Zehn Jahre Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche: Wie entwickelt sich mein Kind?

Wednesday, 13. November 2019 um 08:05 Uhr

Ein Team um Psychologieprofessorin Claudia Mähler untersucht in der Hochschulambulanz „Kind im Mittelpunkt“ an der Universität Hildesheim seit 10 Jahren, wie Kinder mit Lernschwierigkeiten sich entwickeln. Etwa 1000 Familien aus der Region mit Kindern zwischen 2 bis 17 Jahren nutzten das Angebot bisher, die meisten Kinder sind im Grundschulalter. Nun feiert das Forschungsteam das zehnjährige Jubiläum mit einem öffentlichen Festakt.

Zehn Jahre Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche
Öffentlicher Festakt und Empfang
Mittwoch, 6. November 2019, 15:00 Uhr
Audimax, Hauptcampus der Universität Hildesheim

Die Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche „Kind im Mittelpunkt“ feiert ihr zehnjähriges Jubiläum. Neben Einblicken in Forschung und Praxis in der Ambulanz hält Prof. Dr. Manfred Döpfner (Universitätsklinik Köln) den Festvortrag zum Thema „Wenn Lernstörungen auf psychische Störungen treffen – was tun?“. Die Veranstaltung ist öffentlich und kostenfrei.

Ein Team um Psychologieprofessorin Claudia Mähler untersucht in der Hochschulambulanz „Kind im Mittelpunkt“ an der Universität Hildesheim seit 10 Jahren, wie Kinder mit Lernschwierigkeiten sich entwickeln. Etwa 1000 Familien aus der Region mit Kindern zwischen 2 bis 17 Jahren nutzten das Angebot bisher, die meisten Kinder sind im Grundschulalter.

Statt im Hörsaal steht Claudia Mähler zwischen Knete, Kinderzeichnungen, Bausteinen. Aus der früheren Uni-Hausmeisterwohnung ist vor zehn Jahren die Forschungs- und Lehrambulanz „Kind im Mittelpunkt“ (KiM) geworden. „Das Gute an der Lage ist: Wir haben einen eigenen Eingang und können die Wohnung gestalten, so wie es passend ist für unsere Arbeit“, sagt die Professorin für Pädagogische Psychologie der Universität Hildesheim.

Täglich kommen und gehen Familien zur Universität. Im Rahmen von Forschungsprojekten und Studien suchen die Hildesheimer Wissenschaftlerinnen nach bestimmten Kindern. Über sieben Jahre haben sie zum Beispiel die Entwicklungsverläufe von 200 Kindern untersucht – vom Kindergarten bis in das vierte Schuljahr. Die „schulischen Vorläuferfertigkeiten“ tragen maßgeblich zu den Schulleistungen in der Grundschule bei. Zur Zeit läuft eine Studie, in der ein Fragebogen entwickelt wird, der die psychische Belastung von Kindern mit Lernproblemen erfassen soll.

Neben Forschungsprojekten und Studien bietet die Hochschulambulanz KiM einen offenen Zugang für Familien aus der Region

Außerdem bietet die Ambulanz einen offenen Zugang an. Familien können anrufen, wenn sie Entwicklungsschwierigkeiten beobachten, etwa wenn ein Vorschulkind in der Sprachentwicklung zurückliegt. Oder der Kindergarten schlägt vor, das Kind in der Ambulanz vorzustellen, da es Auffälligkeiten in der Motorik, beim Greifen, Halten, Drehen, Sprechen zeigt. Oder in den ersten Schuljahren wird deutlich, dass Kinder mit den Anforderungen nicht klarkommen.

Zentrale Erkenntnisse aus der Forschung in der Ambulanz fasst Professorin Claudia Mähler zusammen: „Lernschwierigkeiten gehen mit zahlreichen emotionalen und Verhaltensschwierigkeiten einher. Das Arbeitsgedächtnis spielt eine wichtige Rolle unter den Ursachen der Lernschwierigkeiten. Lernschwierigkeiten bleiben über die Zeit hartnäckig bestehen. Psychoedukation spielt eine wichtige Rolle in der Diagnostik und Beratung von Familien. Es gibt Interventionsbedarf sowohl zur Verbesserung der betroffenen Schulleistungen durch Lerntherapie. Außerdem müsste beim Umgang mit den sekundären Schwierigkeiten wie Aufmerksamkeitsproblemen, Selbstwertproblemen und Schulangst stärker interveniert werden.“

Wie entwickelt sich mein Kind? – Entwicklungsverläufe von Kindern erforschen

1000 Familien aus der Region haben das offene Angebot des Forschungsteams in den vergangenen zehn Jahren genutzt. Meist kommen Sechs- bis Zehnjährige, seltener auch Kinder höherer Klassenstufen, in die Hochschulambulanz: Weil sie in der Grundschule nicht mitkommen – beim Lesen, Schreiben, Rechnen –, oder Kinder, „bei denen man den Eindruck hat, sie profitieren nicht vom Unterricht, weil sie unaufmerksam sind“.

„Die Familien machen sich Sorgen, sie spüren, ob in den ersten Schuljahren das Lesen oder Schreiben lernen gelingt oder nicht. Beim ersten Gespräch sind alle etwas aufgeregt, sie haben sich endlich auf den Weg gemacht, darüber zu sprechen. Manche hoffen, dass es doch nicht so schlimm ist. Manche hoffen auf Gewissheit, auf Sicherheit“, sagt Claudia Mähler. „Wir nutzen standardisierte Testverfahren. Damit können wir an einer repräsentativen Stichprobe der ganzen Bundesrepublik feststellen, inwiefern ein Kind tatsächlich gravierend mehr Schwierigkeiten als andere Kinder hat“, so die Psychologieprofessorin.

Die Ambulanz hat eine eigene „Testothek“. Die Ergebnisse teilen die Forscherinnen den Kindern und Eltern mit. Kinder haben einen Anspruch auf Nachteilsausgleich in der Schule und benötigen meist eine Lerntherapie. Außerdem bietet die Hochschulambulanz Psychotherapie an. Psychologiestudierende erhalten in der Ambulanz Einblicke in die kindliche Entwicklung, in Lehrveranstaltungen, Praktika und Abschlussarbeiten wirken sie in der Diagnostik mit. Psychologinnen bringen ihre Praxiserfahrungen in die Lehrerausbildung ein, etwa in Seminaren zu Lern- und Verhaltensschwierigkeiten.

Große Heterogenität der kognitiven Kompetenzen und der Vorläuferfertigkeiten, die für einen gelungenen Schulstart wichtig sind

„Eine besondere Herausforderung für die frühkindliche Bildung stellt die große Heterogenität der kognitiven Kompetenzen und der für den gelungenen Schulstart wichtigen Vorläuferfertigkeiten der Kinder dar. Während einige Kinder sehr gut gerüstet sind, zeigen andere Kinder noch Entwicklungsrückstände zum Beispiel in Bezug auf die sprachliche Entwicklung, auf die phonologische Bewusstheit oder auch auf mathematische Basisfertigkeiten. Eine frühe Förderung macht also Sinn, um die Chancengleichheit für alle Kinder zu erhöhen. Eine besondere Rolle spielen dabei alle Formen der alltagsintegrierten Förderung, die im Kita-Alltag und wenn möglich in spielerischer Weise zur frühkindlichen Bildung beitragen. Aber auch zusätzliche Interventionsprogramme für einzelne benachteiligte Kinder können von Bedeutung sein", sagt Professorin Claudia Mähler.

Sind die Kinder dann in der Schule und es treten Schwierigkeiten auf, sind eine frühe Diagnostik und Intervention eine große Hilfe. „Wir investieren viel Zeit in eine gründliche Diagnostik und eine umfangreiche Aufklärung der Familien“, so Professorin Claudia Mähler. Hierzu wurde in einer Studie eigens Material entwickelt und evaluiert, das dabei hilft, auf kindgerechte Weise mit den Eltern und Kindern über die Lernprobleme und vor allem auch über die Bewältigung ins Gespräch zu kommen. Psychotherapeutische Gruppenprogramme wurden in Zusammenarbeit mit Studierenden konzipiert und unterstützen die Kinder dabei, die Frustration über die Lernschwierigkeiten zu bewältigen und ein gutes Selbstwertgefühl zu erhalten oder wieder aufzubauen. Besonders schwer haben es Kinder mit gleichzeitigen Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen. Für diese Kinder gibt es ein Angebot, das sich an Kinder in kleinen Gruppen und ebenso an ihre Eltern richtet. Hier heißt es Regulationsstrategien zu entwickeln, zu lernen die Aufmerksamkeit zu steuern auch und gerade in den Lernbereichen, die den Kindern schwerfallen.

Ergebnisse aus der Forschung wieder zurückzuspielen in die Praxis sei „eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt“, sagt Claudia Mähler. Mit der Grundlagenforschung hat das Hildesheimer Team das Ziel „die Entwicklungsunterschiede zwischen Kindern besser zu verstehen“. „Wenn Kinder tatsächlich auf der Strecke bleiben oder ein Risiko in der Entwicklung besteht, ist es wichtig, zu intervenieren. Und das können nur diejenigen machen, die die Kinder am meisten sehen. Das sind die Eltern, denen wir regelmäßig Rückmeldungen geben, und das sind die pädagogischen Fachkräfte in Kitas und Schulen“, sagt die Professorin. Deshalb gehen die Wissenschaftlerinnen in Kitas und Schulen und bieten Fortbildungstage an.

Einige Fakten zur Hochschulambulanz „Kind im Mittelpunkt“:

Wie viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler + studentische Hilfskräfte arbeiten in der Hochschulambulanz „Kind im Mittelpunkt"?

  • inklusive Leitung 8 wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (4 davon auch in Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin oder zur Psychologischen Psychotherapeutin), alle in Teilzeit, da sie auch andere Aufgaben haben (Lehre, Forschung etc.)
  • 1 Verwaltungskraft (medizinische Fachangestellte)
  • 2 Praktikantinnen in Ausbildung zum/zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_in/ Psychologischen Psychotherapeutin
  • 3 studentische Hilfskräfte
  • immer ca. 3 bis 6 studentische Praktikantinnen und Praktikanten

Wie viele Familien/Kinder wurden in den 10 Jahren erreicht?

  • Insgesamt mehr als 1000 Familien, viele davon waren mehrfach bei der Hochschulambulanz KiM vorstellig.

Die Kinder, die in die Ambulanz kommen, sind im Alter von:

  • 2 bis 17 Jahre
  • die meisten Kinder sind jedoch im Grundschulalter

Was sind wesentliche Ergebnisse aus der Forschungsarbeit an der Hochschulambulanz „Kind im Mittelpunkt“?

Forschungsschwerpunkte sind:

  • differentielle Entwicklungsverläufe von Vor- und Grundschulkindern
  • Sprachentwicklung und Sprachförderung in der frühen Kindheit
  • Ursachen- und Interventionsforschung bei Lernstörungen
  • Entwicklung und Evaluation diagnostischer Instrumente

Wichtige Ergebnisse aus der Hildesheimer Forschung:

  • Psychoedukation spielt eine wichtige Rolle in der Diagnostik und Beratung von Familien
  • Lernschwierigkeiten gehen mit zahlreichen emotionalen und Verhaltensschwierigkeiten einher
  • Das Arbeitsgedächtnis spielt eine wichtige Rolle unter den Ursachen der Lernschwierigkeiten
  • Lernschwierigkeiten bleiben über die Zeit hartnäckig bestehen
  • Es gibt Interventionsbedarf sowohl zur Verbesserung der betroffenen Schulleistungen (Lerntherapie) als auch zum Umgang mit den sekundären Schwierigkeiten (Aufmerksamkeitsprobleme, Selbstwertprobleme, Schulangst u.a.m.)

Worin sehen Sie die Hauptaufgaben der Ambulanz, etwa im Transfer von Forschungserkenntnissen in die Gesellschaft, um in der Region Familien und Kinder mit zum Beispiel Kinder mit Lern- und Aufmerksamkeitsschwierigkeiten in ihrer Entwicklung zu unterstützen und frühestmöglich etwa Lernschwierigkeiten zu diagnostizieren?

  • Verknüpfung von Praxis, Lehre und Forschung
  • Transfer von Forschungserkenntnissen in die Gesellschaft
  • Beratung und Therapie für Kinder mit Lern-, Entwicklungs- und/oder Verhaltensauffälligkeiten
  • Gute Ausbildung für Psychologiestudierende und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Ausbildung (z.B. durch Einbindung der Studierenden durch Vernetzung mit Lehrveranstaltungen und Praktika)
  • Vernetzung mit Praxispartnern in Schule, Vorschule und außerschulischer Förderung
  • Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften in Schulen und Kindertagesstätten

Gibt es ähnliche Ambulanzen in der Bundesrepublik? Was ist das Alleinstellungsmerkmal in Hildesheim?

  • Ja, es gibt Hochschulambulanzen für Kinder- und Jugendliche und auch für Erwachsene an anderen Universitäten (z.B. in Göttingen oder Braunschweig)
  • Besondere Verzahnung in Hildesheim mit dem Schwerpunkt Pädagogische Psychologie, daher Berücksichtigung des Themas Lernschwierigkeiten und Bewältigung, Gruppenangebote zum Coping mit den emotionalen Folgeproblemen; Gruppenangebote für Kinder mit komorbiden Auffälligkeiten (Lern- und Aufmerksamkeitsprobleme)
  • Besondere Verzahnung mit dem Thema Sprachentwicklung und dem Interventionsprojekt KEA

Das Team der Hochschulambulanz „Kind im Mittelpunkt“ der Universität Hildesheim begleitet unter anderem Familien, die bei ihren Kindern Entwicklungsschwierigkeiten beobachten. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim