Boomt die Schreibberatung?
Jana Zegenhagen: Alle Semester, alle Textsorten sind vertreten – wir können nicht klagen. Professionell, persönlich und „auf Augenhöhe“, das kommt gut an. Es ist gut, dass Studentinnen und Studenten vermehrt über wissenschaftliche Arbeitsprozesse sprechen und damit nicht alleine bleiben. Man muss Texte lesen, verstehen, schreiben, korrekt und in Zusammenhängen darstellen und Aussagen belegen. Dies zu lernen, gehört zum Studium – das muss man lernen dürfen. Hochschulen sollten Studierende dabei unterstützen. In Seminaren ist oft nicht der Raum, manche fühlen sich hilflos, deshalb sind spezielle Angebote wichtig. Allein im Wintersemester hatten wir 45 Einzelberatungen, die Hälfte der Studierenden ist neu bei uns. Dabei geht es um Haus- und Abschlussarbeiten – und um Textsorten wie Referate und Poster. Die Studierenden kommen querbeet aus allen Fächern – Mathematik, Internationales Informationsmanagement, Theologie, die Lehramtsfächer, Literatur- und Sprachwissenschaft, Erziehungswissenschaften, Kulturpolitik.
Stellt die inhaltliche Breite die studentischen Beraterinnen und Berater nicht vor unlösbare Herausforderungen?
Nein, denn sie arbeiten nicht inhaltlich, sondern prozessorientiert. Zum Beispiel unterstützen sie Kommilitoninnen und Kommilitonen dabei, sich den Schreibprozess einzuteilen, zu recherchieren und zu strukturieren oder eine Fragestellung zu entwickeln. Natürlich kommen auch inhaltliche Fragen vor, die studentischen Beraterinnen und Berater spiegeln dann wieder, was sie als „interessierte Leserinnen und Leser“ verstanden haben. Entscheidend ist, dass sie qualifiziert sind. Bei uns berät niemand, der nicht vorher in Lese- und Schreibprozessforschung und Beratung fortgebildet wurde. Sie lernen, andere dabei anzuleiten, Schreibprozesse zu reflektieren und bewusst zu gestalten.
Warum sprechen so wenige über Probleme im wissenschaftlichen Schreiben?
Viele quälen sich und haben Angst vor einem Gesichtsverlust, wollen keine Schwäche zeigen. Dabei ist es völlig normal, Schreibschwierigkeiten haben viele Ursachen und bei uns im Lese- und Schreibzentrum merken Studierende, dass sie damit nicht alleine sind. Das korrekte Zitieren und Belegen von Quellen ist ein Thema. Dahinter stecken oft andere Probleme. Vielen fällt es schwer, ein Thema einzugrenzen.
Wie gehen Sie vor, wenn ein Thema „zu groß“ erscheint?
Es gibt viele Techniken: Hat jemand noch kein konkretes Thema entwickelt, fragen wir Interessen und Themenschwerpunkte der Seminare ab und setzen Techniken wie Freewriting, Clustering, Brainstorming ein. Man hat im Seminar ja schon viel erarbeitet und einige unbeantwortete Fragen, über die es nachzudenken lohnt. Daran erinnern wir. Dann sortieren wir, dabei helfen Techniken wie der Dreischritt (Turbian 2007: Worüber schreibe ich? Was will ich wissen? Warum will ich das wissen?), das Blitzexposee (Frank u.a. 2007), eine Eingrenzungstabelle (nach Pyerin 2001; Kruse 2007) oder der Fragenkatalog (Brinkschulte u.a 2011). Wenn ein Thema „zu groß“ ist, fällt das meistens beim Entwerfen einer Gliederung auf, oder wenn man beim Schreiben vor lauter Gedanken nicht weiß, wo man weiterschreiben soll. Gliederungspunkte zu kommentieren hilft weiter.
Und was beobachten Sie in der Sprachverwendung, ahmt man als Erstsemester schon mal Wissenschaftssprache nach?
Studierende nehmen Herausforderungen beim Schreibstart und bei der Überarbeitung wahr: Wie kann ich ein Thema entwickeln, das anspruchsvoll, originell und ausreichend eingegrenzt ist? Wie formuliere ich eine Hypothese, auf die sich meine Argumentation bezieht? Wie baue ich diese auf und wie überprüfe ich deren Überzeugungskraft? In welchen Schritten organisiere ich meinen Arbeitsprozess?
Die Lehrenden lesen die fertige Arbeit, nehmen den Text in seiner Struktur, Argumentation und sprachlichen Gestalt wahr. Dabei fällt auf, wie sich Studierende entwickeln – von eher populärwissenschaftlicher Rezeption und dynamischem Schreiben übers Nachahmen und Ausprobieren bis hin zum eigenen Stil.
Sie haben mit Mitarbeiterinnen der Uni-Schreibzentren in Göttingen, Hildesheim, Hannover und Frankfurt/Oder den ersten Ratgeber zur Schreibberatung im deutschsprachigen Raum verfasst. Das Buch erscheint schon in der 2. Auflage – ein Signal, dass viele Hilfe suchen, wie man Schreibende berät?
Ja, Lehrende nehmen die Begleitung ihrer Studierenden sehr ernst. Es entstehen immer mehr Schreibzentren an Hochschulen, die „Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung“ wurde gegründet. Zwar gibt es viele Ratgeber zum wissenschaftlichen Arbeiten. Aber ein Ratgeber für Berater_innen, der Ergebnisse aus der schreibdidaktischen Forschung mit der Praxis verbindet, fehlte bislang. Unser Ratgeber hilft Lehrenden und Schreibberatern dabei, Studierende professionell zu beraten und ein Unterstützungsangebot an ihren Hochschulen zu entwickeln. Wir geben Einblicke in die Herausforderungen, wie Studierende sie beim wissenschaftlichen Arbeiten erleben und stellen das passende Handwerkszeug der Schreibberatung vor.
Bundesweit entstanden viele der derzeit etwa 20 Uni-Schreibzentren erst in den letzten drei Jahren – an amerikanischen Unis sind „Writing Centers“ Standard. Was gehört zum Alltag im Hildesheimer Lese- und Schreibzentrum?
An der Uni Hildesheim hat ein Team um Literaturprofessorin Dr. Irene Pieper bereits 2008 das Lese- und Schreibzentrum gegründet – seitdem steigt das Interesse stetig an. Neben der studentischen Beratung bieten wir in Lehrveranstaltungen Workshops rund um das wissenschaftliche Arbeiten an. Dana Krätzsch und ich schulen die studentischen Tutorinnen und Tutoren und begleiten sie bei ihrer Tätigkeit. Dr. Ulrike Bohle hat die internationalen Schreibpartnerschaften und spezielle Angebote für Promovierende entwickelt. Wir führen Projekte zum kreativen Schreiben und zur Leseförderung in Schulen durch. Unsere Aktivitäten verbinden wir mit Forschung über die Entwicklung, Bedingungen und Förderung der Textrezeptions- und Textproduktionsprozesse.
Vielen Dank für das Gespräch!
Lesetipp:
Zukunftsmodell Schreibberatung. Begleitung von Schreibenden im Studium Info
Ella Grieshammer, Franziska Liebetanz, Nora Peters, Jana Zegenhagen
2012, 287 Seiten, 19,80 Euro
ISBN 9783834011305
Bundesweite Lange Nacht der aufgeschobenen Hausarbeiten
Das Lese- und Schreibzentrum am Bühler-Campus lädt am Donnerstag, 7. März 2013, von 20 bis 02:00 Uhr ein, eine Nacht lang an wissenschaftlichen Haus- und Abschlussarbeiten zu schreiben, sich über Schreibtricks, Motivationstipps, Lesestrategien, Schreibtypen auszutauschen. Dabei gibt es Schreibberatungen, eine Schreibpartnerbörse, und ein „Speaker’s Corner“ zum Austausch über Erfolge und Frust beim Schreiben. Was Lehrende und Tutor_innen über ihre Lese- und Schreiberfahrungen erzählen, präsentieren wir in einer Ausstellung. Dazu gibt es Kaffee und Tee, Auflockerungsübungen, eine Nachtwanderung – und die Gewissheit, dass Hunderte von Studierenden deutschlandweit in dieser Nacht schreiben.
Schreibwochen vom 4. bis 15. März
Der Prozess des Schreibens kann in allen Phasen von der Ideenfindung über das Strukturieren und Gliedern, das Verfassen einer ersten Version bis hin zur Überarbeitung vom Austausch mit anderen profitieren. Deshalb bietet das Lese- und Schreibzentrum (Raum LN 226) am Bühler-Campus die Gelegenheit, innerhalb von zwei Wochen jeden Morgen (9:00 bis 11:00 Uhr) mit anderen die eigene Arbeit zu besprechen und danach daran weiter zu arbeiten. Bei Bedarf können sich Studierende zusätzlich für Einzelberatungen anmelden. Bitte melden Sie sich an bei Dr. Ulrike Bohle (schreibberatung@uni-hildesheim.de).