Übersetzungen müssen qualitativ hervorragend sein. Maschinen können diese Prozesse unterstützen, aber nicht vollständig ersetzen

Tuesday, 05. January 2021 um 17:48 Uhr

Unser globalisierter Alltag ist stark durchdrungen von Übersetzungen. Wir kommunizieren über Sprachgrenzen hinweg und lesen täglich übersetzte Texte. Im Interview spricht Prof. Dr. Bettina Kluge über die Nutzung maschineller Übersetzungsprogramme im Internet, die Übersetzung von Humor sowie aktuelle Forschungsthemen. Bettina Kluge ist Vizepräsidentin für Internationales, sie forscht und lehrt am Institut für Übersetzungswissenschaft und Fachkommunikation der Universität Hildesheim.

Prof. Dr. Bettina Kluge forscht und lehrt nach Stationen in Santiago de Chile, Graz und Bielefeld seit 2013 als Professorin für Angewandte Sprachwissenschaft mit dem Schwerpunkt Hispanistik an der Universität Hildesheim. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Migrationslinguistik, Anredeforschung, Kontrastive Pragmatik, Kommunikation in den Social Media, Medienlinguistik sowie audiovisuelle Übersetzung.

Seit April 2020 ist die Übersetzungswissenschaftlerin Vizepräsidentin für Internationales.

Interview mit Prof. Dr. Bettina Kluge

Frau Professorin Kluge, wir lesen täglich übersetzte Texte aller Art. Vielleicht merken wir dies gar nicht, weil es sich um qualitativ gute Übersetzungen handelt.

Das genau ist das Ziel – dass man etwas nicht mehr als Übersetzung erkennt!

Übersetzungen begegnen uns in Bedienungsanleitungen, den Nachrichten, auf Produkten im Supermarkt oder im Film.

Übersetzungen sind überall in unserem Alltag. Wir können beispielsweise auch mit einem Smartphone in Kroatien in der Strandbar sitzen und uns relativ schnell die Speisekarte rudimentär übersetzen lassen. Das sind schon sehr angenehme Begleiterscheinungen der Digitalisierung in unserem Alltag.

Wird die Übersetzung einer Bedienungsanleitung für zum Beispiel ein hochspezialisiertes medizintechnisches Gerät eigentlich von einem menschlichen Übersetzer oder einer Maschine produziert?

Das kann man nicht immer so genau voneinander abgrenzen, die Unterschiede sind zunehmend fließend. Der menschliche Übersetzungsprozess wird schon seit Jahren durch verschiedene Übersetzungstools unterstützt, zum Beispiel durch Translation Memory-Systeme oder terminologische Datenbanken. Einige Bereiche werden mittlerweile maschinell vorübersetzt und dann aber unbedingt von einer Fachübersetzerin oder einem Fachübersetzer im Post-Editing-Prozess überprüft, angepasst und verfeinert.

Da werden die sprachlichen Feinheiten sichtbar.

Und logische Fehler. Wenn wir etwa ausdrücken möchten, wer welche Handlung ausführt, haben wir im Deutschen relativ flexible Satzmuster. Wenn der Text maschinell in andere Sprachen übersetzt wird, kann es dazu kommen, dass der Ausführende aus der Agens- in eine Patiens-Rolle rutscht. Um es platt auszudrücken: Dann beißt nicht der Hund den Mann, sondern der Mann beißt den Hund. Da fehlt der maschinellen Übersetzung das Alltagswissen, das menschliche Verständnis, wie die Welt aufgebaut ist. Eine Übersetzung darf absolut keine Fehler enthalten, vor allem keine inhaltlichen. Denken Sie an Beipackzettel von Medikamenten oder Sicherheitshinweise bei Röntgengeräten – die Handreichungen müssen extrem präzise sein, man muss sich blind auf die Texte verlassen können. Deshalb bilden wir an der Universität Hildesheim Fachübersetzerinnen und Fachübersetzer aus, die sich auf Sprache und Technik spezialisieren. Diese Arbeit ist nicht ersetzbar durch maschinelle Übersetzungen.

Die maschinelle Übersetzung ist eine von Menschen geschriebene Software, die zum Teil inzwischen selbstlernend ist – aber kein Bewusstsein hat. Was kann der menschliche Übersetzer leisten, was eine maschinelle Übersetzung nicht kann?

Der maschinellen Übersetzung fehlen wie gesagt Rückschlüsse auf das Alltagswissen. Es gibt zwar diverse Projekte, die versuchen, das Alltagswissen einer Künstlichen Intelligenz beizubringen, aber an vielen Punkten entstehen immer noch Probleme, etwa in Bezug auf Taxonomien, die abgebildet werden müssen. Etwa: »Die Amsel ist ein Vogel.« Wir haben einen Obergriff, ein Hyperonym, das als solches erkannt werden muss. Das kann man teilweise hinterlegen in der Cloud, die diese maschinelle Übersetzung ausführt, aber es muss entweder so programmiert werden – oder das Programm muss so etwas selbst lernen. Neuere neuronal aufgebaute maschinelle Übersetzungsprogramme können das ansatzweise, zum Beispiel Deep L. Ähnlich problematisch sind pronominale Referenzen: Der »Vogel« kann im nächsten Satz mit »er« aufgenommen werden. »Er sitzt auf dem Baum.« Die meisten Menschen lernen sehr früh in ihrer sprachlichen Entwicklung, derartige Referenzen aufzustellen, und auch ein maschinelles Übersetzungsprogramm muss dies erst lernen. Alternativ könnte man der maschinellen Übersetzung ein Pre-Editing vorschalten und zunächst derartige pronominale Referenzen weitgehend herausnehmen und bekommt einen ziemlich seltsam klingenden Text, der dann später wieder geglättet werden muss. Da stellt sich wirklich die Frage: Lohnt sich der Aufwand, oder kann das nicht von Anfang an von einer menschlichen Übersetzerin oder einem Übersetzer ausgeführt werden, der oder die durch diverse Tools unterstützt wird?

Viele Menschen nutzen gegenwärtig maschinelle Übersetzungsprogramme im Internet. Es erscheint für die Nutzerin oder den Nutzer, als könne die Maschine alles übersetzen. Das mag für das Sprachenpaar Englisch-Deutsch zutreffen. Sind die maschinellen Übersetzungen bei weniger gängigen Sprachkombinationen fehlerbehafteter? Wo stoßen die Computer an ihre Grenzen?

Das Englische als Lingua Franca unserer Zeit spiegelt sich in der maschinellen Übersetzung wider: Ist das Englische die Ziel- oder Ausgangssprache, sind die Übersetzungen bedeutend besser. Je größer die Datenbasis ist, auf die zurückgegriffen werden kann, desto besser ist häufig die maschinelle Übersetzung. Wenn das Sprachenpaar nicht gut belegt ist, kann eine Relais-Sprache eingezogen werden. Wenn bei der EU im Parlament verdolmetscht wird, werden oft die großen Sprachen als Relais verwendet, so wird dann aus dem Slowenischen erst ins Deutsche gedolmetscht und anschließend vom Deutschen ins Finnische. Durch diesen Prozess einer Übersetzung nach der Übersetzung kann eine gewisse Fehleranfälligkeit auftreten.

Das ist wie »Stille Post«.

Absolut, genau. Problematisch sind auch Dialekte und umgangssprachliche Formen, die nicht dem Standardsprachlichen entsprechen. Auf Facebook wurde zum Beispiel ein Foto einer Freundin aus Mexiko mit dem Kommentar »Qué padre foto« von Facebooks maschineller Übersetzung ins Deutsche übertragen mit: »Was Vater Foto«. Dazu muss man wissen, dass im mexikanischen Spanisch »padre« – »Vater« – auch als Adjektiv verwendet wird, dann bedeutet es »toll«. Aber die Maschine hat das »padre« für die mexikanische Varietät nicht als ein positiv bewertendes Adjektiv hinterlegt. Deswegen entstand die Fehlübersetzung. Die maschinelle Übersetzung bietet Chancen und Risiken. Wenn ich die Posts meiner japanischen Freundin lese, bekomme ich über die maschinelle Übersetzung so ungefähr mit, worum es geht, was sie beschäftigt – das bringt uns Menschen näher. Aber wir tendieren dazu, uns mit halbrichtigen Texten zufrieden zu geben, nach dem Motto: Ich verstehe genug, um zu entscheiden, ob ich den Post liken soll oder nicht. Zumindest im Kontext von Social Media. Übersetzungsprogramme täuschen mit ihrer makellosen Syntax eine Perfektion vor, die noch nicht gegeben ist. Man muss die Nutzerinnen und Nutzer für die Gefahren sensibilisieren.  

Und ich nähere mich, wenn man an das Erlernen einer Sprache denkt, doch gar nicht mehr dieser Sprache an.

Wir kommen durch automatische Übersetzungen der Sprache und der Kultur, den Menschen, die diese Sprache sprechen, nicht mehr wirklich näher, ja. Dabei verbindet uns Sprache, sie ist das Tor zu anderen Kulturen.

Natürliche Sprache ist komplex. Können die maschinellen Übersetzungsprogramme die Weiten der Sprachen und Kontexte verstehen?

Im Bereich der Medienübersetzung wird die maschinelle Übersetzung als Unterstützung hinzugeholt. Filme etwa basieren auf der Beziehung zwischen dem verbal Geäußerten und den im Bild sichtbaren nonverbalen Elementen – als Menschen können wir Blicke, Intonationen und Gesten mühelos interpretieren und lesen. Für die maschinelle Übersetzung ist diese weitere kommunikative Ebene schwierig zu berücksichtigen. Wichtig ist hier auch die Rolle von Programmen der automatischen Spracherkennung, etwa in der Live-Untertitelung. Die Spracherkennung produziert eine erste verschriftete Version der Lautkette, falls notwendig, wird als nächstes eine maschinelle Übersetzung in eine andere Sprache durchgeführt, und der Mensch glättet und bearbeitet den so entstandenen Untertitel. So werden die Prozesse beschleunigt – es muss schließlich schnell gehen. Es bringt nichts, wenn die Übersetzung eines in der Halbzeitpause geführten Interviews mit dem Fußballbundestrainer mit mehreren Minuten Verzögerung ausgestrahlt wird, wenn das Spiel schon wieder läuft. Ich plane für die kommende Fußballeuropameisterschaft ein Korpus der O-Töne und ihrer mündlichen und schriftlichen Übersetzungen von Fußballern und Trainern aufzubauen.

Wie gut gelingt den maschinellen Programmen die Übersetzung von Humor und Kulturspezifika?

Humor ist ein Bereich, der Maschinen wohl noch sehr lange verschlossen bleiben wird. Bei den Kulturspezifika gibt es dagegen teils klar hinterlegte Übersetzung, aus »prime minister« wird zum Beispiel immer »Premierminister« oder »Premierministerin«. Man kann zudem Taxonomien anlegen, etwa in einer Kochsendung bestimmte Wurstsorten wie »chorizo« als »typisch spanische Wurst« definieren, und dann sehen, was zeitlich machbar ist.

Was erforschen Sie derzeit?

Ein langjähriger Forschungsschwerpunkt ist die Analyse der Anrede und Höflichkeit. Wie zeigen wir zum Beispiel in Filmen die Beziehungsverhältnisse sprachlich an, etwa wie zwei Figuren im Verlauf der Handlung zueinanderstehen. Im Deutschen können wir zwischen den Pronomen »Du« und »Sie« wählen, das hat das Englische nicht: »You can say you to me« – das klappt nicht. Wenn wir englische Filme ins Deutsche synchronisieren, müssen wir andere sprachliche Wege finden, um anzuzeigen, wie nah sich bestimmte Personen sind. Ich bin Mitherausgeberin der Buchreihe »Topics in Address Research«, in der wir einen cross-linguistischen Vergleich zwischen verschiedenen Sprachen anstreben. Ein weiterer Forschungsbereich ist die Frage, was bei einem Medienwechsel sprachlich passiert – etwa von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Ich untersuche hierfür Übersetzungen in den Nachrichten. In journalistischen Texten werden häufig O-Töne zitiert, die aus mündlich geführten Pressekonferenzen oder Interviews stammen und dann später verschriftlicht werden. Modalpartikel wie »halt« und Verzögerungssignale wie »ähm« werden geglättet. Wenn ein Text als Untertitel für ein Nachrichtenvideo produziert wird, muss häufig aber noch weiter gekürzt werden, da das Video Zeichenrestriktionen unterliegt. Bei der Voice-over-Übersetzung kommen oft Paraphrasen hinzu, in die zusätzliche Informationen hineinfließen.

Was sind zukünftige Forschungsfragen?

Spannend ist, mit dem weiteren Anstieg der maschinellen Übersetzungen die Akzeptanz von qualitativ schlechten Übersetzungen zu untersuchen. In welchen Situationen akzeptieren wir eine mittelmäßige Übersetzung als »besser als nichts«, und in welchen Momenten fordern wir eine perfekte Übersetzung ein?

Das Institut für Übersetzungswissenschaft und Fachkommunikation der Universität Hildesheim bildet seit 40 Jahren Übersetzerinnen und Übersetzer aus, darunter Spezialistinnen und Spezialisten im Bereich Sprache und Technik sowie barrierefreie Kommunikation.

In den letzten 40 Jahren haben wir über 2400 Abschlüsse vergeben. Was alle unsere Studiengänge vereint ist die Adressatenorientierung. Wir sind uns bewusst, dass ein Text nicht stumpf eins zu eins übersetzt werden kann. Unseren Studierenden vermitteln wir die Freude am Übersetzungsvorgang und zugleich das technische Wissen, damit sie in unterschiedlichen Branchen auf Augenhöhe etwa mit Ingenieurinnen und Ingenieuren in Teams zusammenarbeiten können. Übersetzerinnen und Übersetzer sind bedeutsam für das Gelingen des Endprodukts. Deutschland als Exportnation lebt nicht nur davon, dass wir hochwertige Güter herstellen – sondern diese müssen gut und verständlich erklärt werden. Am Ende steht nicht nur die Maschine, sondern auch das technische Handbuch, das darlegt, wie das Produkt funktioniert und wie es bedient wird.

Worin besteht Ihre Motivation, die Welt der Übersetzungen zu erforschen?

Mich fasziniert die Vielfalt von Sprache, die Variabilität von Sprache, dass wir mit Sprache unsere Persönlichkeit ausdrücken und Beziehungen gestalten – und dass bei allen Schwierigkeiten das meistens doch ganz gut gelingt. Die Forschung und Lehre am Bühler-Campus in Hildesheim ist geprägt von einer familiären Atmosphäre und einem begeisterungsfähigen Team, ich arbeite sehr gerne mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Nachbarinstituten und mit unseren Studierenden zusammen, die unterschiedliche sprachliche Profile haben und neben unseren Arbeitssprachen zusätzlich auch noch Russisch, Türkisch, Polnisch, Arabisch, Kurdisch oder Thai sprechen.

Die Fragen stellte Isa Lange.

Dieses Interview ist erschienen im aktuellen
Universitätsjournal DIE RELATION, Ausgabe #7, Wintersemester 2020/21,
Schwerpunktthema „Über das Lesen“


Professorin Bettina Kluge forscht und lehrt am Institut für Übersetzungswissenschaft und Fachkommunikation der Universität Hildesheim. Foto: Daniel Kunzfeld