Eine Stadt unter der Lupe: Wie Kinder sich entwickeln

Tuesday, 19. January 2016 um 19:50 Uhr

Entwicklungsunterschiede besser verstehen: In einer Langzeitstudie hat ein Team um Professorin Claudia Mähler sieben Jahre lang erfasst, wie Kinder sich entwickeln – von der Kita über die Grundschulzeit bis in die weiterführende Schule. Ohne Familien und ihre Offenheit für Forschung käme die Wissenschaft nicht weiter, sagt die Professorin. Einblicke in das „Koko“-Forschungsprojekt an der Universität Hildesheim.

Wissenschaft ist ein kleines Stofftier, ein Affe – so könnte man das kurz zusammenfassen. Emma ist jetzt elf Jahre. Sie ist mit der Forschung aufgewachsen. Beim Start eines groß angelegten Forschungsprojektes von Psychologinnen der Universität Hildesheim ging Emma noch in den Kindergarten, mittlerweile besucht sie die 6. Klasse. Und sie ist ziemlich stolz, bei der Forschung mitzuhelfen, sagt Emma, während sie „Koko“ in den Arm drückt. „Koko“, das ist ein kleiner Affe aus Stoff, der „eigentlich immer dabei war“, sagt Emmas Mutter Kerstin Taubitz. „Auf Briefköpfen, während der Untersuchung saß das Plüschtier am Tisch.“

Emma und ihre Mutter haben die Uni-Arbeitsgruppe um Professorin Claudia Mähler besonders unterstützt. Sie gehören zu den Familien aus der Region, die über sieben Jahre Einblicke in die kindliche Entwicklung gegeben haben. Die Familien signalisieren durch ihre Teilnahme an der Studie Offenheit für und Interesse an Wissenschaft. „Das ist sehr wichtig, in den Kindergärten war die Bereitschaft noch größer, da die Jungen und Mädchen in der Kindergartenzeit untersucht wurden. Die wirklich engagierten Eltern sind dann auch noch bei der Stange geblieben, als die Kinder in die Schule kamen und die Diagnostik zu Hause durchgeführt wurde. Leider sind manche abgesprungen, aber viele Familien waren weiterhin dabei, das ist großartig“, sagt Claudia Mähler. „Wir machen mit, seit sieben Jahren, sonst geht die Forschung nicht weiter“, begründet Kerstin Taubitz die langfristige Teilnahme an der Studie.

Vor sieben Jahre hat die Hildesheimer Professorin Claudia Mähler gemeinsam mit Professor Dietmar Grube aus Oldenburg das Forschungsprojekt „KOKO“ gestartet, in dem ein Team aus Psychologinnen und Studierenden die „differentielle Entwicklung von Kindern“ vor allem im kognitiven Bereich seit ihrem dritten Lebensjahr untersucht (mehr zum Projekt: siehe Infokasten unten). Über einen Zeitraum von sieben Jahren wurde die Entwicklung von insgesamt 200  Kindern im Raum Hildesheim untersucht. Erst gingen sie in den Kindergarten, dann haben die Wissenschaftlerinnen den Übergang in die Schule und die Grundschulzeit begleitet bis die Kinder nun in weiterführenden Schulen angekommen sind.

Der Psychologiestudent Torsten Erhard gehört seit drei Jahren zum Team. Er führt Testungen bei Familien zu Hause durch, in ihrer vertrauten Umgebung – sie tragen Namen wie „Arbeitsgedächtnistestbatterie“. Etwa eine Stunde dauert die AGTB, Quadrate und Punkte leuchten auf einem Bildschirm auf, das Kind muss sich den Weg merken. Die Testverfahren sind adaptiv, passen sich an, um das Kind nicht zu über- oder zu unterfordern. Nach den Testungen wertet Torsten Erhardt die Tests aus, schreibt Elternbriefe. „Es gibt keine typische Woche“, sagt der Student. Der Kontakt zur Forschung hat bei ihm mit einem Praktikum in der Hochschulambulanz „Kind im Mittelpunkt“ begonnen. „Es ist eine wichtige Erfahrung und spannend, an einer Längsschnittstudie mitzuwirken und die Entwicklung abzubilden.“

Jeanette Piekny ist seit Beginn des „Koko“-Projekts dabei. „Uns hat vor allem interessiert, welche frühkindlichen kognitiven Fähigkeiten es genau sind, die am Ende einen Einfluss darauf haben, ob ein Kind in der Schule gut zurechtkommt und eine gute Schulleistung zeigt“, sagt die Psychologin. Welche Fähigkeiten sollte man in welcher Weise und vor allem zu welchem Zeitpunkt fördern? „Manche Fähigkeiten erfahren in bestimmten Altersstufen einen besonderen Entwicklungssprung“, sagt Piekny. So ist zum Beispiel für die Entwicklung der phonologischen Bewusstheit das sechste Lebensjahr eine besonders sensible Phase.

Sollte man ein Kleinkind in den mathematischen Vorläuferfertigkeiten jeden Tag fördern – zum Beispiel gemeinsam Mengen vergleichen? Oder bringt das erst etwas, wenn man das Rechnen täglich in der Schule anwendet? Nach sieben Jahren hat die Hildesheimer Arbeitsgruppe herausgefunden: „Schon die frühe Beschäftigung mit Zahlen ist für sehr lange Zeit entscheidend für die Rechenfähigkeiten im Grundschulalter. Solche Hypothesen prüfen wir – wir hätten ja genauso gut als ein Ergebnis herausfinden können: Es macht überhaupt keinen Unterschied, ob man das mit vier Jahren kann oder nicht“, so Piekny.

„Unsere Daten zeigen: Die Unterschiede, die zwischen den Kindern in diesen Kompetenzen bestehen, sind bereits im Alter von vier Jahren sehr groß. Es ist nicht so, dass Vierjährige alle nichts können, was vielleicht manche Leute denken“, so Piekny. Der eine kann erkennen, was mehr oder weniger ist. Manche Kinder können schon Ziffern erkennen, Mengen abzählen, Mengen zusammenzählen – andere können das weniger gut. „Interessant ist, dass diese Unterschiede vergleichsweise stabil bleiben und sich in die Grundschulzeit hineinziehen“, sagt Jeanette Piekny. Es sei nicht so, dass die Mehrheit der Kinder alles aufholt und dann mit sechs Jahren auf dem gleichen Stand eingeschult wird.

Auch im phonologischen Bereich, der die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten entscheidend beeinflusst, haben die Wissenschaftlerinnen der Universität Hildesheim früh Unterschiede gefunden, die über längere Zeit erhalten bleiben und spätere Unterschiede erklären. „Auch hier ist die Kindergartenzeit ein sehr entscheidender Zeitraum“, sagt die Psychologin Jeanette Piekny. „Die Zeit zwischen drei und sechs Jahren ist für die späteren Schulleistungen immens bedeutsam. Dieser Altersbereich wurde über lange Zeit unterschätzt, man hat erst der schulischen Bildung eine Bedeutsamkeit zugemessen. Das erfordert ein riesiges Umdenken in Politik und Bildungseinrichtungen.“ Die Startchancen in der ersten Klasse sind sehr unterschiedlich, so Piekny. Es sei „bedeutsam, was Erzieherinnen den Tag über mit Kindern tun“. „Wir untersuchen die Unterschiede nicht, um den Finger auf ein Kind zu zeigen und die Defizite zu erklären. Sondern wir verfolgen einen konstruktiven Ansatz: Was kann man besser machen?“, ergänzt die Wissenschaftlerin Kirsten Schuchardt.

Ergebnisse aus der Forschung wieder zurückzuspielen in die Praxis sei „eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt“, sagt Claudia Mähler. Mit der Grundlagenforschung hat das Hildesheimer Team das Ziel „die Entwicklungsunterschiede zwischen Kindern besser zu verstehen“. „Wenn Kinder tatsächlich auf der Strecke bleiben oder ein Risiko in der Entwicklung besteht, ist es wichtig, zu intervenieren. Und das können nur diejenigen machen, die die Kinder am meisten sehen. Das sind die Eltern, denen wir regelmäßig Rückmeldungen geben, und das sind die Erzieherinnen“, sagt die Professorin. Deshalb gehen die Wissenschaftlerinnen in Kitas und bieten Fortbildungstage für Erzieherinnen und Erzieher an. „Das ist der Sinn der Sache: Das was wir verstehen vom Gedeihen der Kinder, davon sollen die Erzieherinnen auch profitieren“, beschreibt Mähler die Verbindung von Forschung und Praxis. So besuchen die Fachkräfte Fortbildungstage zu verschiedenen Entwicklungsbereichen wie numerische Kompetenzen oder Sprache und Gedächtnis. „Wir bemühen uns, die Forschungsergebnisse nicht nur auf Fachtagungen zu publizieren, sondern in die Kindergärten zu transferieren. Wenn wir bei einem Kind besondere Sorge hatten, haben wir dies zurückgemeldet. Der Transfer ist genauso wichtig wie die Forschung“, ergänzt Jeanette Piekny, die ihre Dissertation über das wissenschaftliche Denken von Kindern verfasst hat.

Die Hildesheimer Wissenschaftlerinnen werten die vielen Daten, die sie in dem „Koko“-Projekt gesammelt haben, derzeit aus. „Wir haben uns bisher auf die frühe Kindheit konzentriert. Wir möchten nun erfassen, wie die Entwicklung im Schulalter verläuft, das müssen wir jetzt unbedingt betrachten“, sagt Mähler. „Da werden wir eine ganze Menge zu tun haben.“ Ergänzend zu den kognitiven Kompetenzen konnte ihr Team in den letzten zwei Jahren auch die sozial-emotionalen Kompetenzen, die Anpassungsfähigkeiten und Bewältigungskompetenzen untersuchen und somit den Fokus der Forschung erweitern.

Kurz zusammengefasst: Forschungsprojekt „Koko“

7 Jahre hat ein Team aus Hildesheim/Oldenburg die Entwicklung von Kindern untersucht. Foto: Lange/Uni Hildesh.

Psychologinnen der Universität Hildesheim haben 200 Kinder über sieben Jahre zunächst in Hildesheimer Kindergärten untersucht und die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe bis in das vierte Schuljahr dokumentiert. Die Studie KOKO („Differentielle Entwicklungsverläufe Kognitiver Kompetenzen") zeigt, dass die „schulischen Vorläuferfertigkeiten“ eine wichtige Rolle spielen bei der Vorhersage von Schulleistungen. Dazu gehören die phonologische Bewusstheit und numerische Kompetenzen: Kann ein Kind hören, dass im Wort „Auto“ kein „i“ enthalten ist, erkennt es Laute und Reime, entwickelt es ein Verständnis für Mengen und Zahlen, etwa für „mehr“ oder „weniger“. Kann das Kind Würfelaugen lesen und einfache Rechenaufgaben machen, wie: Wenn wir vier Menschen in der Familie sind, wie viele Teller und wie viel Besteck muss ich auf einen Tisch legen? Auch die Funktionstüchtigkeit des Arbeitsgedächtnisses (oder Kurzzeitgedächtnisses) spielt eine wichtige Rolle.

„Wir können die Schulleistungen ein Stück weit vorhersagen, nicht vollständig. Die numerischen Vorläuferkompetenzen tragen maßgeblich zu den Mathematikleistungen in der Grundschule bei“, berichtet Claudia Mähler. Die Fähigkeiten kann man früh erkennen und schon im Vorschulalter fördern. Einige Kindergärten trainieren die phonologische Bewusstheit („Hören, Lauschen, Lernen“) im letzten Kindergartenjahr. „Es schadet keinem Kind. In Mathematik sind die Förderungen in Kitas nicht verbreitet“, so Mähler. Ihr Team leistet derzeit Aufklärungsarbeit: sie spiegeln Ergebnisse wieder. Die Doktorandin Christina Jörns hat zehn Spiele entwickelt und evaluiert, um mathematische Vorläuferkompetenzen zu trainieren. „Schon allein die Spiele sechs Wochen im Angebot zu haben, hilft.“

Zum Forschungsteam aus Hildesheim und Oldenburg gehören (Gruppenbild von links nach rechts): Prof. Dr. Claudia Mähler, Dr. Kirsten Schuchardt, Dr. Jeanette Piekny, Nora Lessing (M.Sc.-Psych.), Merle Skowronek (B.Sc.-Psych.) und Prof. Dr. Dietmar Grube.

Kontakt für Familien und Schulen:

Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer können in der Forschungsambulanz „Kind im Mittelpunkt“ Rat suchen. Es gibt tägliche Telefonsprechstunden (montags bis donnerstags, 13 bis 14 Uhr, 05121-883-11012), in denen individuelle Termine abgestimmt werden können.

Mehr erfahren:

„Wie entwickelt sich mein Kind?", Reportage und Interview über Diagnostik im Kindesalter und die Arbeit in der Hochschulambulanz Kind im Mittelpunkt, Uni-Journal (Frühjahr 2016) [PDF]

Medienkontakt: Pressestelle der Uni Hildesheim (Isa Lange, presse@uni-hildesheim.de, 05121.883-90100)


Über sieben Jahre hat ein Team der Universitäten Hildesheim und Oldenburg die Entwicklung von Kindern untersucht. Sie haben die Langzeitstudie mit ermöglicht: Kerstin Taubitz und ihre Tochter Emma, die mittlerweile in die 6. Klasse geht. Emma kennt das Forscherteam, seitdem sie in den Kindergarten geht, immer bei der Forschung dabei: Der Affe „Koko“. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim

Über sieben Jahre hat ein Team der Universitäten Hildesheim und Oldenburg die Entwicklung von Kindern untersucht. Sie haben die Langzeitstudie mit ermöglicht: Kerstin Taubitz und ihre Tochter Emma, die mittlerweile in die 6. Klasse geht. Emma kennt das Forscherteam, seitdem sie in den Kindergarten geht, immer bei der Forschung dabei: Der Affe „Koko“. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim