Es war einmal: Märchen in Leichter Sprache

Tuesday, 03. January 2017 um 17:03 Uhr

Von „Frau Holle“ bis zu den „Bremer Stadtmusikanten“: Ein Team um Professorin Christiane Maaß übersetzt Märchen in Leichte Sprache. „Wir haben gehörlose Kinder kennengelernt, die zehn Jahre alt sind und kaum Märchen kennen“, berichtet Maaß. Märchen in vereinfachter Form existieren bisher kaum. Die Medienlinguistinnen der Universität Hildesheim arbeiten daher mit dem NDR zusammen. Die Märchen sind ab sofort online kostenfrei abrufbar.

Professorin Christiane Maaß von der „Forschungsstelle Leichte Sprache“ der Universität Hildesheim hat mit ihrem Team und in Zusammenarbeit mit dem Norddeutschen Rundfunk Märchen in Leichter Sprache produziert. Die Märchen sind ab sofort online beim NDR abrufbar – von „Rapunzel“ und „Frau Holle“ über „Der Wolf und die sieben Geißlein“ bis zu den „Bremer Stadtmusikanten“.

Die Texte wurden von Studentinnen und Studenten des Studiengangs  „Medientext und Medienübersetzen“ in den Kursen „Orientierung – Menschen mit Sinnesbehinderungen“ und „Barrierefreie Internetnutzung“ angefertigt. Auch die Zeichnungen sind überwiegend von den Studierenden. Isabel Rink von der Forschungsstelle Leichte Sprache hat die Märchen überarbeitet und sie sind ab sofort auch in Gebärdensprache mit Untertiteln in Leichter Sprache abrufbar. Viel Wert haben die Übersetzerinnen auf eine schöne Stimmqualität der Sprecher gelegt.

Als einzige Universität in Deutschland hat Hildesheim eine Forschungsstelle zu Leichter Sprache aufgebaut, an der wissenschaftliche Arbeiten ebenso umgesetzt werden wie praktische Projekte. In Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Justizministerium wurden zum Beispiel juristische Texte, etwa das Erbrecht, übersetzt. Die Leichte Sprache – ein Zusatzangebot zum Originaltext – helfe allen Menschen, die Schwierigkeiten mit dem Lesen haben, so Maaß.

Nachgefragt bei Professorin Christiane Maaß und Isabel Rink

Warum übersetzen Sie Märchen – von „Frau Holle“ bis „Hänsel und Gretel“?

Christiane Maaß: Wir übersetzen alle Arten von Texten und haben eigentlich einen Fokus auf fachlichen Texten, insbesondere juristischen. Hier gibt es inzwischen rechtliche Vorgaben und damit eine Handlungsnotwendigkeit. Uns ist es jedoch ein Anliegen, alle Formen von Schriftlichkeit für Leserinnen und Leser mit Einschränkungen zu öffnen. Märchen sind ein wichtiges Kulturgut. Sie sind sprachlich nicht leicht, aber alle Kinder – auch Kinder mit Behinderungen oder Kinder, die gerade erst Deutsch lernen – sollten möglichst direkt Zugang erhalten. Wir haben gehörlose Kinder kennengelernt, die zehn Jahre alt sind und kaum Märchen kennen, weil es sie nicht in für sie zugänglicher Form gab. Es war uns ein Anliegen, Märchen für alle barrierefrei zu machen. Darum auch die Umsetzung in Leichter Sprache, in Gebärdensprache, mit Vorlesefunktion und mit Untertiteln: Jede und jeder soll Zugang erhalten.

Was ist schwierig beim Übersetzen der Märchen? Ist es immer eindeutig klar, wie man einfache Worte für den komplexen Märchentext finden kann?

Isabel Rink: Nein – es war tatsächlich mühevoll bei den Märchen den richtigen „Ton" zu treffen, denn gerade dieser macht die Textsorte ja so besonders. Eine Herausforderung ist der Umgang mit den für Märchen so typischen Verkleinerungsformen, zum Beispiel „Häuschen", „Vögelchen" oder „Hemdlein" – diese sind nicht trivial und müssen erklärt werden [hier kann man das Märchen „Hänsel und Gretel“ in Leichter Sprache lesen]. Wir haben uns in der Übersetzung von Hänsel und Gretel für diese Variante entschieden:

Dann kommen Hänsel und Gretel zu einem Häuschen.
Ein Häuschen ist ein kleines Haus.
Das Häuschen ist mitten im Wald.
Das Häuschen ist aus Brot.
Und Zucker.

Wie verändert sich der Originaltext in Ihren Märchen-Übersetzungen?

Isabel Rink: Bei „Hänsel und Gretel“ kommt erschwerend hinzu, dass das Märchen einen typischen Reim enthält:

„Knusper, knusper, Knäuschen,
wer knuspert an meinem Häuschen?"

Zuallererst wollten wir das „Häuschen" zu einem „Haus" machen, aber dann hätte der so charakteristische Reim nicht mehr adäquat übersetzt werden können (Knusper, knusper, Knaus, wer knuspert an meinem Haus?). Das Märchen hätte seinen Charme verloren. Also mussten wir nach alternativen Lösungen suchen…

Für welche Übersetzung haben Sie sich dann entschieden?

Isabel Rink: Die Lösung sieht wie folgt aus:

Hänsel und Gretel essen ein Stück vom Häuschen.
Plötzlich hören Hänsel und Gretel eine Stimme.
Die Stimme kommt aus dem Häuschen:
Knusper knusper Knäuschen.
Wer knuspert an meinem Häuschen?

Wie geht es nun weiter in der Forschungsstelle Leichte Sprache – Sie übersetzen mit ihrem Team Texte aus der Justiz (etwa Erbrecht), Märchen, Nachrichten – und nun? Welche Textform wäre noch reizvoll und wichtig? Etwa: ein Mietvertrag, Musiktexte, Theatertexte, Kant, Goethe und Dostojewski?

Christiane Maaß: Im Moment steht eine wichtige Aufgabe für uns im Vordergrund: Ab 1. Januar 2018 besteht nach dem Behindertengleichstellungsgesetz ein gesetzlich festgeschriebenes Recht auf Rechtstexte in Leichter Sprache. Diese Texte liegen noch nicht vor und es gibt nur wenige Übersetzer in Deutschland, die diese Aufgabe übernehmen können. Rechtstexte sind schwer und die Übersetzungen müssen ja korrekt und dabei trotzdem sprachlich ganz leicht werden. Das ist eine sehr schwere Aufgabe. Wir möchten zur Professionalisierung der Leichte-Sprache-Übersetzer im Bereich der fachlichen Übersetzung beitragen. Hierfür arbeiten wir eng mit den großen deutschen Übersetzerverbänden (ADÜ, BDÜ) zusammen. Wir konnten sie überzeugen, sich für Leichte Sprache zu öffnen und uns zu unterstützen. Wir möchten, dass viele Leichte-Sprache-Übersetzer in die Lage versetzt werden, Fachtexte angemessen in Leichte Sprache umzusetzen, damit das Projekt „Rechtstexte in Leichter Sprache" gelingen kann.

Die Fragen stellte Isa Lange.

Kontakt zur Forschungsstelle Leichte Sprache

Wer sich für Leichte Sprache interessiert, kann Prof. Dr. Christiane Maaß (christiane.maass@uni-hildesheim.de) und Isabel Rink (rinkis@uni-hildesheim.de) kontaktieren. Weitere Informationen findet man auf der Internetseite der Uni-Forschungsstelle sowie auf der Internetseite des NDR.


Professorin Christiane Maaß, Isabel Rink und weitere Mitarbeiterinnen der „Forschungsstelle Leichte Sprache“ der Universität Hildesheim. Sie möchten möglichst vielen Menschen die Chance geben, an Literatur teilzuhaben und arbeiten mit der Redaktion „Barrierefreie Angebote“ des Norddeutschen Rundfunks zusammen. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

Professorin Christiane Maaß, Isabel Rink und weitere Mitarbeiterinnen der „Forschungsstelle Leichte Sprache“ der Universität Hildesheim. Sie möchten möglichst vielen Menschen die Chance geben, an Literatur teilzuhaben und arbeiten mit der Redaktion „Barrierefreie Angebote“ des Norddeutschen Rundfunks zusammen. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim