Barrierefreie Kommunikation: „Die ganze Theaterbühne ist eine einzige Projektionsfläche“

Monday, 08. January 2018 um 11:01 Uhr

Ein Team um Professorin Nathalie Mälzer entwickelt Übertitel für Theaterstücke. Im Medientextlabor der Universität Hildesheim produzieren Hildesheimer Studentinnen und Studenten Texte für den Bühnenraum. Derzeit sind sie an der Entstehung der Inszenierung des Stückes „Mädchen wie die“ am Schauspielhaus Hannover beteiligt. Im Januar 2018 ist die Premiere des Theaterstücks für hörbeeinträchtigtes und hörendes Publikum.

In Deutschland gibt es zwar einige Theater- und Opernhäuser, die bei fremdsprachlichen Inszenierungen Übertitel in anderen Sprachen anbieten. Oben über der Bühne befindet sich dann oft eine dezente LED-Leiste, über die Texte dargestellt werden. Aber in der deutschen Bühnenlandschaft findet man so gut wie keine Übertitel für Hörgeschädigte oder Gehörlose, sagt Professorin Nathalie Mälzer. Die Professorin für Übersetzungswissenschaft entwickelte bereits in der Vergangenheit mit Studentinnen und Studenten und Kooperationspartnern Übertitel für Theaterstücke, die sich an Gehörlose, Schwerhörige und Hörende richten.

Neben Gebärdensprache und Lautsprache kommt auf der Bühne ein drittes kommunikative Element zum Einsatz: Übertitel. Worte werden im gesamten Bühnenraum projiziert. Wenn eine Schauspielerin schreit, platzieren die Medienübersetzerinnen und Medienübersetzer das Schriftbild im kompletten Bühnenraum in riesigen Großbuchstaben und umschreiben das Gefühl nicht mit der Formulierung „(schreiend)". Statt Text in eine dezente LED-Leiste zu setzen werden die Übertitel Teil des Bühnenbildes.

Professorin Nathalie Mälzer untersucht in Rezeptionsstudien, wie die Übertitel beim hörenden und nicht hörenden Publikum ankommen. Inwiefern stoßen die Hildesheimer Übertitelungskonzepte auch bei einem hörenden Publikum aus Jugendlichen und Erwachsenen auf Akzeptanz, verstehen gehörlose Jugendliche und Erwachsene das Theaterstück besser?

Teil des Bühnenbildes: Texte füllen den ganzen Bühnenraum aus

Die Ergebnisse der Hildesheimer Forschung sind für Theaterhäuser in Deutschland interessant. So entstand auch der Kontakt zum Schauspielhaus Hannover. Das Theaterhaus entwickelt derzeit in Kooperation mit den Hildesheimer Wissenschaftlerinnen die Inszenierung „Mädchen wie die“ (hier geht's zum Trailer). Die Premiere ist am 12. Januar 2018. Regisseurin ist Wera Mahne. Sie ist freie Regisseurin und arbeitet unter anderem mit dem Performancekollektiv „Klub Kirschrot“. Wera Mahne studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim und Portugal. In das Bühnenbild werden auch Videos des Videokünstlers Declan Hurley eingebunden. Es gehört zum Konzept der Regie und der Videokunst, den gesamten Bühnenraum zu nutzen, um Worte zu projizieren. Die Inszenierung des Stücks wird gefördert durch Cochlear, die Hannoversche Volksbank, die Stiftung Niedersächsischer Volksbanken und Reiffeisenbanken sowie die Hörregion Hannover. Das Übersetzungsprojekt der Uni Hildesheim wird gefördert von der Stiftung Niedersachsen der der Calenberg-Grubenhagensche Landschaft.

Die Übertitel werden auf der Bühne keine Fremdkörper sein. „Die ganze Theaterbühne ist eine einzige Projektionsfläche, wir nutzen die Wörter und den Bühnenraum, die Übertitel haben bei uns nicht bloß die Funktion, dass die Zuschauer den Inhalt verstehen. Wir binden die Übertitel als ästhetische Elemente in den Theaterraum ein“, sagt die Studentin Hannah Schwarz. Sie studiert im Masterstudiengang „Medientext und Medienübersetzung“ und gehört zu dem Projektteam, das die Übertitel entwickelt.

Die Studierenden entwickeln derzeit die Texte, dabei müssen sie kürzen und Prioritäten setzen, da nicht der komplette Stücktext Eins zu Eins wiedergegeben werden kann. Sie begleiten im Dezember und Januar die Probenarbeit in Hannover und erstellen die Übertitel für die Aufführungen. Dabei arbeiten sie auch mit dem Videokünstler Declan Hurley zusammen. Während der Vorstellungen werden die Übertitel live auf den Bühnenraum projiziert. Eine Herausforderung: Das Theaterstück „Mädchen wie die“ hat ein hohes Tempo, es handelt von Cybermobbing und die Texte folgen rasant aufeinander, arbeiten mit vielen Wiederholungen und Kraftausdrücken. „Unsere Übertitel werden zu einem theatralen Element des Bühnenbildes, die Texte füllen den ganzen Bühnenraum aus, unsere Vorgehensweise eignet sich bei diesem Stück besonders gut, da wir mit den Texten zum Beispiel Chatrooms und Cybermobbing darstellen“, sagt Professorin Nathalie Mälzer.

Auch Geräusche und Musik werden als Texte dargestellt

Die Doktorandin Hanna Bock begleitet die Probenarbeit intensiv und untersucht in ihrer Doktorarbeit unter anderem, wie diese Art der Inszenierung und die vermittelte Kommunikation zwischen hörenden und gehörlosen Schauspielerinnen die Probenprozesse verändert. Die Doktorarbeit zum Thema „Translatorische und theaterpraktische Aspekte bei der Produktion inklusiver Theaterprojekte“ entsteht derzeit.

Professorin Nathalie Mälzer plant schon die nächste Inszenierung. Gemeinsam mit der Grazer Regisseurin Lina Hölscher möchte die Hildesheimer Wissenschaftlerin Georg Büchners „Woyzeck“ im Jahr 2019 auf die Bühne bringen. Bisher liegen keine Forschungserkenntnisse vor, wie Erstellung von Übertiteln gelingt, wenn bereits existierende Dramentexte inklusiv inszeniert werden.

Kurz erklärt: Was bei der Produktion von Übertiteln beachtet werden muss

Die Hildesheimer Medienübersetzerinnen und Medienübersetzer richten sich mit ihren Texten an hörende, gehörlose und hörgeschädigte Menschen, sie müssen daher immer die Mehrfachfunktion der Übertitel vor Augen halten. Der Übertitel übersetzt nicht einseitig Lautsprache für hörgeschädigte Menschen, sondern auch Gebärdensprache für hörende Menschen, die nicht gebärden. Außerdem kann der Übertitel auch die Rolle einer Figur übernehmen. Die Übersetzerinnen und Übersetzer müssen sich also zunächst konzeptionell überlegen, wie die schriftliche Dramenvorlage sinnvoll in Lautsprache-Gebärdensprache und Schriftsprache (Übertitel) aufgeteilt werden kann, an welchen Stellen der Übertitel als eigenständige Figur auftritt und wann er als Vermittler zwischen Hörenden und Gehörlosen fungiert. Im Unterschied zu Texten, die durch LED-Leisten laufen, kann der Untertitel überall im Raum und auf die Körper der Schauspielerinnen projiziert werden, Teil von Videoprojektionen werden und ganz unterschiedliche Formen annehmen. Der Übertitel ist spielerisch und kreativ wie Schrift in Comicpanels.

„Wir übersetzen nicht nur interlingual, also ‚von einer Sprache in die andere‘. Wir finden auch Wege, um Geräusche oder Musik in den Übertiteln wiederzugeben“, sagt die Studentin Hannah Schwarz. Es werde auch Momente im Stück geben, in denen gebärdet, aber die Gebärden nicht in Laut- oder Schriftsprache übersetzt werden – jeder, ob hörend, nicht hörend oder schwer hörend, könne in die Situation des „Nicht-Verstehens" kommen, so Schwarz.


Die Medienübersetzerinnen und Medienübersetzer um Professorin Nathalie Mälzer übersetzen nicht nur interlingual, also von einer Sprache in die andere. Sie finden auch Wege, um Geräusche oder Musik in Übertiteln wiederzugeben. Die Texte füllen den Bühnenraum. Das Foto zeigt eine Probensituation während einer früheren Inszenierung in Hildesheim während des Stücks „Club der Dickköpfe & Besserwisser“ des Performancekollektivs Klub Kirschrot (www.klubkirschrot.de). Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim (3), Foto Bühnenmodell und Besprechung (2): Medienübersetzen/Uni Hildesheim

Die Medienübersetzerinnen und Medienübersetzer um Professorin Nathalie Mälzer übersetzen nicht nur interlingual, also von einer Sprache in die andere. Sie finden auch Wege, um Geräusche oder Musik in Übertiteln wiederzugeben. Die Texte füllen den Bühnenraum. Das Foto zeigt eine Probensituation während einer früheren Inszenierung in Hildesheim während des Stücks „Club der Dickköpfe & Besserwisser“ des Performancekollektivs Klub Kirschrot (www.klubkirschrot.de). Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim (3), Foto Bühnenmodell und Besprechung (2): Medienübersetzen/Uni Hildesheim