„Die Mathematik ist eine Weltsprache“

Monday, 15. February 2021 um 07:31 Uhr

Prof. Dr. Sebastian Mentemeier ist seit Oktober 2019 Professor am Institut für Mathematik und Angewandte Informatik der Universität Hildesheim. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik. Im Interview spricht er über die Faszination seines Fachgebiets.

Unter Forschungsschwerpunkte steht auf Ihrer Homepage unter anderem „Non-Gaussian limit theorems“ und „Heavy-tailed random variables“. Schätzen Sie mal, wie viele Sätze Sie brauchen würden, um mir zu erklären, woran Sie arbeiten.

Das kommt auf die inhaltliche Tiefe an.

Gehen wir mal von einem oberflächlichen Küchengespräch aus.

Dann drei.

Die würde ich gerne hören!

Ein großes Thema in der Mathematik ist die Universalität - das bekannteste Beispiel dafür ist der zentrale Grenzwertsatz: Wenn Sie viele kleine Zufallsereignisse haben, die sich aufsummieren, kommt in den allermeisten Fällen die Gaußsche Normalverteilung dabei raus. Non-Gaussian meint folglich die Fälle, in denen das nicht so ist. So haben die sogenannten „heavy-tails“-Verteilungen, die Eigenschaft, dass Extremereignisse, also sehr große Zahlenwerte, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auftauchen.

Können Sie einen konkreten Anwendungsfall aus dem Alltag nennen?

Versicherungen arbeiten mit solchen Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Sie haben auf der einen Seite sehr viele kleine zufällige Schadensfälle über das Jahr verteilt, aber gelegentlich auch Extremereignisse wie einen Jahrhundertsturm mit sehr hohen Schadenssummen, die auf einmal anfallen.

Stellen Sie sich vor, Sie sind bei einer Party und werden gefragt, was Sie beruflich machen.  Beschreiben Sie mal die typische Reaktion Ihres Gegenübers auf Ihre Antwort.

Schweigen.

Beeindrucktes Schweigen wenigstens?

Naja, ein Teil sagt als nächstes „Von Mathe habe ich gar keine Ahnung“, der andere Teil fragt interessiert nach, was genau ich mache.

Warum, glauben Sie, reagieren die Menschen so? Niemand würde sich ja damit brüsten, Akkusativ und Dativ nicht unterscheiden zu können oder eine schlechte Allgemeinbildung zu haben. Aber nicht kopfrechnen zu können und sich für mathematische Zusammenhänge nicht zu interessieren, scheint irgendwie gesellschaftsfähig zu sein.

Ich glaube, dass viele Menschen bei Mathe irgendwann aussteigen, hat damit zu tun, dass in der Mathematik alles aufeinander aufbaut. Wenn man beim Vokabellernen mal einen Teil übersprungen hat, erschließen sich die fehlenden Worte trotzdem aus dem Zusammenhang. Aber in der Mathematik fehlt einem irgendwann ein so großer Baustein, dass das gesamte Konstrukt nicht mehr funktioniert. Um in der Mathematik weiterzukommen, muss man kontinuierlich am Ball bleiben, wie ein Sportler beim Training.

Wie sind Sie denn zur Mathematik und speziell zum Themenschwerpunkt Wahrscheinlichkeitsrechnung gekommen?

Zu allererst durch meine Mutter, die selbst Mathematiklehrerin war. Auch in der Schule hatte ich das Glück, gute Lehrer zu haben. Besonders ein Lehrer am Gymnasium war sehr engagiert, er hat eine Mathe-AG angeboten und ist mit uns zur Mathe-Olympiade gefahren. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung hat mich schon in der Schulzeit interessiert und sich später an der Uni als Schwerpunkt herauskristallisiert. Ich habe dann auch in diesem Bereich promoviert.

Wie erklären Sie sich, dass Menschen wider besseres Wissen statistische Wahrscheinlichkeiten ignorieren und zum Beispiel Lotto spielen oder fest daran glauben, dass das Corona-Virus für sie selbst keine Gefahr darstellt?

Die Interpretation von Wahrscheinlichkeiten hat im Alltag sehr viel mit subjektiver Wahrnehmung zu tun. Beim Lotto-Spielen geht es um das Prinzip Hoffnung. Man möchte gern gewinnen, deshalb schätzt man seine Chancen größer ein, als sie tatsächlich sind. Im Lotto den Hauptgewinn zu erzielen, ist statistisch unwahrscheinlicher, als vom Blitz getroffen zu werden, aber in der Wahrnehmung vieler Menschen ist es genau anders herum. Wobei man beim Blitz immerhin noch Möglichkeiten hat, auf die Wahrscheinlichkeit Einfluss zu nehmen – indem man zum Beispiel bei Gewitter im Haus bleibt. Das wäre ein Beispiel für eine bedingte Wahrscheinlichkeit: In Abhängigkeit von meinem Verhalten falle ich in eine weniger gefährdete Gruppe mit geringerer „Blitzschlagwahrscheinlichkeit“, oder in eine höher gefährdete. Analog verhält es sich mit dem Befolgen der Schutzmaßnahmen und der Ansteckungswahrscheinlichkeit.

Spielen Sie denn Lotto?

Nein (lacht). Aber ich habe immerhin mal ein Los der Aktion Mensch besessen. Auch als Mathematiker bin ich kein Mensch, der im Alltag ständig alles knallhart durchkalkuliert und vorausberechnet. Ich treffe auch mal Entscheidungen aus dem Bauch heraus.

Gibt es eine große offene Frage in der Mathematik, die Sie gern lösen würden? So etwas wie ein Lebensthema?

Nein, ganz so groß denke ich nicht. Ich arbeite an verschiedenen Themen parallel, meist für einige Jahre, dann kommt wieder etwas Neues.

Woran forschen Sie aktuell?

An sogenannten Verzweigungsprozessen. Das kann man sich ein bisschen wie einen Stammbaum vorstellen, bei dem man von einer einzelnen Person ausgehend ausrechnet, in wie vielen Generationen diese Person zum Beispiel 10.000 Nachkommen haben wird. In unserem Fall werden auch noch Bewegungen mit einbezogen. Vorstellen kann man sich das z.B. anhand von Bakterienkolonien, die durch Teilung wachsen und sich (wenn auch langsam) bewegen. Dann kann man sich die Bewegung der „Bakterienwolke“ anschauen, ebenso auch die Bewegung eines einzelnen Bakteriums, beispielsweise des schnellsten. Bisher hat man das nur für Bewegungen auf einer Linie angeschaut, nun geht es um „natürliche“ Bewegungen im dreidimensionalen Raum.

Und – das ist noch ein faszinierender Aspekt der Mathematik – nur eine kleine Abwandlung des Modells ist nötig, und schon dient es der Laufzeitanalyse von Sortieralgorithmen in der Informatik.

Kommen wir nochmal zurück zum Party-Gespräch. Wenn Sie jemanden Fachfremdes von ihrer Faszination für die Mathematik überzeugen wollten – was würden Sie sagen?

Die Mathematik ist eine Weltsprache. Egal, ob im Deutschen, im Chinesischen oder im Russischen:  Zahlen funktionieren immer gleich. Alle Begriffe sind eindeutig und klar definiert. Mathematische Gesetzmäßigkeiten basieren allein auf bewiesenen Tatsachen und Fakten und ermöglichen einen Austausch auf der rein inhaltlichen Ebene auch über Grenzen hinweg. Sogar zu Zeiten des Kalten Krieges konnte ein wissenschaftlicher Austausch zwischen Ost und West fortbestehen.

Ein Kollege von mir hat es mal so formuliert, dass die Mathematik die Aufgabe hat, das Denken zu schärfen, das logische Schlussfolgern einzuüben und sich allein an die Fakten zu halten – eine Aufgabe, der auch in der heutigen Zeit sicherlich eine besondere Bedeutung zukommt.

 

Interview: Sara Reinke

 

 

 


Prof. Dr. Sebastian Mentemeier ist Professor am Institut für Mathematik und Angewandte Informatik der Universität Hildesheim und forscht zu Themen der Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik.