0,2 % beteiligen sich am Bürgerhaushalt

Saturday, 05. October 2013 um 08:17 Uhr

Nach der Bundestagswahl – nicht jeder durfte wählen. Bürgerhaushalte bieten eine Plattform für Mitsprache – auch Unter-18-Jährige und Migrantinnen und Migranten ohne Wahlberechtigung können Vorschläge in ihrer Region einbringen. Doch sie beteiligen sich kaum. Nur 0,2 % aller Bürger nahmen in der ersten Runde in Hildesheim teil. Politikwissenschaftler der Universität Hildesheim untersuchen neue Formen der Bürgerbeteiligung.

Mit neuen Formen der Bürgerbeteiligung entstehen neue Aufgaben und Chancen für die Politische Bildung. „Für Bürgerinnen und Bürger, die von den ‚klassischen‘ Formen der Teilhabe wie Wählen ausgeschlossen sind – zum Beispiel Unter 18-Jährige und Migrantinnen und Migranten –, können Bürgerhaushalte Plattformen für mehr Mitsprache darstellen. Sollen sich Bürger in die politische Willensbildung und in Entscheidungsprozesse einbringen, sollte ihnen aber das ‚Handwerkszeug‘ demokratischer Partizipation vermittelt werden“, sagt Prof. Dr. Marianne Kneuer von der Universität Hildesheim.

Die Politikwissenschaftlerin beobachtet einen „wachsenden Wunsch der Bürger, an ‚nahen‘ politischen Entscheidungen stärker teilhaben zu wollen“. Ein markantes Ereignis sind die Proteste rund um Stuttgart 21. „Bürger möchten eine Stimme haben bei Entscheidungen, die sie direkt betreffen, wie etwa kommunale Planung und Großprojekte.“ Es gehe nicht mehr um das „Ob“ von mehr Bürgerbeteiligung, sondern um das „Wie“, sagt Kneuer.

Die Stimme der Bürger

Seit den 90er Jahren entstehen bundesweit Bürgerhaushalte, in denen Bürgerinnen und Bürger über bestimmte Teile des kommunalen Haushaltes mitbestimmen und sich über die Verwendung der Mittel verständigen können. Sie können Vorschläge einreichen – ohne Garantie auf Umsetzung. Die Stadtverwaltung begleitet diese Prozesse. Inzwischen wird der Bürgerhaushalt, der seine Ursprünge in Brasilien hat, in 100 deutschen Kommunen erstmals oder wiederholt durchgeführt.

Doch die Erfahrungen sind gemischt. „Nicht selten sind alle Seiten enttäuscht: Die politischen Akteure – der Stadtrat – empfinden die Qualität der Bürgervorschläge oft als unzureichend. Für die Bürger ist es unbefriedigend zu erleben, wenn nur wenige Vorschläge vom Stadtrat angenommen werden. Besonders engagierte Bürger sind frustriert wegen niedriger Beteiligungsraten“, beobachtet Marianne Kneuer. „Neue Arrangements der Mitsprache können nicht von heute auf morgen perfekt funktionieren. Alle Beteiligten stehen vor Lernprozessen.

Das wurde auch in Hildesheim sichtbar. Politikwissenschaftler der Universität Hildesheim begleiten den Prozess seit 2012 wissenschaftlich. „Die ersten Erfahrungen sind gemischt. Mit dem ‚lesbaren Haushalt‘ – in verständlicher Sprache – wurde die kommunale Finanzplanung transparenter. Der Bürgerhaushalt ist nicht nur eine Möglichkeit, sich als Bürger an der kommunalen Finanzplanung zu beteiligen, er dient auch als Sprachrohr für die Bürgerschaft, um konkrete Bedürfnisse an die Politik heranzutragen" sagt Katia Schnelle. Die Hildesheimer Lehramtsabsolventin hat ihre Masterarbeit über neue Partizipationsformen auf kommunaler Ebene verfasst, beobachtete die Treffen des Arbeitskreises und Bürgerversammlungen, sprach mit den Beteiligten aus der Verwaltung, Mitgliedern des Stadtrats und Bürgern. Sie wollte herausfinden, wer sich überhaupt am Bürgerhaushalt beteiligt und warum; und welchen Stellenwert kommunale Politik in der Schule hat. Seit diesem Schuljahr ist sie Referendarin an der Oberschule Söhlde – und unterrichtet Politik in einer 6. und 9. Klasse.

Ältere Frauen und Migranten beteiligen sich kaum

„Der erste Durchlauf des Bürgerhaushalts im Jahr 2012 hat interessanterweise nur einen bestimmten Teil der Hildesheimer Bevölkerung aktiviert: Und zwar primär diejenigen Bürger, die ohnehin schon politisch aktiv sind, tendenziell eher Männer aus der höheren Bildungsschicht. Ältere Frauen und Migranten beteiligten sich kaum“, sagt Katia Schnelle. Die Beteiligung lag in der ersten Runde bei nur 0,2% aller Hildesheimer Bürger. „Für die Bürgerinitiative, die sich maßgeblich für den Bürgerhaushalt eingesetzt hatte, ist dies ein enttäuschendes Ergebnis. Ebenfalls enttäuschend war, dass keiner der Vorschläge der Bürger, die in einem offline- und online-Verfahren ermittelt wurden, vom Finanzausschuss der Stadt beschlossen wurde“, sagt Marianne Kneuer.

Seit Mai bis Anfang Oktober können sich Bürger in der zweiten Runde beteiligen, auch online. Die Abstimmung über die eingereichten Vorschläge zum Gesamthaushalt der Stadt Hildesheim 2014 erfolgt auf einer öffentlichen Bürgerversammlung am 8. Oktober 2013 (um 18:00 Uhr im Rathaus).

Die Forschungsergebnisse zum Hildesheimer Verfahren werden am 28. November 2013 erstmals öffentlich vorgestellt. Prof. Marianne Kneuer und Katia Schnelle laden dazu ein, den Hildesheimer Bürgerhaushalt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und über das Verfahren zu diskutieren (Vortrag, 19.00 Uhr in der VHS Pfaffenstieg).

Lesetipp: „Neue Partizipationsformen auf kommunaler Ebene am Beispiel des Hildesheimer Bürgerhaushalts – Implikationen für eine politische Bildung in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels“ (Katia Schnelle, Abschlussarbeit, 2013). Kontakt über die Pressestelle, Isa Lange, 0177.8605905, presse@uni-hildesheim.de.


Am politische Leben teilnehmen. Politikwissenschaftler der Uni Hildesheim untersuchen neue Formen der Bürgerbeteiligung. Mittlerweile gibt es mehr als 100 Bürgerhaushalte, in denen Bürger die kommunale Politik mitgestalten – und online Vorschläge einreichen können. Foto: istock TommL

Am politische Leben teilnehmen. Politikwissenschaftler der Uni Hildesheim untersuchen neue Formen der Bürgerbeteiligung. Mittlerweile gibt es mehr als 100 Bürgerhaushalte, in denen Bürger die kommunale Politik mitgestalten – und online Vorschläge einreichen können. Foto: istock tomml