Corona – und dann? Entwicklungspsychologe Prof. Dr. Werner Greve über den Umgang mit kritischen Lebensereignissen

Thursday, 17. June 2021 um 07:17 Uhr

Prof. Dr. Werner Greve befasst sich in der Forschung seit vielen Jahren mit der Frage, wie wir mit Wendepunkten im Leben umgehen. Der Entwicklungspsychologe der Universität Hildesheim spricht im Interview über die COVID-19-Pandemie. Wer sich darin übt, andere Perspektiven einzunehmen, kann neue Kraft schöpfen oder sogar Wege aus einer persönlichen Krise finden, sagt Greve. Das Interview ist Teil der crossmedialen Serie „Corona – und dann? Wie es perspektivisch weitergehen kann“.

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„Corona – und dann? Wie es perspektivisch weitergehen kann“
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Der Psychologe Prof. Dr. Werner Greve ist seit 2001 Professor am Institut für Psychologie der Universität Hildesheim. Sein Arbeitsgebiet ist die Entwicklungspsychologie, hier forscht Greve insbesondere zum Umgang mit belastenden oder kritischen Lebensereignissen und wie sich Lebensläufe verändern. Greve befasst sich mit der Frage, warum manche Menschen angesichts von kritischen Lebenserfahrungen Resilienz zeigen und trotz belastender Erfahrungen psychisch stabil bleiben.

Interview mit dem Entwicklungspsychologen Prof. Dr. Werner Greve

Herr Professor Greve, wie blicken Sie als Entwicklungspsychologe auf die COVID-19-Pandemie?

Ich glaube, dass die Pandemie für jede und jeden Einzelnen – und vielleicht auch für uns als soziale Gemeinschaft – die Chance bietet, die kritische Lebensereignisse immer bieten. Mit kritischen Lebensereignissen meinen wir nicht, dass es negative Ereignisse sind. Sondern an kritischen Lebensereignissen entscheidet sich etwas; manchmal müssen wir auch etwas entscheiden – zum Beispiel, wie wir weiterleben wollen. Ein paar Sachen werden wir vermutlich wieder wie vorher machen: natürlich feiern, Gäste einladen, uns umarmen. Aber Einiges werden wir vielleicht anders handhaben, zum Beispiel die tägliche Hygiene ernster zu nehmen und vielleicht mit den Masken noch eine ganze Weile zu leben.

Ich habe die Hoffnung, ich glaube sogar die Erwartung, dass wir zumindest für eine ganze lange Weile aufmerksamer sind für die Kontakte und was sie uns bedeuten. Gerade weil wir uns lange nicht physisch haben sehen, berühren und umarmen können, ist uns vielleicht bewusster geworden, was uns dieser Kontakt, was uns Begegnung bedeutet. Und meine große Hoffnung wäre, dass wir daraus etwas für die Zukunft mitnehmen können, so dass das kritische Lebensereignis COVID-19 eines war, das auch positive Effekte hat.

„Ich habe die Erwartung, dass wir für eine ganze lange Weile aufmerksamer sind für Kontakte und was sie uns bedeuten.“

Inwieweit ist die COVID-19-Pandemie aus entwicklungspsychologischer Sicht ein Wendepunkt?

Corona ist ein Wendepunkt im Leben für unterschiedliche Personen geworden, denken wir an Kulturschaffende und ihre existentiellen Sorgen; an Unternehmerinnen und Unternehmer im Einzelhandel und in der Gastronomie; ein junges Start-Up, das vor der Krise gegründet wurde und sich nun Sorgen um die Zukunft macht; an Menschen, die Angehörige verloren haben. Mit all diesen Krisen müssen die Personen als Einzelne individuell umgehen und wir müssen gleichzeitig mit jenen Personen umgehen, die die Krise als existentielle Lage erfahren. Wie fangen wir zum Beispiel jene ein, die Vetrauen in den Staat verloren haben?

„Es ist eine große Hilfe, wenn es einem gelingt, auf ein solches kritisches Ereignis aus mehr als einer Richtung zu schauen.“

Sie befassen sich in Ihrer Forschung mit dem Umgang mit kritischen und belastenden Lebensereignissen. Was gilt es für die Zeit nach Corona zu beachten?

Der wichtigste Befund, den wir seit vielen Jahren in ganz unterschiedlicher Weise sehen, ist, dass es eine große Hilfe ist, wenn es einem gelingt, auf ein solches kritisches Ereignis aus mehr als einer Richtung zu schauen. Diejenigen, die ihre Lage aus möglichst vielen Blickwinkeln betrachen, um ihr auch gute Seiten abzugewinnen, können ihre psychische Gesundheit besser bewahren oder wiedererlangen. Der entscheidende Punkt ist, dass wir nicht nur mit der rosaroten Brille auf das Ereignis schauen. Sondern, dass wir realisieren und zugeben und uns eingestehen, dass es eine belastende Seite an diesem Ereignis gab: der Verzicht, die Sorgen – viele von uns haben auch ernsthafte Schwierigkeiten, Angehörige verloren oder sehr viel Angst gehabt. Aber es gilt, auch die anderen Seiten zu sehen, zum Beispiel die Aufmerksamkeit füreinander, der Zusammenhalt, kleine und große Gesten im Miteinander. Der springende Punkt ist, dieses heterogene Bild, diese unterschiedlichen Perspektiven, im Kopf zu nutzen und zu fragen: Was kann ich daraus mitnehmen? Das finden wir in individuellen kritischen Lebensereignissen, also sagen wir bei einem Unfall, einer Diagnose, einer Trennung. Und ich glaube, dass wir das auch bei kollektiv erlebten kritischen Lebensereignissen – dieses Jahr war sicher so eines – sehr gut nutzen können. Wer sich darin übt, andere Perspektiven einzunehmen, kann neue Kraft schöpfen oder sogar Wege aus einer persönlichen Krise finden. Die meisten Menschen haben mehr psychische Ressourcen für die Krisenbewältigung als ihnen bewusst sei.

Sie plädieren dafür, die Krise aus möglichst vielen Blickwinkeln zu betrachten. Inwiefern können wir unsere psychische Gesundheit in der Krisenbewältigung bewahren?

Ein Aspekt, mit dem man sich seine eigenen Perspektiven vermehren kann, ist, mit möglichst unterschiedlichen Leuten über diese Krisen zu reden. Also nicht immer nur mit denselben Personen, die ähnliche Sichten haben wie ich oder deren Sicht ich seit Langem kenne. Sondern auch mit anderen Menschen, die auch eine andere Sicht haben; das könnte ja auch eine kritischere oder skeptische Sicht sein – ohne dass ich deren Sicht übernehmen muss. Aber es könnte ein Weg sein, um zu sagen: „Ach guck mal, aus dieser Perspektive habe ich auf das Ereignis noch gar nicht geschaut."

Je mehr dieser unterschiedlichen Perspektiven ich sammeln, nachvollziehen, verstehen kann, desto weniger wird eine Perspektive mein Empfinden dominieren. Desto geringer ist die Chance, dass zum Beispiel eine Belastungsperspektive meine Stimmung drückt oder vielleicht sogar ernsthafte Probleme mit sich zieht. Dann wird die Bilanz gemischter, und gemischter bietet mehr Chancen.

Wie haben Sie die Pandemie als Lehrender erfahren und welche Überlegungen hat die Krise bei Ihnen angestoßen? Welche Chancen sehen Sie innerhalb der Lehre an der Universität Hildesheim?

Das ist eine richtig gute Frage und ein Beispiel für das, was wir gerade abstrakt besprochen haben. Natürlich gibt es traurige, auch belastende Momente; ich habe mit Studierenden Gespräche geführt, die sehr bedrückt und manche auch im Einzelfall verzweifelt waren. Ich habe in Seminaren den Austausch, die Diskussion, das Lachen, aber auch die Skepsis in den Gesichtern der Studierenden vermisst. Aber ich muss auch sagen, dass ich ein paar Seminar- und Lehrformate digital versucht habe, die ich sonst vielleicht niemals umgesetzt hätte, ohne es zu müssen. Das eine oder andere werde ich vermutlich in den kommenden Jahren wieder versuchen, um zu schauen, was ich daraus lernen kann. Dadurch, dass ich meine Vorlesung nicht mehr in der gewohnten Weise halten konnte, bin ich auf Einiges aufmerksam geworden, was ich im Kopf behalten werde.

„Was mich sehr berührt hat in diesem ganzen langen zurückliegenden Jahr: Die Universität und alle ihre Gruppen haben sich sehr eindrucksvoll solidarisch verhalten.“

Ich glaube, dass der Kontakt mit den Studierenden für eine längere Zeit aufmerksamer, feinfühliger sein wird. Wir freuen uns total darauf, mit den Studierenden wieder physisch beisammen zu sein. Und es gibt noch einen echten Gewinn aus dieser Krise, der ohne diese Krise niemals passiert wäre: Ich habe unglaublich viel über digitale Formate der Lehre gelernt. Die vielen Programme, Applikationen und Plattformen mussten jetzt gelernt werden; ich hätte sie sonst ganz bestimmt vermieden, als alter Drückeberger. Viele davon sind so praktisch und nützlich. Das ist ein Teil des Geschenks. Aber damit will ich nicht kleinreden, dass die Pandemie eine Krise war und eine Belastung war.

Was mich sehr berührt hat in diesem ganzen langen zurückliegenden Jahr: Die Universität und alle ihre Gruppen – von den Studierenden über den akademischen Mittelbau und die Verwaltung bis hin zum Präsidium – haben sich sehr eindrucksvoll solidarisch verhalten. Es gab natürlich Kritik an einzelnen Entscheidungen, an einzelnem Timing, nicht alles hat von Anfang an geklappt, natürlich nicht. Aber meine Wahrnehmung alles in allem war, dass wir uns sehr solidarisch an der Universität Hildesheim verhalten haben und das ist nicht selbstverständlich. Mein Gefühl von Dankbarkeit betrifft nicht zuletzt diesen Aspekt.

Herr Professor Greve, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Isa Lange.


Professor Werner Greve forscht und lehrt am Institut für Psychologie der Universität Hildesheim. Foto: Isa Lange