Inhaber des Unternehmens ic! berlin

„Letzten Endes ist diese Firma eine große Kunstaktion“

Ralph Anderl, 42, Blechbrillenverkäufer in Berlin. Mit seiner Firma ic! berlin ist er auf der ganzen Welt erfolgreich und dass trotz – oder gerade wegen? – seines Kulturpädagogik-Studiums in Hildesheim.

„Es gibt drei Gerüchte über mich. Ich kokse. Ich bin schwul. Und ich bin Scientologe“, wird Ralph Anderl in einem Porträt über sich und sein Unternehmen zitiert. Die google-Bildersuche spuckt Fotos aus, die diese Annahmen nicht gerade entkräften. Die Bilder zeigen Anderl selbstbewusst, prollig, mit Genuss an der Selbstdarstellung, auch mal nackt auf einer Modenschau. Man merkt sofort: Dieser Mann gehört zur kreativen Upper Class. Man merkt aber auch: Dieser Mann hat Humor – und immer eine Brille auf der Nase. Diese Brille hat ihn reich gemacht.

„Am Anfang war es fast wie ein kulturpädagogisches Theaterprojekt“

Er und zwei damalige Freunde spüren Mitte der 90er Jahre eine Lücke im Brillenbusiness auf – „es war, als sei Wasser in der Wüste gefunden worden“. Sie fertigen eine Brille nur aus Blech mit einem neuartigen Klick-Gelenk für die Brillenbügel. Als ein großer Brillenproduzent die Umsetzung der Idee ablehnt, starten sie die Selbstvermarktung ihrer Brille, gründen die Firma ic! berlin. Anderl verkauft die Brillen auf Messen „aus dem Jackett heraus“, fährt mit dem Fahrrad durch Berlin, um potentielle Abnehmer zu finden. Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten, der erste Großabnehmer ist ein Händler aus San Francisco, schließlich gewinnt die Brille einen Design-Preis. „Und damit wurde ich vom kulturwissenschaftlichen Promovenden zum Blechbrillenverkäufer.“ Mittlerweile ist Anderl alleiniger Chef der Firma. Schnell baut er ein internationales Vertriebsnetz auf, hat mittlerweile über hundert Mitarbeiter, Geschäftsstellen in Tokio und New York. Die Erfindung macht ihn zum Millionär. Der Hauptsitz ist weiterhin in Berlin, Prenzlauer Berg. Das hohe braune Backsteingebäude ist eine Mischung aus Fabrik, Loft und Atelier. An den Wänden hängen bunte, schrille Malereien, von Anderl selbst gemalt. „Letzten Endes ist diese Firma eine große Kunstaktion.“ Anderl macht sich seine Welt, wie sie ihm gefällt. 2006 gründet er den ic! berlin-Firmenchor, seitdem wird jeden Morgen gesungen. An Weihnachten gibt es für die Kunden eine CD mit selbst eingesungenen Weihnachtsliedern. Anderl ist Marketing-Chef, Creative Director, Model und Fotograf in einem. ic! berlin ist Ralph Anderl. Denn das, was ic! berlin ausmacht, ist nicht nur die innovative Brille, sondern vor allem er selbst.

„Ich kann an Sachen glauben bis zum Wahnsinn“

Schwul sei er im Übrigen nicht und auch nicht drogenabhängig oder bei Scientology, versichert er. Lachen darüber kann er trotzdem und googelt sich mal eben selbst. Solche Gerüchte entstehen meist dann, wenn jemand aus der Reihe tanzt, anders ist – eben Anderl ist. Seine gute Laune, sein selbstbewusstes Auftreten, sein Selbstdarstellungsdrang, sein Erfolg – man sucht eine Erklärungen dafür, so entstehen Gerüchte. Anderl ist gerne das Maskottchen von ic! berlin, es ist sein Erfolgsrezept, „sich letzten Endes so sehr in den Mittelpunkt setzen, bis es keiner mehr ignorieren kann.“ Auch wenn man es nicht erwarten würde: Die Grundlage für seinen Erfolg sieht Anderl in seinem Kulturpädagogik-Studium in Hildesheim in den frühen 90er Jahren. Zwar lernt er hier weder Unternehmensführung noch Betriebswirtschaft, trotzdem bestehe eine „relativ direkte Linie von der Kulturpädagogik zu so etwas wie Blechbrillenverkäufer.“ Schließlich ist sein Unternehmen eher ein kreativer Spielplatz als ein
durchrationalisiertes, gesichtsloses Wirtschaftsunternehmen. Anderl sieht den Vorteil gegenüber einem klassischem BWL-Studium darin, „dieses umgreifende kulturelle Wissen zu haben“, im Sinne von „Ah, Sie haben da ja einen Picasso-Druck an der Wand hängen“, das einem bei Geschäftskollegen viel mehr Türen öffnet, „als wenn man irgendeinen anderen Blödsinn redet.“ Was er besonders am Studium geschätzt habe, sei „das universelle Umherirren. Die Freiheit, dass man sich angeregt von guten Professoren durch die Welt des Geistes bewegt. Das war für mich eine Grunderfahrung.“ Anderl hat eine große Portion Mut, Risikobereitschaft und die Fähigkeit, an Dinge zu glauben. Er betritt das für ihn ungewohnte Wirtschaftsterrain, ohne eine darauf direkt abzielende Ausbildung absolviert zu haben. Es ist für ihn das Studium, das trotzdem eine Grundlage bietet, „um in der Lage zu sein, schnell auf Ungewohntes zu reagieren.“ Sein Marketing-Know-How lernt Anderl schließlich während eines Praktikums im Rahmen des Studiums in einer Agentur.

„Man rutscht in diese luxurisierten Welten hinein“

Sein mittlerweile hoher Lebensstandard ist für einen Kulturpädagogik-Absolventen eher ungewöhnlich. „Aus der normalen Perspektive oder aus der Studentenperspektive ist das einfach wahnsinnig fancy!“ Zur Uni zurück möchte er trotzdem irgendwann einmal, entweder als Dozent („Ein spannendes Thema für Hildesheim: Was machen Luxusgegenstände mit einem? Das ist eine Bewerbung!“) oder als Student („Nochmal ernsthaft zu singen bzw.
bildende Kunst oder Fotografie zu betreiben“). Ralph Anderl ist einer der Hildesheimer Absolventen, die es geschafft haben, in einem Bereich außerhalb des herkömmlichen Kunst- und Kultursektors erfolgreich zu sein. „Wie bitte, das soll ein Kulturpädagoge gewesen sein? Seltsam, also wo ist denn der hingeraten?“

Text: Leonie Bartmann