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Konstrukt. Bibel-Hermeneutik
1. Bibelwissenschaft als „Glaubenswissenschaft“
Biblische Exegese hat das Ziel, die Zeugnisse des Alten und Neuen Testaments in ihrer je spezifischen Authentizität in den Blick zu bekommen. D.h. sie versucht, den Ursprungssinn aus dem je eigenen lebensweltlichen Kontext zu eruieren. Möglich ist dies nur in kritischer Reflexion auf die jeweiligen Vorverständnisse. Diese selbst-reflexive Haltung impliziert ein aufmerksam-kritisches Bewusstsein für „Eigenes“ und „Fremdes“. Nur so eröffnen sich Räume für ein adäquates Verstehen (auch) von antiken Texten – ob auf der Ebene wissenschaftlicher Theologie, die eine methodisch reflektierte Beziehung zum Text anstrebt, oder auf der Ebene existentieller Fortschreibung, die auf lebenspraktische Selbst- und Kollektiverfahrung zielt.
Von dieser hermeneutischen Basis her wird die bibeltheologische Exegese auf zwei Arbeitsfeldern tätig: dem der Analyse und dem der Applikation der biblischen Texte.
Im analytischen Bereich geht es um die Texte als zeitgeschichtliche Dokumente: a) den kontextuellen Ursprung ihrer Entstehung (produktionsorientierte "Diachronie"); b) das intratextuelle System ihrer Ausformung (adressatenorientierte "Synchronie"); c) die intertextuelle Situation ihrer Wirkabsicht (lese-orientierte "Pragmatik"); d) die hypertextuelle Dynamik ihrer Auslegung und Fortschreibung in der kirchlichen und weltlichen Geistes- und Kulturgeschichte (wirkungsorientierte „Theologie“).
Im applikativen Bereich geht es um die Texte als "offenbarende" Kontaktorgane: Als Ausdruck von Glaubenswissen ist ihnen eine Spiegel-Dimension inhärent, mit der sie den Einzelnen als glaubende Individuen und Kirchen-Mitglieder zurückmelden, wer sie sind bzw. sein können.
Die methodische Arbeitsweise orientiert sich an Inhalt und Intention der beiden Arbeitsfelder. Im analytischen Bereich kommen vorrangig Methoden zum Einsatz, die dem historisch-kritischen und rezeptionsästhetischen Interesse dienen. Sie basieren auf den Perspektiven der Geschichts-, Sozial-, Literatur- und Kommunikationswissenschaft. Im applikativen Bereich greifen letztlich nur solche Methoden, die bei der aktuellen Leser- und Hörerschaft eine Selbstreflexion und eine darüber hinausgehende Selbsterfahrung initiieren.
Entscheidend für ein adäquates Verstehen des biblischen Textes ist die Berücksichtigung der jeweiligen Geschichtlichkeit, der „damaligen“ wie der „heutigen“. Unabdingbare Voraussetzung hierfür ist eine Hermeneutik, die die konstitutive Perspektivität menschlichen Daseins und Kommunizierens berücksichtigt. Die Erkenntnistheorie des Konstruktivismus als radikaler Ansatz eines „Verstehens in Geschichtlichkeit“ bietet sich als heuristisches und methodisches Instrumentarium an.
2. Konstruktivistische Erkenntnistheorie
Die konstruktivistische These entzündet sich an der uralten Frage: "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?" (Paul Watzlawick). Die Antwort des Konstruktivismus: Was der Mensch als wirklich wahrnimmt, ist das, was er als wahr annimmt! Menschliche Wahrnehmung bildet die Realität, wie sie außerhalb von uns "an sich ist", nicht ab, weil sie dazu apriorisch nicht fähig ist. Anders als der naive Realismus meint, rekonstruieren wir nicht einfach die objektive Realität. Wir "konstruieren" vielmehr die Wirklichkeit in der Form und auf die Art, wie die Realität auf uns "wirkt". Wirklichkeit ist folglich eine Wirk-Weise der Realität. Und zwar der Weise, wie sie sich Menschen ein-drückt und wie Menschen sie aus-drücken. Wirklichkeit ist so gesehen ein menschliches "Faktum", von Menschen "gemacht", erstellt – was umso mehr gilt, je „weicher“ die jeweilige Lebenswelt konstitutiert ist.
Zugrunde liegt die Beobachtung, dass es zwischen der Realität, in der sich der Mensch vorfindet, und dem Menschen als reales Lebewesen keinen unmittelbaren Kontakt gibt. Wie neurobiologische, hirnphysiologische, psychologische, systemtheoretische und wissensoziologische Untersuchungen plausibel erscheinen lassen, ist uns der Zugang zur Realität grundsätzlich nur indirekt möglich. Über unsere menschlichen Kontaktorgane und Schaltstellen nämlich. Zuallererst unsere sensitive Körperlichkeit und kognitive Gehirnstruktur, sodann aber nicht weniger bestimmend unsere seelische Emotionalität und normierende Sozialität. Sie bilden die axiomatischen Voraussetzungen für jegliches Wahrnehmung und Erkennen, Erleben und Erfahren. Auf ihrer Basis werden die Impulse des realen "Außen" quantitativ und qualitativ gefiltert, sortiert und mit Bedeutung versehen.
Veranschaulichen – etwas plakativ zwar, aber doch eindrücklich – lassen sich unsere alltäglichen Konstruktionsleistungen mit Hilfe der so genannten optischen Täuschungen:
Das zugrunde liegende Phänomen besteht darin, dass wir die sensitiv vermittelten Impulse nach uns bekannten kognitiven Mustern ordnen und bestimmen. Diese Synthetisierung vollziehen wir dabei grundsätzlich in der Form, dass wir unterscheiden und in Beziehung setzen, zum jeweiligen Kontext nämlich und Hintergrund. Wir stellen in einen Zusammenhang und schaffen damit Zusammenhänge – Zusammenhänge im Sinne von Bedeutungen. Besonders eindrucksvoll kann diese systematisierende Deutung die so genannte Kaniza-Täuschung demonstrieren:
„Kaniza-Dreieck“
Die drei Kreise, denen jeweils ein Segment fehlt, und die drei offenen Winkel ergänzen wir auf der Basis unserer kognitiven „Brille“ und konstruieren geometrische Figuren, die wir dann als zwei übereinander liegende Dreiecke sehen.
Auch an den so genannten Kippbildern lässt sich das Phänomen unserer Wirklichkeitskonstruierung plausibel machen:
Kippbild „alte Frau – junge Frau“
Bei gleichbleibender Summe der Außen-Impulse auf sensitiver Ebene verändert sich die Wahrnehmung je nach Deutung "alte Frau" / "junge Frau". Was ich jeweils sehe, hängt u.a. davon ab, welchen Bezug ich zur jeweils wahrgenommenen Wirklichkeit habe.
Schon dieses Kippbilder-Phänomen weist darauf hin: Je komplexer das Impuls-Spektrum wird, desto umfassender und diffiziler sind die einzelnen Seiten der menschlichen Resonanzmöglichkeit und Sinngebung gefordert und kommen ins Spiel. Den emotional-affektiven Beitrag unserer Psyche wagen wir manchmal gar nicht zu ahnen. Der normierend-wertende Einfluss unserer individuellen Sozialisation bleibt uns oft unbewusst – insbesondere auch im Tätigkeitsfeld der so genannten "objektiven" Wissenschaften und ihrer ach so "wertfreien" Interessen. Immer schon stellen wir uns selbst in Beziehung und setzen uns mehr oder weniger ins Verhältnis. Allgemeiner Maßstab ist dabei, wie weit die Wahrnehmung bzw. die Deutung tauglich ist fürs "Überleben". Von „Viabilität“ spricht die konstruktivistische Diktion. Gemeint ist: Unsere Konstruktionsmodelle und die Interpretationsmuster, die daraus resultieren, sind von einer lebensdienlichen Pragmatik bestimmt. Entscheidend ist, ob es "passt" und "funktioniert". Dies allerdings nicht im Sinne eines beliebigen Utilitarismus, sondern einer existentiellen Notwendigkeit und expansiven Möglichkeit. Ausschlaggebend ist, was uns hilft, uns zurecht zu finden, Ordnung und Orientierung schafft, Halt gibt, Wege eröffnet, persönlich und sozial Diffusionen und Kontraktionen überwinden hilft und "expandieren" lässt, Leben und Lebendigkeit ermöglicht und erhält.
3. Konstruktionsgeschichtliches Wirklichkeitsverständnis
Die Konsequenz dieser Annahme: „Die“ Wirklichkeit ist „meine“ bzw. „unsere“ Wirklichkeit. Sie ist das Produkt einer interpretierenden Sinngebung, die bestimmt und charakterisiert wird durch unsere "BeobachterInnen"-Tätigkeit. Diese wiederum ist geprägt durch unsere sensitive, kognitive, psychische und soziale Kompetenz. Die sinnlich und geistig vermittelte und biographisch verankerte Konstruktion endet dabei durchaus nicht im puren Subjektivismus. Denn der selbstreferenzielle Bezug von Umwelt und Mensch ist in der Regel eingebettet in den synreferenziellen Rahmen eines sozialen Systems und ihrer Lebenswelt.
Das aber bedeutet: Die alte skeptisch-aufklärerische Überzeugung, "ich glaube (nur), was ich sehe", ist genauso unrichtig, wie die aufgeklärt-postmoderne Überzeugung "ich sehe (nur), was ich weiß", zu kurz greift. Die erkenntnistheoretische Parole müsste heißen: "Ich sehe (und weiß), was ich glaube" – und zwar in einer Gemeinschaft, die meine Überzeugungen teilt. Dabei sehen wir, was wir glauben, umso deutlicher und wirkungsvoller, je intensiver wir kognitiv und emotional in eine solche Interpretationsgemeinschaft eingebunden sind.
Jeder Eindruck von Menschen und jeder menschliche Ausdruck, jegliches Weltbild und jegliches Selbstverständnis ist folglich das aktuelle Ergebnis einer Konstruktionsgeschichte. Im ontogenetischen und monogenetischen Prozess, in der individuellen Entwicklung innerhalb einer Kollektiv-Geschichte bilden sich lebensweltliche "Brillen" der Wirklichkeitskonstruktion. Je konstanter der gesellschaftliche Kontext und die persönliche Situation, desto stabiler die Nachhaltigkeit dieser Konstruktions-"Rahmen".
„Brille“ als metaphorisches „Zeichen“ der Dimension „Wahrnehmung“
Nun schwimmen wir aber alle im prozesshaften Strom der Wirkungsgeschichte. Und nur allzu gut wissen wir um die Kontingenz des menschlichen Dasein; und immer deutlicher wird uns die Komplexität eines systemisch-verwobenen Lebens bewusst. Aus der damit verbundenen strukturellen Offenheit und Dynamik resultiert das so genannte "Reframing" – nicht nur als Möglichkeit, sondern geradezu als Notwendigkeit: Gängige, konventionelle "Rahmen" der Konstruktion verändern sich, werden "um(ge)rahmt". Durch Tradition, Biographie und gesellschaftliche Anerkennung sanktionierte "Brillen" werden neu justiert. Die Geschichte der Konstruktion von Wirklichkeit ist im Gange.
Die Plausibilität der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer subjektiven Gewissheit ergibt sich dabei offensichtlich aus folgenden Maßgaben:
1. Eine Gruppe lebt in einem bestimmten Sinnzusammenhang. Von ihm her als der gemeinsamen lebensweltlichen "Brille" interpretiert und definiert sie das, was vor sich geht.
2. Aus der Lebens-Praxis heraus bildet sich auf der Basis von Tradition und Wiederholung eine gewisse Relevanz. Diese erreicht durch die Gewissheit der Anderen sowie der von "SpezialistInnen" sowie der von "Institutionen" eine gewisse Evidenz. Zerbricht diese Evidenz – dann nämlich, wenn die "Viabilität" nicht mehr gewährleistet ist, treten neue Axiome an die Stelle der alten und verändern damit den sozial geteilten Sinnzusammenhang und bestimmen die Lebenswirklichkeit neu.
3. Mit den neuen "Brillengläsern" ändert sich das Muster der Wirklichkeitsdeutung. Wir lernen, Alltagssituationen nach diesem neuen Wahrnehmungsmuster zu definieren, weil uns dann die Wirklichkeit wieder "viabel" erscheint.
Das aber bedeutet: Jede Zeit hat mehr oder weniger ihre "Brille(n)", durch die sie die Realität wahrnimmt und Wirklichkeit erstellt. So ist z.B. die heutige "Brille" basal bestimmt durch das Wahrnehmungs- bzw. Interpretationsraster der Naturwissenschaften mit ihrer aufgeklärten Rationalität und physikalisch-mechanistischen Naturgesetzlichkeit. Zu anderen Zeiten herrsch(t)en andere "Brillen". Um die Eindrücke der Menschen der jeweiligen Zeit nachempfinden und ihre Ausdrücke verstehen zu können, müssen wir die Justierung der jeweiligen "Brillen" kennen – was notwendigerweise eine streng historisch-kritische Fokussierung auf die jeweilige Lebenswelt und ihre Lebensformen bedeutet.
4. Konstruktionsgeschichtliche Bibel-Theologie
Sobald und solange die Zeugnisse der Bibel als geschichtlicher Ausdruck der biblischen Lebenswelten und -formen verstanden werden, bekommt der konstruktivistische Ansatz Geltung auch für die biblische Wirklichkeit. Auch für sie gilt dann, was für alle Wirklichkeit gilt. Sie ist "erstellt" nach der Maßgabe des "biblischen" Glaubenswissens. Dieses wiederum ist geschichtlich bedingt, d.h. inhaltlich und formal gefärbt. durch den Kontext der jeweiligen Zeit. Entsprechend notwendig ist eine historisch-kritische Analyse der Textzeugnisse nach dem konstruktionsgeschichtlichen Modell.
Konkret geht es um die Frage: Welche biblische "Brillen" der Wirklichkeitskonstruktion lassen sich eruieren? Zu welchen Zeiten herrschten welche Konstruktionsrahmen? Zum einen bei den Zeitzeugen (= "1. BeobachterInnen"), zum anderen bei anzunehmenden TradentInnen (= "2. BeobachterInnen"), zum dritten bei den Redaktoren der jeweiligen Werke (= "3. BeobachterInnen"), zum vierten bei den Redakteuren des jeweiligen Kanons (= "4. BeobachterInnen"), zum fünften bei den jeweiligen Rezeptions- und WirkungsträgerInnen (= „5. BeobachterInnen“), zum sechsten bei den AkteurInnen der aktuellen Applikation (= „6. BeobachterInnen“).
Das bedeutet grundsätzlich: Natürlich ist die Sprech- und Sprach-Dimension für menschliche Wirklichkeit basal (vgl. „linguistic turn“). Und natürlich ist die rhetorische und synchrone Schrift-Ebene für verschriftete Wirklichkeit relevant. Darüber hinaus aber muss sich das analytische Interesse auf die historisch verortete Geschichte im Text bzw. hinter dem Text konzentrieren – nicht um einen "Ein-für-allemal-Sinn" zu erheben, sondern um die "ersten BeobachterInnen" und ihr Glaubenswissen in den Blick zu bekommen. Deren Relevanz für ein biblisch verortetes Welt- und Selbstverständnis liegt gerade unter konstruktionsgeschichtlicher Perspektive auf der Hand: Wenn wir Wirklichkeit nicht abbilden, sondern erstellen, dann stehen unsere Konstruktionen hinsichtlich ihrer Wahrheit bzw. Wahrhaftigkeit grundsätzlich und immer in Frage. Was christliche Frömmigkeit ausmacht, ist dann nichts anderes, als unsere Wirklichkeitskonstruktion in den biblischen Wirklichkeitskonstruktionen zu spiegeln und an ihnen zu orientieren. Das ist es doch wohl, was das Credo mit "Glaube an die ... apostolische Kirche" meint. Auf dieser Ebene des konkreten Verstehens im Sinne persönlicher Applikation schließlich müssen dann die aktuellen Konstruktionsrahmen in den Blick kommen, die „Brillen“ der heutigen Rezipienten, wir als die "6. BeobachterInnen" sozusagen.
Auf methodischer Ebene lässt sich nahtlos anknüpfen an dem, was die biblische Exegese im Laufe ihrer Wissenschaftsgeschichte als Methodenschritte erarbeitet hat – sei es in diachroner, sei es in synchroner Orientierung. Zentrum und Fokus des Interesses ist immer die Lebenswelt, wie sie im Text durchscheint und vorkommt. Dabei wird das Methodenensemble differenziert nach "BeobachterInnen"-Ebene zur Anwendung kommen müssen.
a) Auf der ersten "BeobachterInnen"-Ebene geht es um die Erlebnisse und Erfahrungen der Zeit-Zeugen – Eindrücke, die allen mündlichen wie schriftlichen Ausdrücken zugrunde und voraus liegen. Von Relevanz sind sämtliche Methoden, die die lebensweltlichen Bedingungen der Möglichkeit solcher Eindrücke eruieren helfen. Insbesondere wird es um begriffs- und motivgeschichtliche wie religions- und sozialgeschichtliche Indizien gehen.
b) Auf den "BeobachterInnen"-Ebenen zwei bis fünf treten solche Methoden in den Vordergrund, die das faktio- wie fiktionale Kommunikationsgeschehen und seine mündliche und / oder schriftliche Rezeptionsgeschichte zu beschreiben suchen. Die Analyse ist interessiert an Phänomenen, die sich in erster Linie unter form- und redaktionsgeschichtlicher sowie literaturwissenschaftlich-rezeptionsästhetischer Fokussierung zeigen. Daneben gilt es vor allem Beobachtungen zu berücksichtigen, die über traditions- und theologiegeschichtliche Prozesse Auskunft geben.
c) Auf der "6. BeobachterInnen"-Ebene gilt es, je nach dem, was man unter "konkretem“ Verstehen versteht, insbesondere auf Methoden der Selbstreflexion zurück zu greifen. Soll ein persönlicher Bezug intendiert werden, kommen darüber hinaus Methoden ins Spiel, die Selbsterfahrung in "ganzheitlicher" Text-Begegnung ermöglichen können. (Auf gestalttherapeutischer Basis verstehe ich darunter weniger die so genannten lese-orientierten Zugänge. In den Mittelpunkt rücken vielmehr prozessorientierte Methoden, die eine dynamisch-therapeutische Begegnung intendieren.)
Im obligatorischen Studienbetrieb der Universität werden solche Methoden kaum Platz haben können, vom existentialen Auslegungsmuster oder gestaltpädagogischen Ansätzen innerhalb der Religionsdidaktik abgesehen. Verantwortbar und praktikabel sind sie allerdings in "außerplanmäßigen" Angeboten zur Applikation, die dezidiert offen sind für Kontakte auf der Beziehungsebene und die Dimension der Selbsterfahrung.
5. Biblisch-theologische Konstruktionsgeschichte
Auf der Basis einer konstruktionsgeschichtlichen Hermeneutik und Methodik orientiert sich eine christliche Bibelwissenschaft an entsprechenden formalen und inhaltlichen Axiome: Normativ ist das frühchristliche Glaubenswissen, wie es in den Schriften des sogenannten „Neuen Testaments“ überliefert ist. Weil diese Werke aber auf der Basis und im Kontext des frühjüdischen Glaubenswissens verortet sind, sie adäquat also nur innerhalb der Lebens- und Glaubenswelt des Frühjudentums verstanden werden können, ist es für eine biblisch-christliche Exegese unabdingbar, die Schriften des sogenannten „Alten Testaments“ in den Verstehensprozess mit einzubeziehen – und zwar nicht lediglich als prä-textueller Traditionsrahmen, sondern als sub-textueller Resonanzraum. Und weil für das Frühjudentum bereits Vorstellungen, Überzeugungen und Bilder des sogenannten „Hellenismus“ justierend wirken, müssen diese auch für die Interpretation der neutestamentlichen Texte Berücksichtigung finden – zumal mit ihren Reframing-Aspekten im lebensweltlichen Setting des römischen Prinzipats.
a) Schwerpunkt „Neues Testament“
Die Zeitzeugen, die sich in den Schriften des „Neuen Testaments“ äußern, sind Menschen der Zeitenwende bzw. des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Ihre lokale Heimat ist der östliche Mittelmeerraum, vor allem die palästinisch-syrischen und kleinasiatisch-griechischen Länder. Die gesellschafts- und religionspolitische Färbung ihres Alltags schillert im Amalgam von hierokratischen Interessen und römischer Weltherrschaft. Auf den lebensweltlichen Vorgaben dieser antiken Zeit- und Raumgeschichte basieren die Konstruktionsrahmen der Jesusbewegung und der frühen Christen. Es sind die bereits genannten drei soziokulturellen Einflussbereiche, die die "Brillen" unserer "1. BeobachterInnen" konstituierten:
Soziokulturelle Einflussbereiche der Zeitenwende
Was immer Jesus und seine Zeitgenossen und die ersten Christen wahrnahmen, was immer für sie Wirklichkeit war und sie als solche zum Ausdruck brachten, muss initiiert und motiviert sein durch die Imprägnierungen der vorderorientalisch-alttestamentlichen, hellenistisch-römischen und reformorientiert-frühjüdischen Überzeugungen und Perspektiven. Auf ihrer Basis ruht die alltagsweltliche Viabilität. Und im Rahmen ihres Zusammenspiels kommt es zu Reframings, die (an)passend und (um)funktionierend "viabel“ wirken, Leben ermöglichen. Dabei dürfte von einer komplexen Systemik von gängigen, teils lang tradierten, teils neu etablierten Modellen der Wirklichkeitskonstruktion auszugehen sein.
Um im Optiker-Bild zu bleiben: Für eine viable Justierung der Wahrnehmungseinstellung standen unterschiedlich "getönte" Brillengläser zur Verfügung – aus der heilsgeschichtlichen Sparte und der weisheitlichen, der prophetischen und eschatologischen, der messianischen und theokratischen, der kultgemeindlichen und apokalyptischen.
Brille mit den zentralen Modellen biblischer „Monokel“
Im einzelnen differenzieren sich diese in die vielfältigen theologischen, anthropologischen und kosmologischen Konventionen und Neo-Logumena, aber natürlich auch die christologischen, pneumatologischen und ekklesiologischen Vorgaben und Fortschreibungen. Dazu die diversen gesellschaftspolitischen, sozialgeschichtlichen, rechtlichen und ethischen Implikationen und Ausformungen. Die Erkenntnisse der begriffs-, motiv-, theologie-, religions- und sozialgeschichtlichen, der kulturanthropologischen und historisch-psychologischen Forschung ergeben ein reichhaltiges, diffiziles "Brillengläser"-Repertoire.
Beim primären Arbeitsmaterial "Neues Testament" handelt es sich folglich um eine Sammlung von 27 Schriften, entstanden in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts, die als geschichtliche Zeugnisse verwoben sind in die lebensweltliche Kontextualität und Intertextualität der altorientalisch-biblischen, hellenistisch-frühjüdischen und römisch-hellenistischen Zeit und Kultur. Deren literarische Zeugnisse wiederum gelten als Koordinatensystem für die Produktion und Rezeption der neutestamentlichen Schriften. Notwendigerweise müssen deshalb vorrangig das "Alte Testament" sowie die "Zwischentestamentarische Literatur" bzw. die "Jüdischen Schriften aus der hellenistisch-römischen Zeit" die primär-biblischen Arbeitstexte ergänzen. Aus Gründen der wirkungsgeschichtlichen Verhangenheit allen Verstehens muss die antik-frühchristliche Textbasis zusätzlich erweitert werden, wenigsten um die Dokumente der zentralen Auslegungsstränge und Interpretationsmodelle in der älteren wie jüngeren Kirchen-, Theologie- und Forschungsgeschichte.
b) Schwerpunkt „Altes Testament“
Das AT beinhaltet Texte aus mindestens fünf Jahrhunderten. Die große Zeitspanne dokumentiert sich in einer Vielfalt von Vorstellungen und Überzeugungen, Handlungsmaximen und Ritualvorschriften. Entsprechend vielfältig sind auch die „Brillen“ der Wirklichkeitskonstruktion. Deren Diversität ist v.a. durch die Erfahrungen des „Babylonischen Exils“ und der Hellenisierung seit dem Ende des 4.Jh. geprägt. Zu beachten ist das jeweilige religions-, theologie-, kultur- und sozialgeschichtliche Setting – jeweils im Rahmen der entsprechenden literarischen Gattungen wie mnemotechnischen Muster. Ihr charakteristischer Eigenwert ist zu berücksichtigen – v.a. auch im Blick auf die vielfältigen Transformationen im „Frühjudentum“ und deren Fortschreibungen im „Frühchristentum“.
c) Lehr-Lern-Setting
Auf dieser hermeneutischen Basis wird die andernorts übliche Trennung des neutestamentlichen Arbeitsfeldes in die Gebiete "Einleitungswissenschaft" und "Exegese" nicht übernommen. Leitend für die Einführung in die bibelwissenschaftliche Praxis und deren verständige Handhabung ist nicht die literarisch imprägnierte Perspektive, die sich an Text-Phänomenen orientiert (Werk, Gattung, Formeln). Leitend ist vielmehr ein "ästhetischer" Blickwinkel, der die analytische Aufmerksamkeit fokussiert auf biblische und spezifisch neutestamentliche "Brillen" der Wahrnehmung. Ihrer Verschriftlichung und Vertextung durch jeweilige Autoren und Redaktoren sowie ihrer kanonischen Verortung gilt das weitere analytische Interesse. In den Vordergrund der anvisierten bibelwissenschaftlichen Kompetenz rückt so die Fähigkeit, methodisch reflektiert Wirklichkeitswahrnehmungen und Erfahrungen in ihrer geschichtlichen und theologischen Dimension und Relevanz zu eruieren.
Im Zentrum steht natürlich die Historie und Geschichte des Jesus von Nazareth als des "Christus". Seine "Einmaligkeit" wird dabei dezidiert in ihrer lebensweltlichen Kontextualität und wirkungsgeschichtlichen Perspektivität in den Blick genommen. Auf diese Weise zeigt sich u.a. die für das christliche Selbstverständnis unabdingbare Komplementarität von „Altem Testament“ und „Neuem Testament“. Darin gründen dann auch Authentizität und Anspruch einer im eigentlichen Sinne "biblischen" Theologie.
Das neutestamentlich-bibeltheologische Angebot orientiert sich an der exegetischen Schrittfolge von Analyse und Applikation. Applikation wird im strengen Sinne der Wortbedeutung verstanden als konkrete "Anwendung" im Sinne eines "persönlichen Kontakts" mit dem neutestamentlichen Schriftwort. Dieses Verständnis von Applikation findet entsprechenden Ausdruck im Studienangebot: Zum einen werden die Studierenden im Rahmen der analytischen Anforderungen zu einer selbstreflexiven Fortschreibung der neutestamentlichen Zeugnisse animiert (siehe: „dialogische Szenierung“). Zum anderen wird den Studierenden – über die Reflexionskompetenz hinaus der sogenannten "neueren" Methoden hinaus – auf dezidiert freiwilliger Basis die Möglichkeit geboten, an Selbsterfahrungsseminaren teilzunehmen. Hermeneutisch und methodisch orientieren sich die in Form von Workshops abgehaltenen Veranstaltungen schwerpunktmäßig am Verstehens- und Interventionsmodell der Gestalttherapie. Je nach Zusammenarbeit mit anderen ExpertInnen ganzheitlicher, prozessorientierter Verstehenspraxis finden ergänzend-alternative methodische Verfahren Berücksichtigung.