Turnen: Sich aus eigenem Antrieb komplex bewegen

Thursday, 28. August 2014 um 17:42 Uhr

Springen, kriechen, drehen – wenn die Stadt zum Hindernis wird. Wer Wände hochlaufen und die „dritte Dimension“ erklimmen will, muss klein anfangen. Jüngere Sportarten wie „Parkour“, „Move Artistic“ und „Breakdance“ sind in. Wie beim klassischen Turnen sind flüssige Bewegungen und maximale Kraftleistungen in Körperpositionen gefordert, die man kaum im Alltag einnimmt. Ein Besuch bei Thomas Heinen, Professor für Sozialwissenschaften des Sports an der Universität Hildesheim. Wie Turner überhaupt etwas wahrnehmen, untersucht er im neuen Bewegungslabor.

„Jüngere Sportarten wie ‚Parkour‘, ‚Freerunning’ oder ‚Move Artistic’ sind eine gewisse Art von Lebensstil. Man hat lässige Kleidung an, man nutzt die Bewegungsangebote, die sich so draußen ergeben. Da ist ein Zaun, ich springe rüber, schlage einen Salto“, sagt Thomas Heinen, Professor für Sozialwissenschaften des Sports an der Universität Hildesheim. Das erfordert körperlich viel und ist ein Stück gefährlicher, als das Turnen in einer mit Matten abgesicherten Halle. „Die Jugendlichen gehen ein Risiko ein, das ist wohl ein gewünschter Spannungsbogen. Ihre Vorbilder präsentieren ihre Bewegungen in Kurzfilmen auf youtube.“ Über das Internet wird verbreitet, was man kann. „Sie haben neue Tricks, die sie mit der Handykamera aufnehmen und der Welt präsentieren. Sie haben auch griffige Namen erfunden, ein ‚Salto rückwärts‘ ist dann ein ‚Back Flip‘, eine ‚Sprunghocke‘ wird als ‚cat pass’ ‚monkey‘ oder ‚gorilla’ bezeichnet. Das ist nichts Neues, hört sich aber cooler an“, sagt Thomas Heinen.

Parkourläufer und Freerunner erklimmen urbane Räume, ziehen ihre Bewegungslinien durch die Stadt, die so zum Hindernis wird. „Parkour“ kommt auch in Universitäten an.

Wer Fliegen will, muss Wände erklimmen: Hilfestellung im Sportunterricht wichtig

Donnerstagvormittag, in der großen Turnhalle: Wer Fliegen will, muss zunächst Wände erklimmen. Mit Hilfe. Während jeweils zwei Sportstudierende sichern, läuft die dritte Person die Wand hoch, um einen Überschlag zu machen, die Vorform für den anstehenden Salto. „In Reihen anstehen, stramme Bewegungen, strenge Turnübungen. Früher lief Turnunterricht meist so ab: Da steht ein Kasten mit einem Sprungbrett in der Turnhalle und jedes Kind springt einmal darüber. Nein, modernes Turnen ist anders“, sagt Thomas Heinen. „Ein Miteinander, gegenseitiges Helfen und Sichern gehören dazu und so können auch Personen, die kein gutes Koordinationsprofil haben, Turnübungen erlernen. 95 Prozent unserer Sportstudierenden können am Ende des Semesters einen Salto.“ Sie sollen einmal selbst Interesse an Sport und Bewegung vermitteln, wer positive Erfahrungen gesammelt hat, im Miteinander, werde Sportunterricht in Grund- und weiterführenden Schulen einmal anders gestalten.

Turnen und Bewegungskünste gehören zu den Studieninhalten der angehenden Lehrer und Sportwissenschaftler der Hildesheimer Universität. Eigentlich gibt es gepflasterte Wege, um vom Hörsaal zum Sportgebäude zu gelangen. Aber verlockend sind sie: die Treppen, stabilen Zäune, Fassaden, verschachtelten Gebäude, meterlangen Bänke und Geländer. So wird auch der Campus zum Hindernis, das die Studierenden in möglichst flüssigen Bewegungen überbrücken. „Wir vermitteln im Studium klassisches Gerätturnen, unter dem Part Bewegungskunst fallen dann auch ‚Parkour‘ und ‚move artistic‘, also alles was man mit seinem Körper so artistisch darstellen kann. Das ist auf nichts beschränkt, je kreativer, desto besser. Wir überlegen im Seminar: Wie kann man einen Stuhl oder Zäune nutzen, um einen Handstand oder einen Überschlag zu machen?“, sagt Thomas Heinen. Das probiert er mit seinen Sportstudierenden aus. „Wir erproben dies immer im gesicherten Umfeld, mit Bewegungsführung und Hilfestellung, und fragen, wie man diese Sportarten in den schulischen Unterricht einbauen kann, so dass es sicher ist und jeder teilhaben kann – der Draufgänger wie auch Schüler, die eher ängstlich sind.“

Flüssige Bewegungen: Turnen soll leicht aussehen, fordert aber enorm viel vom Körper

Wie kommt es, dass Sportarten wie „Parkour“ unter Jugendlichen beliebter sind als klassisches Gerätturnen – wo die körperlichen Anforderungen doch ähnlich sind? „Turnen ist gebunden an eine Norm. Der Strecksprung hat in einer bestimmten Art und Weise auszusehen, gestreckte Füße, angelegte Arme. Das alles spielt bei den neueren Bewegungsformen keine Rolle, man kann Beine abknicken und individueller und spektakulärer halten“, sagt Professor Heinen. Das Regelbuch allein im Kunstturnen zählt über 200 Seiten, von der Kleiderordnung über Körperbewegungen und Verhalten am Gerät bis zum Abmelden bei Kampfrichtern. Regeln gibt es für jedes Übungsteil: Ein Handstand ist nur dann ein Handstand, wenn der Körper exakt gestreckt ist und die Abweichung zur Vertikalen maximal plus/minus 10 Grad beträgt.

Beim Gerätturnen erklimmen Sportler den Raum, die dritte Dimension, und fliegen durch die Luft. Was charakteristisch am turnerischen Bewegen ist – Thomas Heinen beschreibt das so: „Die Flüssigkeit der Bewegungen. Es soll sehr leicht aussehen, der Turner wirkt nicht so, als würde er sich sehr anstrengen müssen. Doch dahinter steckt eine enorme Leistung des Sportlers. Das Turnen stellt mit die höchsten Anforderungen an den Menschen: maximale Kraftleistungen in komischen Körperpositionen, die man im Alltag so nicht hat. So wird zum Beispiel der Kreuzhang nur durch drei, vier Muskeln getragen. Der ganze Körper ist beim Turnen in Bewegung, das erfordert Koordination. Man ist nah an der Wahrnehmungsgrenze des Menschen, sich aus eigenem Antrieb in der Komplexität – dreifacher Salto mit einer dreifachen Schraube – schneller zu bewegen, geht kaum.“

Mobiles Labor entsteht: Was passiert im Körper von Sportlern?

Professor Thomas Heinen untersucht im neuen Bewegungslabor der Universität Hildesheim, was im Körper passiert, um solche Leistungen erbringen zu können. Im Bewegungslabor können die Forscher alle Bewegungen des Menschen, sowohl in der räumlichen-zeitlichen wie in der Kraftdimension vermessen. „Es ist sehr aufschlussreich, die menschliche Leistung zu erfassen und mit dem Tierreich oder Maschinen zu vergleichen. Die Sprunghöhe eines Menschen auf einer gefederten Akrobatikbahn bei einem Salto nach einem 10 Meter langen Anlauf ist bis zu 3 Meter hoch – etwa das, was ein 20 cm großes Galago-Äffchen aus dem Stand schafft.“

Die Forscher können anhand der Bewegungsanalyse Vorhersagen treffen, welche weiteren Bewegungen bei einem Sportler möglich sind – wäre etwa ein vierfacher Salto denkbar? Sie setzen „Highspeed-Kameras” ein, die besonders gut schnelle Bewegungen des Menschen aufzeichnen können. Dabei werden Marker an den Sportlern angebracht. Der LED-Ring um die Kamera bescheint dabei die Marker mit einem Infraroten Licht, welches für das menschliche Auge nicht sichtbar ist, die Kamera aber gut aufzeichnen kann, erklärt Heinen. Die Aufzeichnungsrate beträgt bis zu 200 Bilder pro Sekunde. Zum Vergleich: Eine handelsübliche digitale Videokamera nimmt etwa 25 bis 50 Bilder pro Sekunde auf.

Die Wissenschaftler untersuchen auch, welche Wirkung das beliebte Kinesiotaping erzielt. Denn ob die bunten Streifen, die sich Sportler auf den Körper kleben, etwas verändern ist unklar. Die Forschergruppe am Institut für Sportwissenschaft untersucht außerdem Wahrnehmungsprozesse: Wie nehmen Sportler bei solch komplexen Bewegungen überhaupt noch etwas wahr? Dafür messen sie das Blickverhalten mit einem mobilen Eyetracker, können erfassen, in welchen Phasen das Auge bei einem dreifachen Salto geschlossen ist, wann es stationär auf einem bestimmten Punkt im Raum ruht und man sich darauf fixiert. „Es gibt Unterschiede abhängig von der Art der Bewegung und der Erfahrung: Anfänger schließen Augen meist, Experten haben die Augen offen, um sich an der Decke zu orientieren und die Landung vorzubereiten. Sie nutzen die Informationen. Wir untersuchen, wo hier Grenzen liegen, beim dreifachen Salto ist die Geschwindigkeit so hoch, auch Experten schließen die Augen“, sagt Thomas Heinen, der im Bewegungslabor Experten und Novizen vergleicht. Das Labor liegt direkt neben der Turnhalle, eine Tür kann geöffnet werden, so dass auch Anläufe und Geräte mit eingebaut werden können. „Unser Labor ist mobil, wir können das gesamte Equipment in Sporthallen und ins Freie bringen.“

Die Sportwissenschaftler untersuchen derzeit auch die zwischenmenschliche Koordination und fragen, wie man in Synchronsportarten zu einer Synchronizität kommt. In den Studien arbeiten sie mit dem Olympiastützpunkt in Hannover, mit den Wasserball- und Handball-Nationalmannschaften und Turnern aus Niedersachsen zusammen. „Die Sportler freuen sich über Rückmeldungen und sind sehr interessiert, gerade kleinere Vereine haben meist nicht solche komplexen Geräte, um kinematische Analysen durchführen“, sagt Heinen. Der Ablauf ist üblicherweise so: Bewegungen werden aus mehreren Perspektiven mit drei, vier Kameras aufgezeichnet. Dabei verfolgen die Sportwissenschaftler innerhalb der Kamerabilder mehrere Körperpunkte und gestalten ein 3D-Modell des Menschen. Solche Analysen können verwendet werden, um Vorhersagen zu treffen: Was wäre etwa nötig, damit aus dem Salto ein Doppelsalto wird? Thomas Heinen bindet seine Sportstudierenden in die Forschung ein. Sie führen in Seminaren Untersuchungen selber durch und erlernen die Methoden, setzen Pilotstudien in Abschlussarbeiten fort. So haben die Studierenden etwa untersucht, welche Wirkung Geschmack auf die Leistung hat, sie haben Drehpräferenzen bei Turnern, Synchron-trampolinspringer und die Techniken beim „Schubkarrenrennen“ untersucht. Es sind jene Studierende, die einmal als Lehrer Sportunterricht gestalten.

Die Bewegungsformen im Gerätturnen sind sehr vielfältig und gut geeignet, um einen Grundstein zu legen für Koordination, Kraft, Beweglichkeit. Das hat man in anderen Sportarten weitaus weniger, etwa was die Rotation oder das „Über-Kopf-Gefühl“ angeht. In Gerätelandschaften und neueren Sportarten wie Parkour können solche Grundsteine in der Kindheit und Jugend gelegt werden. Auch bei manchen Profisportlern, etwa Volleyballern, gehört Turntraining zum Trainingsprogramm. Turnen und Bewegungskünste sind zwar im Kerncurriculum für die Grundschulen ausgewiesen, ob dies im Schulalltag allerdings auch konsequent umgesetzt wird, hängt wohl immer noch stark von der Lehrperson selber ab.

Zur Person

Thomas Heinen ist seit Herbst 2013 Professor für Sozialwissenschaften des Sports an der Universität Hildesheim, zuvor hat er seit 2011 eine Professur für Sportpädagogik verwaltet. Zuvor hat er sieben Jahre an der Deutschen Sporthochschule in Köln am Psychologischen Institut gearbeitet, zunächst als Hilfskraft, später als Promovend. In Hildesheim schätzt Thomas Heinen „die Gestaltungsmöglichkeiten an der Universität“. Gerade erschien im Arete Verlag die Publikation „High Performance Gymnastics“. Das Buch ist in Kooperation zwischen der Stiftung Universität Hildesheim und den Universitäten Campinas und Sao Paulo (beide Brasilien) entstanden.

Jahrestagung der dvs-Kommission Gerätturnen

Auf der Jahreskonferenz vom 1. bis 3. September 2014 an der Universität Hildesheim befassen sich etwa 60 Fachleute aus der gesamten  Bundesrepublik, der Schweiz, Japan, Slowenien und England mit den „Dimensionen des Bewegungslernens im Turnen“ (Tagungsprogramm und Abstracts). Für das turnerische Sich-Bewegen ist die Erschließung der dritten Dimension des Raumes charakteristisch. Die Sportwissenschaftler befassen sich mit den Anforderungen an das Turnen und wie in Sportvereinen und Schulen turnerische Lernprozesse begleitet werden können. Dabei betrachten sie auch informelles Turnen, etwa neuere Bewegungsformen wie Parkour oder Freerunning. Ivan Čuk, Professor für Kinesiologie an der Universität Ljubljana und Herausgeber der Zeitschrift „Science of Gymnastics" spricht zur Eröffnung am Montag, 1. September, um 14:00 Uhr in einem Hauptvortrag über den Einfluss der Entwicklung des Wertungssystems im Turnen auf die Leistung. Monèm Jemni von der University of Greewich, England, befasst sich im zweiten Hauptvortrag (2. September, 14:00 Uhr) mit psychologischen, physiologischen und biomechanischen Zusammenhängen, um die komplexen Vorgänge beim Turnen besser zu verstehen. Die weiteren Themen sind vielfältig: So sprechen Katja Winde und Marc Nicolaus über die Auswirkungen visueller Reize auf einen Handstützüberschlag am Sprung; Maika Bepperling stellt erste Ergebnisse einer Untersuchung zu Kindheiten im Leistungsturnen vor und Juliane Veit und Damian Jeraj befassen sich mit Rückmeldungen zur Korrektur von Bewegungsfehlern.

Neben diesen Fachvorträgen finden drei Praxis-Workshops statt. Studierende, im Sport tätige Menschen und Lehrkräfte können an diesen Workshops teilnehmen: In Workshop 1 befassen sich die Teilnehmer mit dem Einsatz von neuen Medien im Bewegungslernen (2. September, 11:00 bis 12:30 Uhr) und können dabei die Nutzung von Tablet PC und Smartphone bei Bewegungslernprozessen ausprobieren. In Workshop 2 geht es um bewusste Bewegungen beim Turnen und welche Rolle Sprache beim Bewegungslernen spielt (2. September, 15:15 bis 17:15 Uhr). Die Teilnehmer reflektieren die Nutzung von Sprache im Bewegungslernen und erfahren wie scheinbar auf den ersten Blick unschaffbare Bewegungsformen im Turnen so auch für ungeübte Personen ausführbar werden. In Workshop 3 befassen sich die Teilnehmer mit Hilfestellung im Gerätturnen (3. September, 9:00 bis 10:30 Uhr). Hierbei geht es um die Diskussion, welcher Helfergriff in Abhängigkeit welcher Zielgruppe (Schule versus Verein) zum Einsatz kommt. Die Teilnahme an den Hauptvorträgen ist kostenfrei. Die Teilnahme an den Arbeitskreisen und Praxisworkshops ist kostenpflichtig. Eine Anmeldung erfolgt per E-mail an thomas.heine@uni-hildesheim.de oder vor Ort im Tagungsbüro (Sportgebäude der Stiftung Universität Hildesheim). Die Workshops finden am Hauptcampus der Universität Hildesheim statt (Marienburger Platz 22).


Professor Thomas Heinen im neuen Bewegungslabor der Universität Hildesheim mit einer „Highspeed-Kamera”, die besonders gut schnelle Bewegungen des Menschen aufzeichnen kann. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

Professor Thomas Heinen im neuen Bewegungslabor der Universität Hildesheim mit einer „Highspeed-Kamera”, die besonders gut schnelle Bewegungen des Menschen aufzeichnen kann. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim

Professor Thomas Heinen im neuen Bewegungslabor der Universität Hildesheim mit einer „Highspeed-Kamera”, die besonders gut schnelle Bewegungen des Menschen aufzeichnen kann. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim