Symbolische Praxis und moderne Subjektivität

Verantwortlich: apl. Prof. Dr. habil Holger Herma

Forschungskreis: Prof. Dr. Michael Corsten, apl. Prof. Dr. Holger Herma, Dr. Laura Maleyka, Dr. Sascha Oswald, Tobias Wittchen M.A.

Arbeitsthemen des Forschungsschwerpunktes:

Empirische Sozialisationsforschung und Habitus-Analyse (Corsten, Herma, Maleyka), Symbolische Praxis, digitale Kommunikation und Bezugsräume des Selbst (Corsten, Herma, Maleyka, Oswald, Wittchen) Biografie, Lebenslauf und Generation (Corsten, Herma).

Der Forschungsschwerpunkt „Soziologie des Subjekts, der Sprachhandlungen und der Kommunikation in digitalen Medien“ befasst sich mit Formen der kulturellen Produktion von Subjektivität. Dabei werden empirische Untersuchungen zu Bildungsprozessen des Subjekts verbunden mit allgemeinen theoretischen Analysen. Im Vordergrund dieser Analysen steht einerseits die Subjektgenese im Rahmen einer empirischen Sozialisationsforschung und die Untersuchung sprachlicher Handlungen, andererseits die Errichtung von Subjektpositionen in der digitalen und analogen Kommunikation und hieraus hervorgehende Formen der Durchsetzung von Kommunikationsmacht.

Die Arbeiten in diesem Cluster orientieren sich an der klassischen Soziologie des Subjekts (bzw. das anglo-amerikanische Konzept „of the self“) anschließend an George H. Mead, William I. Thomas, Erving Goffman, Alfred Schütz und verbinden dies mit dem Bourdieu’schen Habitusmodell und der soziologischen Lebenslaufforschung. Dabei werden auch Passungen zu gegenwärtig gängigen Konzepte wie dem der ‚Subjektivierung‘ und der ‚Singularitäten‘ geprüft, auch in Abgrenzung zum ehemals modischen Konzept der Individualisierung.

Subjektivität meint dabei das Potenzial und die Kompetenz von Einzelakteur*innen zur individuellen Selbstbezüglichkeit, die gesellschaftlich und hier insbesondere kulturell erzeugt, hervorgebracht, produziert und inkorporiert (im Sinne von geschaffen und verkörpert) wird. Insofern wird Subjektivität nicht als bloße „Konstruktion“ angesehen, sondern im Sinne Bourdieus das mit Subjektivität bezeichnete zugleich körperliche und intellektuelle Vermögen des Individuums zur Selbstbezüglichkeit eben als tatsächliche Chance (und Hindernis) der Selbstbefähigung (self enablement, ability of self) angesehen.

Ein Teil der Arbeiten des Forschungsschwerpunktes befasst sich dazu mit aktuellen Formen der Selbstthematisierung als Selbstbezüglichkeit des Individuums unter den Bedingungen moderner, digitaler wie auch analoger Kommunikation:

Im Mittelpunkt der Untersuchungen von Holger Herma steht die Problematik der Selbstthematisierung in ihrem spezifischen Verhältnis zu den allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen der Kommunikation. Ein Vergleich neuerer Formen der Selbstpräsentation (z.B. Online-Tagebücher, PowerPoint-Karaoke) mit älteren Gattungen (wie literarische Selbsterzählungen im Roman oder Film, Popmusik) ist in seiner Habilitationsschrift unter dem Titel „Bezugsräume des Selbst. Praxis, Funktion und Ästhetik moderner Selbstthematisierung“ eingegangen (2. Aufl. 2022). Dazu hat die Arbeit Perspektiven und interpretative Ansätze zur Analyse der Mikrofundierung moderner Selbstverhältnisse entwickelt und miteinander verglichen. Mittelpunkt weiterer Forschung und Lehre sind Formen der Habitusbildung im Lebenslauf und ihre Verknüpfung mit Mustern der Biografie anhand einer sprechakttheoretisch und funktionalpragmatisch fundierten Reanalyse längsschnittlicher qualitativer Interviews (Herma, Maleyka), sowie dem kommunikativen Habitus der historischen Generation, etwa der ‚68er‘- oder ‚89er‘-Generation. In aktuellen Arbeiten wird das Konzept der Subjektivierung bezogen auf Fragen zu Formen persönlicher Kommunikation mit künstlicher Intelligenz (Oswald, Herma) und auf das Genre der journalistischen Kommunikation (Herma, Wittchen). Zudem werden Praktiken der Selbstbezüglichkeit in neueren literarischen Gattungen wie der ‚Autosoziobiografie‘ untersucht, die dadurch gekennzeichnet ist, sozialen Aufstieg und von Klassismus geprägte Milieuerfahrungen mit Mitteln der Bourdieu‘schen Kultursoziologie zu beschreiben.

Sascha Oswald befasst sich mit neuen Formen des digitalen Bildhandelns, speziell der Selbstthematisierung im erweiterten Rahmen visueller Kommunikation, z.B. in Form von Memes, und der Analyse visueller Kommunikationsstile und -gattungen auf Instagram. Darüber hinaus erforscht er Prozesse der Vergemeinschaftung im digitalen Raum vor dem Hintergrund von Plattformstrukturen und dem Einsatz unterschiedlicher Zeichenmodalitäten. Im Vordergrund steht die Frage, wie sich die Formen des Ichs und des Wir im Rahmen digitaler und vor allem bildbasierter Kommunikation verändern. Unter anderem untersucht er, wie auf Imageboards – als digitalen Sehgemeinschaften – neue Möglichkeiten der leiblich-affektiven Selbsterfahrung kommunikativ hergestellt werden oder wie sich Publikumsfiktionen und Like-Funktionen (als Form des Echtzeitfeedbacks) auf das Selbstverständnis der Akteure und ihre Interaktionsrituale auswirken. Eine Möglichkeit, die unterschiedlichen Phänomene theoretisch zu greifen, stellt dabei das Konzept der ludischen Kommunikation dar. Hiermit untersucht Oswald digitale Räume auf ihre Qualitäten als Dritt-Orte vor dem Hintergrund spielerisch-geselliger Kommunikationsmodi. - Abseits der Sphäre der digitalen Kommunikation beschäftigt sich Oswald auch mit der Bedeutung des Reisens für die Bildung milieuspezifischer Identitäten und Resonanzachsen.

Tobias Wittchen befasst sich in seiner Dissertationsschrift „Das Selfie als Form bildästhetischer Selbstthematisierung auf Instagram“ mit der Frage, wie sich Nutzer*innen auf Instagram über die soziale und ästhetische Praktik des Selfie-Machens selbst thematisieren und sich im Sinne eines praxeologischen Subjektverständnisses als Subjekte hervorbringen. Anhand der Analyse von Interviews mit Selfie-Produzent*innen und einer wissenssoziologischen Bildanalyse von Selfies auf Instagram soll aufgezeigt werden, wie das Selfie als eine spätmoderne Form bildbasierter Selbstthematisierung verstanden werden kann, bei der insbesondere expressive Aspekte der Selbstthematisierung betont werden. Instagram wird als eine wesentliche Plattform der Inszenierung des Selbst verstanden, auf der Nutzer*innen mithilfe des Selfies Selbstentwürfe präsentieren und von einem dispersen Publikum über Kommentare und Likes.

Ein anderer Teil der Arbeiten des Forschungsschwerpunktes befasst sich schwerpunktmäßig mit der Analyse des Habitus im Rahmen der empirischen Sozialisationsforschung:

Laura Maleyka arbeitet zu der Frage, ob es in der Spätmoderne zu einer Neurelationierung von Privatheit und Öffentlichkeit kommt. In Anlehnung an Hanna Arendts Verständnis von Privatheit und Öffentlichkeit, kann Kommunikationsmacht als Durchsetzung von Bedeutung verstanden werden. Somit wird es für die Akteure bedeutsam, einen praktischen Sinn (sensu Bourdieu) für den adäquaten Sprachgebrauch in den unterschiedlichen Öffentlichkeiten der Medien zu entwickeln. Akteure, die über viel sprachliches Kapital verfügen und um die jeweilige Dynamik des sprachlichen Feldes eines öffentlichen Verbreitungsmediums wissen, können sich in dem betreffenden Feld distinguieren – für sie ist die Wahrscheinlichkeit Kommunikationsmacht zu erlangen höher. Dieser Forschungsfokus der abgeschlossenen Dissertation („Kommunikationsmacht in den privatisierten Diskursräumen der (digitalen) Öffentlichkeit“) knüpft an die Mitwirkung im aktuellen DFG-Forschungsprojekt („Zum analytischen Potential qualitativer Längsschnittinterviews im Rahmen der empirischen Sozialisationsforschung“) an, in dem die Analyse von Habitusgenese und Habitustransformation anhand biografischer Selbsterzählungen im Fokus steht. Diese lassen sich methodisch anhand der Narrations- und der Positionierungsanalyse rekonstruieren und können somit als emergente Subjektivierungsprozesse in der Spätmoderne gedeutet werden.

In methodischer Hinsicht schließt hier auch ein weiterer Forschungsfokus an, der aus dem jüngsten sozialpolitischen Geschehen heraus entstanden ist. Die Corona-Pandemie brachte neben vielen Limitierungen, insbesondere auch für Familien einschneidende Beschränkungen im alltäglichen Leben. Diese führten dazu, dass alsbald die These der ‚Retraditionalisierung‘ der Familie Eingang in den öffentlichen Diskurs fand. Um diese These zu prüfen, führen wir Gruppendiskussionen mit Müttern und Vätern von jungen Kindern, um sie zu ihrem Erleben der Zeit vor, während und nach der Pandemie zu befragen. Hierbei zeigt sich, dass die Befragten auf Basis ihrer sozialen Einbettung unterschiedliche Bewältigungsstrategien entwickeln, wodurch sie sich auch sehr heterogen zum pandemischen Geschehen positionieren.