„Kinder sind in der Lage, mehrsprachig aufzuwachsen“

Tuesday, 15. January 2013 um 15:46 Uhr

Wie kann früher Fremdspracherwerb gelingen? Schadet es der Erstsprache, wenn ein Großteil des Unterrichts in einer Fremdsprache, z.B. Englisch, durchgeführt wird? Leidet das Fachwissen im bilingualen Unterricht? Wissenschaftler diskutieren am 19. Januar auf der Fachtagung „Bilinguales Lehren und Lernen“ an der Universität Hildesheim Forschungsergebnisse und ihre praktische Umsetzung.

Nicht erst in Klasse 5 zeigt sich, wie uneinheitlich das Fremdsprachenlernen in Deutschland abläuft: Da sind jene Kinder, die bisher nur zweimal in der Woche eine Englischstunde gehabt, solche, die schon im Kindergarten Englisch gelernt haben, und jene, die in der ganzen Grundschulzeit bilingual unterrichtet wurden. Alle in einem Klassenzimmer. „Mehrsprachigkeit zu fördern ist ein Ziel der EU-Bildungspolitik. Am Ende der Schullaufbahn soll künftig jeder Bürger mindestens zwei Fremdsprachen beherrschen“, sagt Prof. Dr. Kristin Kersten, Juniorprofessorin für Fremdsprachenunterricht und Zweitspracherwerb an der Uni Hildesheim. Um diesen Anspruch zu erfüllen, müsse noch viel geschehen: „In der Grundschule wird häufig notgedrungen fachfremd unterrichtet, die Übergänge von der Kita bis zur weiterführenden Schule sind kaum geregelt.“

Auf der Fachtagung „Bilinguales Lehren und Lernen: Vertiefende Perspektiven“ kommen am Samstag etwa 220 Wissenschaftler, Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte und Studierende an der Universität Hildesheim zusammen. Die Nachfrage ist enorm, berichtet Kersten. Dabei geben die Referenten in Vorträgen und Workshops praktische Hinweise für die Sprachvermittlung in bilingualen Kitas und Schulen.

Wie Fremdsprachenlernen früh und erfolgreich beginnen kann, zeigt sich schon in bilingualen Kindergärten, sagt Kersten und erklärt: „Das Team ist zweisprachig, unter den pädagogischen Fachkräften sind Muttersprachler beider Sprachen. Beim Englischsprechen nehmen die Erzieher_innen Bezug zur Umwelt, setzen Mimik und Gestik, Bilder und Gegenstände gekonnt ein, um das Vokabular verständlich zu machen, und verwenden eine reichhaltige Sprache, mit wiederkehrenden Phrasen, Synonymen, Erklärungen und vielen Wiederholungen.“ In bilingualen Schulen in Hannover und Göttingen untersucht sie, wie Kinder zu 70 % in einer Fremdsprache unterrichtet werden (Filmbeispiel einer Göttinger Grundschule).

Kinder sind in der Lage, mehrsprachig aufzuwachsen, ohne dass die Muttersprache darunter leidet. In einem universitätsübergreifenden Forschungsprojekt, an dem auch die Forschungsbereiche Psychologie und Interkulturelle Kommunikation mitwirken, untersucht Kristin Kersten, welche Faktoren Einfluss auf den frühen Fremdspracherwerb bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund haben. „Die Ergebnisse aus einem abgeschlossenen EU-Projekt in bilingualen Kindergärten weisen darauf hin, dass die Intensität, Dauer des Kontakts sowie das handlungsbegleitende Erlernen der Fremdsprache an Objekten, Bildern und der Umwelt entscheidend sind. Ob die Fremdsprache drei Stunden pro Tag oder eine Stunde pro Woche angeboten wird, ob die jeweilige Erzieherin in der Kita für fünf oder 25 Kinder zuständig ist – das macht viel aus“, sagt sie. Die Faktoren Geschlecht und Migrationshintergrund hatten keinen Einfluss auf das Sprachverständnis.

Welchen Einfluss die Herkunft beim Fremdsprachenlernen in der Schule genau einnimmt, welchen das soziale Umfeld oder die individuellen Voraussetzungen, wollen die Forscher empirisch herausfinden. Welche Potentiale bringen gerade mehrsprachige Kinder für erfolgreichen frühen Fremdspracherwerb mit? Ein Fokus der Studie liegt auf dem Übergang von der Kita in die Grundschule und die weiterführende Schule. Kooperationspartner sind die Hochschulen in Erlangen-Nürnberg, Kiel, Köln, Ludwigsburg, Paderborn und Weingarten. Eine Erweiterung des Projekts auf europäischer Ebene mit Partnerunis in Belgien, England, Estland, Italien, Rumänien und Schweden ist in Planung.

Info: Fachtagung „Bilinguales Lehren und Lernen: Vertiefende Perspektiven“

Kooperationspartner dieser Tagung sind der Verein „FMKS – Frühe Mehrsprachigkeit an Kitas und Schulen“, das Kompetenzzentrum Frühe Kindheit Niedersachsen und das Institut für englische Sprache und Literatur der Universität Hildesheim. Die Universitätsgesellschaft Hildesheim e.V. und das Kompetenzzentrum für regionale Lehrerfortbildung unterstützen die Tagung. Diese wird am Samstag, 19. Januar 2013, von 9:00 bis 17:30 Uhr am Hauptcampus der Universität Hildesheim ausgerichtet. Interessierte können an den Vorträgen am Vormittag teilnehmen.

Prof. Dr. Ute Massler und Prof. Dr. Michael Ewig (PH Weingarten) sprechen über die Leistungsbeurteilung, denn im bilingualen Unterricht sollen Fachinnhalte in gleicher Intensität wie die Sprache gelernt werden – eine Herausforderung für Lehrer und Schüler. Bewertungskriterien und Handlungshilfen für die Unterrichtsplanung, in der Inhalte und Sprache gleichermaßen berücksichtigt werden, existieren bisher nicht in systematischer Form. Prof. Dr. Petra Burmeister (PH Weingarten) wird über Kinder mit Förderbedarf sprechen, Prof. Dr. Kristin Kersten über den Umgang mit Fehlern.

Mit dem Aufbau und der Funktion bilingualer Kindertagesstätten befasst sich ein Workshop von Dr. Anja Steinlen (Universität Erlangen-Nürnberg), mit Entwicklungsstufen im Fremdspracherwerb ein weiterer von Prof. Dr. Andreas Rohde (Universität zu Köln) und Prof. Dr. Kristin Kersten (Uni Hildesheim) auf. Nicole Claire, Leiterin der Kämmer „International Primary School Hannover“ gibt einen Einblick in die Vermittlung der Schriftsprache.


Prof. Dr. Kristin Kersten untersucht an der Uni Hildesheim, welche Rolle die Intensität und Dauer des Kontakts mit der Fremdsprache, die Herkunft und das soziale Umfeld im Fremdspracherwerb bei Kindern spielen.

Prof. Dr. Kristin Kersten untersucht an der Uni Hildesheim, welche Rolle die Intensität und Dauer des Kontakts mit der Fremdsprache, die Herkunft und das soziale Umfeld im Fremdspracherwerb bei Kindern spielen.