler studierte Geschichte und Germanistik mit Abschluss Magister Artium und Promotion als Doktor der Philosophie. Er war 1992 bis 1996 Research Fellow des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) in Wien. Seit 1999 war er außerordentlicher Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Als Alexander von Humboldt-Stipendiat (2001-2002) und Permanent Senior Fellow am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) forschte er in Deutschland an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Im gleichen Zeitraum arbeitete er als assoziiertes Mitglied bei der Forschungsgruppe Europa am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen unter Wilfried Loth. Gastprofessuren führten ihn an die Universitäten Rostock (2004), Salzburg (2004/05) und an die KU Leuven (2005). Aktuell ist Michael Gehler Mitglied der Historischen Kommission der österreichischen Akademie der Wissenschaften (öAW) in Wien. Zahlreiche Publikationen zur österreichischen, deutschen und europäischen Zeitgeschichte runden seine Expertise ab und werden für die Hildesheimer Studierenden interessante Impulse darstellen. Was Prof. Gehler motiviert hat, dem Ruf an die Stiftung Universität Hildesheim zu folgen und welche Schwerpunkte seine wissenschaftliche Arbeit hier auszeichnen werden, dazu wurde er im Interview befragt.

UniOnline: Wo sehen Sie die Schwerpunkte Ihrer künftigen Tätigkeit an der Universität Hildesheim?
Prof. Dr. Gehler: Zunächst freue ich mich auf die Studierenden und den Austausch mit ihnen. In der Lehre werden Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und das europäische Staaten- und Wirtschaftssystem mit seiner Verfassungsentwicklung im Blickpunkt stehen. In der Forschung ist ein Schwerpunkt zu vergleichender europäischer Zeitgeschichte nach 1945, insbesondere der europäischen Integration, geplant. Dabei denke ich nicht nur an das Westeuropa der EWG, sondern an das größere Europa unter Einschluss der OEEC und EFTA unter Einbeziehung der mittel- und osteuropäischen Perspektive.

UniOnline: Beabsichtigen Sie eine Zusammenarbeit im europäischen Rahmen?
Prof. Dr. Gehler: Ja, das wird eine zukünftige Institutsaufgabe sein, daneben Untersuchung der Nachbarschaftsbeziehungen Deutschlands zu österreich und anderen Kleinstaaten, aber auch an Italien ist gedacht. Es gibt Verbindungen zur Katholischen Universität Leuven, eine Stadt, die ein ähnliches Zerstörungsschicksal erlebt hat wie Hildesheim. Nächstes Jahr steht das 50-Jährige Jubiläum der Römischen Verträge an, was die Integrationsforschung intensivieren wird.

UniOnline:Können Sie etwas zu Ihrer Vernetzung in der internationalen scientific community sagen?
Prof. Dr. Gehler: Es gibt zahlreiche Kontakte. Sie bewegen sich im europäischen und transatlantischen Rahmen. Verbindungen bestehen zu europäischen Universitäten so genannter "second cities" (Cagliari, Limerick, Portsmouth etc.), aber auch zu größeren. Zuletzt bin ich in die Verbindungsgruppe der Historiker bei der EG-Kommission, wie das immer noch heißt, gewählt worden, die um die Redaktion der "Zeitschrift für europäische Integrationsgeschichte" ein Forum europäischer Historiker gebildet hat.

UniOnline: Wie beurteilen Sie die Chancen, für eine erfolgreiche Einwerbung von Drittmitteln?
Prof. Dr. Gehler: Es ist nicht leicht, solche zu bekommen, weil der Erfolgsdruck und die Konkurrenz erheblich zugenommen haben. Auch in österreich war das zuletzt zu spüren. Es dürfte jedoch speziell in der Zeitgeschichte relativ gute Aussichten geben, wenn die Anträge inhaltlich durchdacht und methodisch innovativ sind sowie originelle Ergebnisse versprechen.

UniOnline: Viele unserer Studierenden wollen Lehrerinnen und Lehrer werden. Sind Sie an Fachdidaktik interessiert?
Prof. Dr. Gehler: Ja, durchaus. Ich habe auch Lehramt studiert und an einem Gymnasium in Innsbruck unterricht, was mir Freude bereitet hat. Einschlägige Kontakte zur Internationalen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik bestehen. In der Lehrer- und Erwachsenenbildung bin ich seit längerem tätig. "Europa" bietet auch viele Themen zur fachdidaktischen Forschung und Umsetzung.

UniOnline: Wo sollen die Schwerpunkte der künftigen Juniorprofessur für Kulturgeschichte liegen?
Prof. Dr. Gehler: Es soll die neuere und neueste europäische Kulturgeschichte abgedeckt, d.h. neben der Neuzeit auch Zeitgeschichte einbezogen werden. Es versteht sich von selbst, dass deutsche Kulturgeschichte auch einfließen muss. Es ist auch an Kommunikations- und Medienkulturen gedacht. Politische Kommunikation zur Legitimation von Herrschaft ist ohne einen breiteren historischen Kulturbegriff nicht hinreichend erklärbar. In Anbetracht der verschiedenen Fachbereiche in Hildesheim wird es auf Interdisziplinarität sowie eine fachbereichsübergreifende Kooperation ankommen.

UniOnline: Was denken Sie von der Domstadt und dem Weltkulturerbestandort Hildesheim als Ihren zukünftigen Wohnsitz?
Prof. Dr. Gehler: Ich war mit meiner Frau und den Kindern einige Mal hier, um einen Lokalaugenschein vorzunehmen. Hildesheim ist ein geschichtlicher Ort, wo sich ein Historiker zu Hause fühlen kann. Beeindruckt war ich vom Domhof und den vielen Kirchen. Unser ältester Sohn Maximilian wird das Josephinum besuchen. Die Stadt ist überschaubar, hat kurze Wege und der restaurierte Stadtkern mit dem historischen Marktplatz im Zentrum fasziniert. Obwohl die Familie mit der Tiroler Bergwelt verbunden ist, freuen sich alle auf den bevorstehenden Wechsel und neue Begegnungen. Unser Umzug wird im August über die Bühne gehen - das ist mit vier Kindern und einer großen Bibliothek keine kleine Sache. -, denn Schulbeginn ist in Niedersachsen am 31. August. Nachdem unser jüngster Sohn am 1. Juni gesund zur Welt gekommen ist, stand der Rufannahme nichts mehr im Wege.