Auffangen, bevor sie fallen

Tuesday, 10. February 2015 um 18:21 Uhr

Was für ein Verlust von Lebenszeit, Steuern und Talent. Scheitern muss erlaubt sein, aber die hohen Studienabbrecherzahlen sind ein Skandal. Viele Projekte zielen auf Reparatur statt auf Prävention, schreibt Marion Schmidt in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Sie fordert von den Universitäten: Lasst sie nicht fallen! Eine Antwort aus Hildesheim.

Ein Viertel Jahr nach Studienbeginn heißt es für manche Studienanfänger derzeit: Habe ich eigentlich das Richtige gewählt? Nach den ersten Wochen an der Universität kehren viele über die Feiertage und nun in der vorlesungsfreien Zeit zurück zu ihren Familien – und landen oft bei Martin Scholz und seinem Team. Das Frühjahr ist eine Hochphase in der Studienberatung der Universität Hildesheim. Sprechstunden sind dann stark nachgefragt. „Das Konstrukt wackelt bei einigen, sie sind sich unsicher, ob sie das Richtige studieren und wo es beruflich hingehen soll. Und in dieser Phase kommt das Eigenständigwerden hinzu, die erste eigene Wohnung, ein Ortswechsel, sie müssen neue Freunde finden und verlieren bisherige Bezugssysteme. Sie tragen alleinige Lebensverantwortung – vom Kleiderwaschen bis zur Bezahlung von Rechnungen. Da braut sich bei manchen jungen Erwachsenen etwas zusammen", so Martin Scholz. Der Leiter der Studienberatung nennt das „psychosozialen Arbeitsberg". Einigen ist das zu viel in zu kurzer Zeit, sie reagieren mit Studienabbruch.

Kein 100-Meter-Lauf mit kurzfristigen Leistungsspitzen – Martin Scholz vergleicht das Studium heute mit einem Marathon, mit andauernden Anforderungen in jedem Semester. Die Studierenden möchten ankommen, sie starten in das Studium, um einen Abschluss zu bekommen und erfolgreich zu sein. „Für manche ist es schon ein Drama, über der Zeit zu sein und ein Semester länger zu studieren." Doch warum bleiben einige auf der Strecke, brechen ab?

Die Abbrecherquoten sind trotz aller Bemühungen in den letzten Jahrzenten relativ stabil. Bund und Länder haben Ende des Jahres den dritten Hochschulpakt beschlossen. Bis 2020 erhalten die Hochschulen Gelder für zusätzliche Studienplätze. Neu ist: 10 Prozent der Mittel sollen in Maßnahmen fließen, die gezielt Studienabbrüche verhindern sollen. „Jetzt muss es darum gehen, die Mittel richtig einzusetzen“, heißt es in einem Schwerpunktartikel in der Wochenzeitung DIE ZEIT („Lasst sie nicht fallen!", 53/2014). Viele Projekte seien oft nur befristet und zielten mehr auf Reparatur ab statt auf Prävention.

Wie können Hochschulen reagieren, bevor ihnen Studierende, „verloren gehen“? Manche Studentinnen und Studenten kommen – trotz Informationstagen und Beratungsangeboten – mit falschen Annahmen an die Universität, etwa: „Mathe im Grundschullehramt ist Kindermathematik“. Im Studium erfahren die Lehramtsstudierenden, dass die Fachwissenschaft, von Algebra und Geometrie über Analysis bis zur Stochastik, neben Didaktik und Schulpraxis zum Kernbestandteil gehört. „Viele Studienanfänger haben Schwierigkeiten selbst mit einfachen mathematischen Routinen wie der Bruch- und Prozentrechnung oder dem Dreisatz, im Umgang mit Variablen und bei Termumformungen“, sagt Professor Jürgen Sander. Der Zahlentheoretiker ist Vizepräsident für Lehre und Studium und hat damit die Studienabbrecher im Blick. „Es kommt darauf an, den für viele Studienanfänger mit Fach Mathematik schwierigen Übergang von der Schule zur Universität zu erleichtern“, sagt er. Gemeinsam mit Barbara Schmidt-Thieme, Professorin für Mathematik und ihre Didaktik, und Stochastikprofessor Thomas Richthammer möchte er Wackelkandidaten frühzeitig entdecken.

Anstatt den jungen Erwachsenen in einem Zwei-Wochen-Vorkurs lediglich die für das Studium notwendigen schulischen Vorkenntnisse vor Augen zu führen und sie danach sich selbst zu überlassen, hat das Matheteam ein „Brückenjahr" geschaffen – und damit die an vielen Unis inzwischen üblichen „Brückenkurse" erweitert. Studienanfänger erhalten im ersten Jahr in Hildesheim neben den Standardveranstaltungen besondere Unterstützung. Jeden Freitag sind die Studierenden im ersten Studienjahr im Klassenzimmer und erfahren, was zum Schulalltag und Lehrerberuf gehört. Nach dem zweiwöchigen Mathe-Vorkurs vor Studienbeginn folgen individuelle Beratungsgespräche, es gibt einen wöchentlichen Übungsmarkt mit Tutoren und Workshops zur Wiederholung mathematischer Grundlagen sowie Projekttage ohne Notendruck.

„Zu Beginn erfahren unsere Studierenden, was wir von ihnen erwarten und was sie können müssen. Mathekenntnisse werden geprüft und einzeln zurückgemeldet. Die individuelle Begleitung und Rückmeldung ist wichtig“, erklärt Schmidt-Thieme. Das ist aufwendig, um die Betreuung zu leisten, investiert das Matheinstitut im ersten Studienjahr auch schon einmal mehrere Stunden pro Student über den normalen Betreuungsaufwand hinaus. Das sei eine Investition in die Zukunft, denn dieser Mehraufwand zahlt sich in den höheren Semestern aus. So haben Studienanfänger auch die Chance, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt das Studienfach zu wechseln. „Erst nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Fach auf universitärem Niveau sollten sich einige eingestehen: Das schaffe ich nicht. Dann ist ein Abbruch oder Fachwechsel klug. Den Anderen zeigen wir Hilfen auf, wie sie ihre Defizite durch verstärkten Arbeitseinsatz beseitigen können“, sagt Sander.

Jeder Mathestudent nimmt mindestens einmal pro Semester im Bachelorstudium an einem Grundlagentest teil. Das Signal soll sein: „Wir meinen das ernst, ihr müsst die mathematischen Grundlagen dauerhaft drauf haben. Die kommen immer wieder." Wer den Test nicht besteht, wird nicht zur Klausur zugelassen. Es gibt eine Palette an Möglichkeiten, zu üben: mit den Mentoren, in studentischen Arbeitsgruppen oder auch mittels Online-Aufgaben. Zehn Lehrende haben Aufgaben zu schulischen Grundlagen ins Netz gestellt – die Studierenden können sich jederzeit einloggen und üben. Im zweiten Semester können Studierende an der „Mathe-Hütte“ teilnehmen. Während dieser dreitägigen Exkursion erarbeiten studentische Kleingruppen eigenständig ein mathematisches Thema und stellen das Erlernte den anderen Teilnehmern vor. Zum Ende des ersten Studienjahrs folgt ein weiteres Beratungsgespräch, um Resümee zu ziehen und Warnungen an Studierende auszusprechen, die ihre Schwierigkeiten selbst nicht wahrnehmen, so Sander. Spätestens nach einem Jahr soll so für alle Beteiligten feststehen, ob der Beruf des Mathe-Lehrers für den Studierenden wirklich die richtige Perspektive ist, oder eine Alternative angeboten werden. Die Universität Hildesheim bildet mit derzeit etwa 2900 Studierenden ein Drittel aller niedersächsischen Grund-, Haupt- und Realschullehrer aus, darunter über 700 angehende Mathematik-Lehrkräfte. „Eine große Verantwortung, schließlich unterrichten unsere Studierenden über viele Jahre künftige Schülergenerationen“, sagt Sander.

Auch in anderen Fächern – etwa Technik – versuchen Lehrende durch begleitende Tutorien in den ersten beiden Semestern das Abbrechen zu verhindern. Der „Schwund" im Fach Technik sei unauffällig, sagt Professor Jürgen Rüdiger Böhmer. „Wirkliche Abbrecher gibt es wenige, seit wir einen erheblichen Aufwand mit jedem einzelnen Studierenden realisieren.“ Dazu gehöre das Kennenlernen im Arbeitswissenschaftlichen Seminar, eine Tutorenbetreuung in Praktika und in „offenen Werkstätten", die besonders gut angenommen werde, so Böhmer. Auch die Physikvorlesungen von Professorin Ute Kraus  werden von Tutoren begleitet. „Eine Fachstudienberaterin berät jederzeit individuell und hilft bei der Studienplanung.“

Das ist die fachliche Seite. Doch allein die Studieninhalte zu betrachten wäre verkürzt, sagt Martin Scholz, der seit Kurzem Vorsitzender der bundesweiten Vereinigung der Studienberater ist. „Viele Studierende kommen mit hohen verinnerlichten Leistungserwartungen an die Hochschule und setzen sich unter Druck. Sie gehen davon aus, dass spätere berufliche Chancen davon abhängen, dass sie ihr Studium schnell, möglichst zielstrebig und geradlinig absolvieren müssen", heißt es in einer aktuellen Stellungnahme. Viele würden sich „kaum Toleranz für Eingewöhnungsschwierigkeiten, Misserfolge und Umwege zugestehen. Der Raum für Persönlichkeitsentwicklung ist extrem eingeengt". Die Studienstrukturen seien „stark ausgerichtet auf Studierende, die ihr gesamtes Zeitpensum für das Studium aufwenden und unter optimalen materiellen und persönlichen Rahmenbedingungen am Studienerfolg arbeiten können". Studierende, die phasenweise durch Krankheit eingeschränkt sind, das Studium mit Familie oder Erwerbsarbeit vereinbaren müssen, kommen zu kurz. Die Diversität der Studierenden werde bislang unzureichend beachtet. Sorge bereitet den Studienberatern, dass auf den gestiegenen Bedarf an psychologischer und psychosozialer Beratung bisher kaum reagiert worden ist. Mithilfe von Coachings zur Stressbewältigung sowie Unterstützung bei der Studienorganisation und Prüfungsvorbereitung können Studierende in die Lage versetzt werden, den Anforderungen des Hochschulsystems besser gerecht zu werden, heißt es.

Wie achten Studierende auf ihre Gesundheit, wie entspannen sie, wie gehen sie mit Stress um, nehmen sie leistungssteigernde Mittel? Es gibt erstaunlich wenige Daten über Gesundheit im Studium. Verlässliche Zahlen für einen Standort fehlen. Daher hat ein Team um Psychologieprofessorin Renate Soellner das Gesundheitsmonitoring „healthy@uni-hildesheim“ gestartet. Die ersten Ergebnisse für die Universität Hildesheim liegen vor, im Februar 2015 läuft die nächste Erhebung (Studierende können aktuell teilnehmen, und bei Rückfragen eine E-Mail an die Forscherinnen senden: healthy@uni-hildesheim.de).

Renate Soellner, die sich mit Suchtfragen befasst und in einer Forschergruppe den Alkoholkonsum von Jugendlichen in europäischen Ländern untersucht hat, sagt: „Der psychische Druck ist für manche Studierende immens. Konkurrenz, das Gefühl von Belastung und Prüfungsangst gehören für viele zum Studienalltag." Ein Blick in die Ergebnisse für Hildesheim zeigt: Ein Viertel (1838) der 6592 Studierenden hat an der Studie teilgenommen, im Durchschnitt sind die Studierenden 23,7 Jahre alt, der jüngste Teilnehmende ist 16, der älteste 62 Jahre. 95 Prozent der Befragten haben keine Kinder, wenn doch dann mehrheitlich ein oder zwei. Sie pflegen nur selten einen Angehörigen (5 Prozent). Zwei Drittel der Befragten wohnen in Hildesheim. Die meisten finanzieren ihr Studium aus unterschiedlichen Quellen, die Eltern (66 Prozent) und der eigene Verdienst (49 Prozent) stehen an erster Stelle. Die Studierenden konnten zudem angeben, ob sie mit ihrem Studium zufrieden sind. Die Mehrheit der Studierenden sind mit ihren Studienleistungen (55.6%) und ihrer Studiensituation insgesamt (43.4%) „sehr oder eher zufrieden“. Die Rahmenbedingungen ihres Studiums werden zu etwa gleichen Teilen als eher zufriedenstellend (36.4%) eher neutral (35.3%) oder als eher unzufriedenstellend (28%) beurteilt. Gleichzeitig erleben über 50% der Hildesheimer Studierenden ihr Leben zum Befragungszeitpunkt jedoch als „ziemlich“ oder „sehr“ stressig.

Was erwartet mich an der Uni? Studierende wie Carola Hogrefe geben Einblicke. Foto: Lange/Uni Hildesheim

Übergänge begleiten: Studierende sind Anker im Uni-Alltag

Seit 2012 berichten Studierende in Schulen, Freizeitheimen und Stadtteilen aus dem Uni-Alltag. Die „Anker-Peers" beraten vor und während des Studiums. Dabei wollen sie auch Schülerinnen und Schüler erreichen, die als erste in ihrer Familie den Weg zur Universität einschlagen. Es geht nicht allein um die Beantwortung der gestellten Fragen, sagt Carola Hogrefe, die auf dem Kulturcampus der Uni Philosophie, Künste und Medien studiert. „Wenn wir nach der Studienortswahl gefragt werden, dann kann dahinter auch die Sorge vor Veränderungen stecken. Wir haben diese Unsicherheiten selbst durchgemacht und sind für diese versteckten Fragen sensibel", sagt die studentische Beraterin. Etwa zehn Besuche stehen pro Semester in der Region an. Die studentischen Beraterinnen und Berater kennen die Unterstützungsprogramme – Bafög- und psychosoziale Beratung, Hilfe bei Prüfungsangst oder wissenschaftlichem Arbeiten – und können darauf verweisen.

Sie wollen „Anker" sein, haben einen eigenen Beratungsraum am Hauptcampus. Flyer, eine Zusammenarbeit mit dem lokalen Radio Tonkuhle, ein Internetauftritt und Aktionen wie „Rent a Peer" entstanden. Dabei können sich Erstsemester einen Studierenden ‚leihen‘, um sich an der Universität zurechtzufinden oder den eigenen Stundenplan zu erstellen. In theaterpädagogischen Workshops kommen sie auf spielerische Weise mit Jugendlichen über das Studieren ins Gespräch. Mit dem Beratungsangebot sollen Jugendliche frühzeitig bei der Studienwahl unterstützt werden – vor allem jene, die mit dem Bewerbungsverfahren noch nicht vertraut sind und keine Geschwister oder Eltern haben, die aus dem Studienalltag berichten können, sagt Martin Scholz von der Studienberatung der Universität Hildesheim. Alle studentischen Berater werden regelmäßig geschult. „Sie kennen ihre Grenzen der Beratung. Zunächst klären sie das Anliegen des Ratsuchenden, oft können sie aus eigenen Erfahrungen berichten." 

Das Programm wurde vom Niedersächsischen Wissenschaftsministerium gefördert und wird seit Anfang 2014 von der Universität aus Eigenmitteln fortgeführt. Es ist normal, sich Hilfe zu holen. Beratung sei ein alltägliches Unterstützungsangebot, sagt Scholz: „Jeder Fußballer hat einen Mentalcoach. Es sollte normal sein für Studierende, Beratung anzunehmen. Dabei wollen wir nicht einzelne Gruppen separieren und nach spezifischen Hintergründen trennen.“

Aus dem Leitbild der Universität

Im Leitbild – ein Orientierungsrahmen für das Handeln im Alltag – geht die Hochschule im Schwerpunkt „Studierendenuniversität“ auf die Betreuung von Studierenden ein, wenn es heißt: „Die Universität Hildesheim versteht das Studium als Zeit einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung. Sie legt deshalb großen Wert darauf, die Studierenden fachlich und persönlich zu betreuen und zu fördern. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verstehen sich als Ansprech- und Diskussionspartner der Studierenden und im Bereich der Lehre als deren Mentoren.“

Eine Vorlesung in Theaterwissenschaften auf dem Kulturcampus Domäne Marienburg. Foto: Andreas Hartmann

Medienkontakt: Kontakt zu Studierenden und Lehrenden über die Pressestelle (Isa Lange, 05121.883-90100 und 0177.8605905, presse@uni-hildesheim.de)


Wie können Hochschulen reagieren, bevor Studierende, „verloren gehen“? Mathematiker der Universität Hildesheim begleiten Studienanfänger im gesamten ersten Studienjahr. Zum Team, das mathematische Grundlagen bei Erstsemestern auffrischt, gehören auch die Lehramtsstudierenden Christina Wollschläger und Björn Westphale und Professor Jürgen Sander. Studienberater Martin Scholz setzt auf studentische Berater, die vor dem Studium einen realistischen Einblick in den Studienalltag geben. Fotos: Hartmann, Lange/Uni Hildesheim

Wie können Hochschulen reagieren, bevor Studierende, „verloren gehen“? Mathematiker der Universität Hildesheim begleiten Studienanfänger im gesamten ersten Studienjahr. Zum Team, das mathematische Grundlagen bei Erstsemestern auffrischt, gehören auch die Lehramtsstudierenden Christina Wollschläger und Björn Westphale und Professor Jürgen Sander. Studienberater Martin Scholz setzt auf studentische Berater, die vor dem Studium einen realistischen Einblick in den Studienalltag geben. Fotos: Hartmann, Lange/Uni Hildesheim

Wie können Hochschulen reagieren, bevor Studierende, „verloren gehen“? Mathematiker der Uni Hildesheim begleiten Studienanfänger im gesamten ersten Studienjahr. Zum Team, das mathematische Grundlagen bei Erstsemestern auffrischt, gehören auch die Lehramtsstudierenden Christina Wollschläger und Björn Westphale und Professor Jürgen Sander. Studienberater Martin Scholz setzt auf studentische Berater, die vor dem Studium einen realistischen Einblick in den Studienalltag geben. Fotos: Hartmann, Lange/Uni Hildesheim

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