Das offene Mikro: Hören, was geschrieben steht

Friday, 07. November 2014 um 13:07 Uhr

Ein Drittel aller Teilnehmer des wichtigsten deutschsprachigen Literaturwettbewerbs für junge Autorinnen und Autoren kommen aus Hildesheim. Sie lesen in Berlin beim „open mike“.

Wenn am Wochenende in Berlin die Lichter und Boxen für den „open mike“ hochfahren, dann werden Hildesheimer Stimmen – und Texte – zu hören sein. Kathrin Bach tritt im Bereich Lyrik an. Jenifer Johanna Becker, Anna Gräsel, Nora Linnemann, Pascal Richmann, Doris Anselm, Mareike Schneider und Michael Wolf stellen unveröffentlichte Prosa vor. Alle studieren oder studierten an der Universität Hildesheim im Bachelorstudiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ und/oder im Masterstudiengang „Literarisches Schreiben“ und Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis.

„Der Open Mike ist der wichtigste Entdeckerwettbewerb im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Die eingeladenen Autorinnen und Autoren knüpfen hier oft erste Agentur- oder Verlagskontakte, die in nicht wenigen Fällen zum ersten Buchvertrag führen. Gerade im schnelllebigen Literaturbetrieb der Gegenwart kommt solchen Entdeckerwettbewerben große Bedeutung zu. Alle renommierten Verlage und Agenturen schicken ihre Lektoren und Agenten zu diesem Wettbewerb, die Lesung kann dem unbekannten Autor die Tür in den Betrieb öffnen“, sagt Thomas Klupp, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hildesheim. Er forscht über deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989 und befasst sich mit Schreibprozessen.

Der open mike sei ein „Szene-Treff der jungen, deutschsprachigen Literatur“. Wie man sich darauf vorbereitet? Thomas Klupp erinnert sich an die Anfänge: Die Universität habe vor einigen Jahren – mehr zum Spaß und als Experiment – ein Seminar „Winning the Open Mike" angeboten. „Tatsächlich hat dann unser Student Juan Guse mit seinem Seminartext den Wettbewerb gewonnen. Aber prinzipiell ist so etwas nicht planbar“, sagt der Literaturwissenschaftler. Ohnehin werde am Literaturinstitut vielmehr Wert darauf gelegt, die Studierenden in ihren Schreibprozessen insgesamt zu unterstützen. „In Werkstätten und Mentoraten arbeiten wir intensiv an ihren Projekten, versuchen den individuellen Ton und den ganz eigenen literarischen Zugriff zu fördern, völlig unabhängig von dem Gedanken an unmittelbare Verwertbarkeit“, so Klupp.

Wie sich die jungen Autorinnen und Autoren auf ihre Lesung vorbereiten, welche Techniken sie anwenden, das ist sehr unterschiedlich. „Die eine, richtige Methode gibt es hier nicht“, sagt Klupp. „Die meisten Autoren lesen ihre Texte im Vorfeld einer solchen Veranstaltung sicher das ein oder andere Mal laut vor. Sich selbst oder auch dem Freundeskreis, der im Idealfall dann konstruktive Kritik übt.“

Neulich richtete sich der Literaturkritiker Helmut Böttiger im Deutschlandradio Kultur mit dem Vorwurf an die „Schreibschulen" in Hildesheim und Leipzig, hier entstünden „Romane aus dem Baukasten" und er beobachte eine thematische Austauschbarkeit. Der Literaturnachwuchs setze sich häufig „mit dem Elternhaus, den Geschwistern und der ersten Liebe auseinander“. Daraufhin entgegnete der Lektor und Journalist Patrick Hutsch, er halte wenig von der These, wonach Schreibschulen einen stilistischen Gleichklang junger Autoren beförderten. Inhaltliche Ähnlichkeiten, etwa die Häufung von Romanen über das Erwachsenwerden, begründet Hutsch im Deutschlandradio so: Es seien eben die prägenden Erfahrungen von Autoren in dieser Zeit: „Man sollte möglichst auch nur davon schreiben, was man selber auch nur annähernd sich vorstellen kann oder erfahren hat.".

Ähnlich sieht das Thomas Klupp, der selbst an der Hildesheimer Universität Kreatives Schreiben studiert und während dieser Zeit die Literaturzeitschrift „bella triste“ herausgegeben und das Literaturfestival „Prosanova“ mitorganisiert hat. „Lustigerweise werden solche Debatten meistens von Leuten geführt, die noch nie einen Fuß in eine Schreibschule gesetzt haben. Studiengänge wie jene in Hildesheim oder Leipzig sind einfach Orte, an denen junge, talentierte Schreiber zusammen kommen, die Lust haben, sich in einer produktiven Atmosphäre praktisch mit Literatur zu beschäftigen. Da kommen völlig verschiedene Typen und Temperamente zusammen, die völlig verschiedene Sachen schreiben. Inhaltlich wie auch formal. Tatsächlich ist diese Idee von einer institutionellen ‚Uniformierung‘ des Schreibens völliger Unsinn. Dazu genügt ein kurzer Blick in die Romane von Autorinnen und Autoren wie Leif Randt, Juli Zeh, Sasa Stanisic oder Sabrina Janesch. Unterschiedlicher und vielfältiger kann Literatur gar nicht sein“, kommentiert Klupp die Debatte über den Sinn und Unsinn von Schreibschulen.

Das Interesse von jungen Menschen, Kreatives Schreiben zu studieren, ist ungebrochen. Im Oktober 2014 haben rund 40 Studierende das Studium im Bereichen Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus sowie Literarisches Schreiben aufgenommen. Die Studierenden kommen von überall her – aus der Schweiz, aus Hamburg, aus Köln und Dresden, aus Regensburg und Liechtenstein. „Ein geographischer Schwerpunkt lässt sich nicht feststellen“, so Klupp.

Junge deutschsprachige Prosa und Lyrik

Die Literaturwerkstatt Berlin und die Crespo Foundation schreiben den „open mike – Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik“ seit 1993 jährlich aus. Entstanden ist so einer der wichtigsten Literatur-Nachwuchswettbewerbe im deutschsprachigen Raum. Viele bekannte Autoren haben ihre Karriere beim open mike gestartet, unter anderem Zsuzsa Bánk, Karen Duve, Julia Franck, Terézia Mora, Tilman Rammstedt, Kathrin Röggla, Jochen Schmidt und Ulf Stolterfoht. Über 11.000 Autorinnen und Autoren haben sich im Laufe der Jahre beworben. Seit einigen Jahren liegt der Schnitt konstant bei 650-700 eingesandten Texten. Im Finale hat jeder der 22 Nachwuchsautoren 15 Minuten Zeit, um die Jury zu überzeugen. Dann klingelt der Wecker. Über die drei Preisträger entscheiden die Juroren Andreas Maier, Marion Poschmann und Björn Kuhligk. Einer der Preise wird für Lyrik vergeben. Für die Preisträger steht eine Gewinnsumme von insgesamt 7500 Euro zur Verfügung. Außerdem wird der Preis der taz-Publikumsjury verliehen. In diesem Jahr findet der Literaturwettbewerb vom 7. bis 9. November im Heimathafen Neukölln in Berlin statt.

Hildesheimer Studierende und Absolventen beim open-mike 2014:

  • Kathrin Bach (Diplom Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus, 2012 abgeschlossen, Lyrik)
  • Jenifer Johanna Becker (M.A. Literarisches Schreiben, abgeschlossen im Herbst 2014, Prosa)
  • Anna Gräsel (B.A. Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus)
  • Nora Linnemann (B.A. Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus, abgeschlossen im Herbst 2014, Prosa)
  • Pascal Richmann (B.A. Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus, 5. Semester, Prosa)
  • Mareike Schneider (Diplom Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus, 2013 abgeschlossen, Prosa)
  • Michael Wolf (B.A. Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus, 3. Semester, Prosa)
  • Doris Anselm (Studium der Kulturwissenschaften in Hildesheim, Diplomarbeit über Wertung in Literaturkritik von Tageszeitungen)

Ergebnisse

Beide Prosa-Preise der Jury gehen an ehemalige Studentinnen aus Hildesheim, wie Alina Herbing am Sonntag mitteilte: Doris Anselm, die Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis studierte, galt mit ihrem Text  „Die Krieger des Königs Ying Zheng" schon nach dem ersten Tag als Favoritin und erhielt den 1. Preis. Mareike Schneider, Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus, las am zweiten Tag und erhielt den 2. Preis für ihren Text  „Die Holzmieten". Damit zählen Studierende der Universität Hildesheim schon im dritten Jahr in Folge zu den Gewinnern des wichtigsten deutschen Literaturwettbewerbs für junge Autorinnen und Autoren. Ein Team um Guido Graf vom Online-Portal Litradio berichtet vom open mike, alle Lesungen kann man online nachhören.

Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus studieren

Das Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft der Universität Hildesheim gehört neben dem Deutschen Literaturinstitut Leipzig, dem Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und dem Institut für Sprachkunst der Universität für angewandte Kunst in Wien zu den einzigen Universitäts-Instituten im deutschsprachigen Raum, an denen Studentinnen und Studenten in Bachelor- und Master-Studiengängen in Theorie und Praxis des Kreativen und Literarischen Schreibens umfassend unterrichtet und ausgebildet werden.

Nicht entweder oder, in Hildesheim kombinieren sie die gedruckte und digitale Welt Während die einen Studierenden das komplexe Feld der Buchproduktion und Verlagswelt erproben – und etwa die Zeitschrift für junge Gegenwartsliteratur „BELLA triste“ herausgeben –, befassen sich andere mit digitaler Medienproduktion, berichten auf dem Online-Portal litradio.net vom literarischen Geschehen und brechen übliche Sendeformate auf. Alle drei Jahre organisieren Studierende „Prosanova“, das größte Festival für junge deutschsprachige Gegenwartsliteratur. 


Austauschbare Romane aus dem Baukasten? Zur Debatte über den Sinn und Unsinn von Schreibschulen sagt der Literaturwissenschaftler Thomas Klupp: „Bei uns kommen völlig verschiedene Typen und Temperamente zusammen, die völlig verschiedene Sachen schreiben." Er lehrt Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim. Foto (Kulturcampus, Schreiben): Isa Lange/Uni Hildesheim

Austauschbare Romane aus dem Baukasten? Zur Debatte über den Sinn und Unsinn von Schreibschulen sagt der Literaturwissenschaftler Thomas Klupp: „Bei uns kommen völlig verschiedene Typen und Temperamente zusammen, die völlig verschiedene Sachen schreiben." Er lehrt Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim. Foto (Kulturcampus, Schreiben): Isa Lange/Uni Hildesheim

Austauschbare Romane aus dem Baukasten? Zur Debatte über den Sinn und Unsinn von Schreibschulen sagt der Literaturwissenschaftler Thomas Klupp: „Bei uns kommen völlig verschiedene Typen und Temperamente zusammen, die völlig verschiedene Sachen schreiben." Er lehrt Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim. Foto (Kulturcampus, Schreiben): Isa Lange/Uni Hildesheim