Über Präsenz und Digitalität in der Lehre eines kulturwissenschaftlichen Fachbereichs

Als Institut für Philosophie möchten wir den Vorschlag machen, uns im Fachbereich unter Studierenden und Lehrenden über die Möglichkeiten und Grenzen digitaler Lehre auszutauschen. Weil sich die Beurteilung der bisherigen Erfahrungen auf ihre Chancen und Schwierigkeiten hin für jedes im Fachbereich vertretene Institut, jede Forschungsausrichtung und jedes Lehrselbstverständnis verschiedenartig gestaltet, sollten wir darüber miteinander ins Gespräch kommen! 

Wir finden es ausgesprochen wichtig, als Universität an den allgemeinen Lockerungen und Öffnungen unter Einhaltung der allgemein vorgeschriebenen Regeln zu partizipieren und dies vor allem durch diskursiven Austausch zu realisieren. Im gemeinsamen Gespräch sollte ausgelotet werden, wie solche Öffnungsprozesse bei gleichzeitiger maximaler gesellschaftlicher Solidarität und gebotener Vorsicht vollzogen werden können. Wir finden es wichtig, aktiv für eine demokratische Hochschule einzutreten, und sind der Auffassung, dass in einer Phase der Entspannung nach einer Akutsituation ein Diskussionsprozess darüber beginnen muss, wie bestimmte Anweisungen auf Institutsebene in der Lehrpraxis wirken. Es ist uns ein Anliegen, wieder beide Kommunikationsrichtungen zu öffnen, die top-down-Kommunikation und die bottom-up-Kommunikation.

Uns sind drei Ebenen für den Austausch besonders wichtig:

 

A) Lehrpraxis und Fachverständnis

Die digitale Lehre, z.B. über die verschiedenen Funktionen im Learnweb und über Big Blue Button, bieten vielfältige Möglichkeiten für die Stoffvermittlung, für Gruppengespräche und für interaktive schriftliche Formate. Es gibt unbestreitbar digitale Tools, die sehr fruchtbar in die Präsenzlehre zur gemeinsamen Vor- und Nachbereitung übernommen werden können. Uns ist es nach mehreren Wochen Erfahrung mit der rein digitalen Lehre jedoch ein dringliches Anliegen, die Grenzen und den Preis der digitalen Lehre und damit die Unverzichtbarkeit der Präsenzlehre für unser Fach zu betonen.  

Für das Fach Philosophie - dies kann in anderen Fächern natürlich ähnlich oder auch anders sein - ist ein gesprächsorientiertes Lehrkonzept, mit dem Ziel, Studierende darin zu begleiten, reflexive Eigenständigkeit und eine eigene intellektuelle Stimme zu entwickeln, charakteristisch. Philosophische Wissensbildung und die Ausbildung philosophischer Kenntnisse haben einen hohen performativen Anteil, der durch das Zusammenspiel von kognitiven und nicht-kognitiven Dimensionen des Miteinander-Sprechens und Lernens gekennzeichnet ist.  

Im digitalen Raum lassen sich nicht annähernd philosophische Diskussionen in einer Intensität führen, wie wir es sonst in Präsenzveranstaltungen gewohnt sind. Wichtige inhaltliche Linien und Punkte gehen verloren, da sich keine gemeinsame und gesammelte Aufmerksamkeitsstruktur herstellen lässt. Ein gemeinsames, einander anregendes Miteinander-Weiterdenken und Vertiefen reflexiver Prozesse wird verdrängt von einem bloßen Austausch von Informationen. Was durch das digitale Format gefördert wird, ist eine Re-Traditionalisierung der Lehr-Lernsituationen: Das Sprechen im digitalen Raum befördert autoritative Formate frontaler Wissensübermittlung, wie sie in der Hochschuldidaktik seit Jahrzehnten problematisiert werden. 

Die wichtige Funktion des Feedbacks, also der Rückkopplung des eigenen Sprechens mit den Reaktionen der Zuhörenden, des leiblich-affektualen Aufeinander-Reagierens, die ein lebendiges Gespräch kennzeichnen, sind im digitalen Raum schwer bis gar nicht möglich. Als besonders schwierig erweist es sich, unter digitalen Bedingungen ein aktives Zuhören zu entwickeln. Ein Sprechen ins Leere ohne die direkte Wahrnehmung, dass den eigenen Ausführungen zugehört wird, erweist sich als hemmend für Studierende, die einen längeren inhaltlichen Impuls geben oder ihre eigenen Arbeiten im Rahmen von Kolloquien vorstellen.

Die digitale Situation hat für verschiedene Lehrformen verschieden große Konsequenzen:

Die Lehrform „Seminar“ mit hohem Diskussionsanteil ist unter digitalen Bedingungen so gut wie nicht möglich. Produktive Diskussionsabläufe mit mehr als fünf Menschen sind unter digitalen Bedingungen kaum gestaltbar. In Gruppenarbeiten über „Break-out-rooms“ kommt es oft vor, dass Studierende, die sich nicht kennen, gar nichts sagen und eine halbstündige Gruppenarbeit schweigend verläuft – also scheitert.

Die Lehrform „Kolloquium“ funktioniert ausgesprochen zäh. Diejenigen, die eigene Projekte vorstellen, sind leicht verunsichert wegen der verlangsamten und zögerlichen Reaktionen der Zuhörenden – oder eben nicht Zuhörenden. Denn trotz digitaler „Anwesenheit“, können die angezeigten Personen leiblich abwesend sein (Toilette, Kaffee kochen etc.), was bei direkter Ansprache zu einer großen Verunsicherung führt.

Die Lehrform „Vorlesung“ ist unter digitalen Bedingungen ohne jeden Diskussionsanteil in synchroner oder asynchroner Form durchführbar, wobei auch hier die atmosphärischen, leiblich-performativen und spontanen Dimensionen verloren gehen, die nicht nur Heinrich von Kleist für die „Verfertigung der Gedanken“ für zentral hält. Auch die Möglichkeiten, Fragen zu stellen, wird in der Präsenzlehre wesentlich intensiver genutzt als in den schriftlichen Foren, die digital zur Verfügung stehen. Dennoch ist diese Lehrform am ehesten unter digitalen Bedingungen durchführbar.

 

B) Für die Studienpraxis der Studierenden

Für die Sicht der Studierenden möchten wir auf die Stellungnahme der Fachschaft Philosophie verweisen, die Stimmen von PKM- und PKi-Studierenden gesammelt haben. Wir möchten nur einige wenige Eindrücke anführen. Aus Studierendengesprächen in den telefonischen und digitalen Sprechstunden der Lehrenden werden verbreitete Probleme der Studierenden deutlich:

 

C) Für die Dozierenden

- Fast alle unserer „freien“ Lehrbeauftragten sind unter den digitalen Bedingungen nicht bereit, Lehrveranstaltungen zu halten. Das Lehrangebot ist dementsprechend also sehr eingeschränkt, was die ohnehin höhere Arbeitsbelastung des Kernpersonals zusätzlich erhöht - mehr Studierende verteilen sich auf weniger Seminare.

- Digitale Lehre erfordert teils einen deutlichen Mehraufwand für Dozierende: Übliche mündliche Studienleistungsformate sind nicht sinnvoll, müssen in schriftliche Formate transferiert werden.

- Digitale Lehre ist durch die reine Fokussierung auf akustischen Austausch und der damit verbundenen größeren Moderationsleistung der Dozierenden wesentlich anstrengender in der Durchführung – auch für Studierende.

Für uns folgt daraus:

Das aktuelle auf digitale Lehre beschränkte Semester ist ein experimenteller Krisenmodus, der auf ausgewiesene Krisensituationen beschränkt bleiben sollte. Digitale Techniken können Präsenzlehre ergänzen und begleiten, aber nicht ersetzen; eine rein digitale Lehre ist nur als Notbetrieb denkbar. Schließlich halten selbst Fernuniversitäten Präsenzveranstaltungen für unersetzlich – , dies gilt für Universitäten wie die unsere umso mehr.

Gerade im Wintersemester, in dem viele Studierende neu an die Universität kommen, scheint es uns unabdingbar, unter Einhaltung der dann geltenden Hygieneregeln umsetzbare Formen von Präsenzlehre zu entwickeln. Ein Studium neu zu beginnen, ohne überhaupt ein Gesicht zu sehen und die Möglichkeit zu haben, sich mit anderen Studierenden zusammenzufinden, ohne ein studentisches Miteinander, scheint uns nicht möglich zu sein. Es droht Vereinzelung der Studienanfänger*innen, mit einem Steigen der Studienabbruchquote ist zu rechnen.

Daher: Es ist Zeit für einen lebendigen Diskurs darum, wie wir unter den gegenwärtigen Herausforderungen gut lehren und lernen wollen.

Das Institut für Philosophie
(Rolf Elberfeld, Antje Géra, Andreas Hetzel, Mareike Kajewski, Lars Leeten, Daniela Voss, Katrin Wille)