Hildesheim federführend im Wissenschaftsraum: Sozial- und Bildungsinfrastruktur – Sozialpädagogisches Prozessieren von Kindheiten (SOBIS)

Friday, 07. June 2024 um 13:16 Uhr

Dass sich der Alltag von Kindern und Familien in den vergangenen Jahren durch den Ausbau der Kindertagesbetreuung und der Ganztagsschule grundlegend verändert hat, wird in den Medien, aber auch im Alltag vieler Menschen, diskutiert. Die Menschen spüren diese Veränderungen und sind Teil dieser Entwicklungen. Kinder verbringen heute - werden zum Beispiel allein Anwesenheitszeiten betrachtet -, mehr Zeit in öffentlichen Einrichtungen zur Betreuung, Pflege, Erziehung oder Bildung. Diese Zusammenhänge werden in einem der zwei „Wissenschaftsräume“ – SOBIS – unter Hildesheimer Federführung erforscht. Der Wissenschaftsraum SOBIS ist auf 48 Monate angelegt und wird in Kooperation mit der Universität Osnabrück und den Hochschulen Hannover und Emden/Leer mit einer Fördersumme von 2.837.700 Euro Anfang nächsten Jahres die Forschungsarbeit aufnehmen.

„Die gesellschaftliche und soziale Anerkennung von Kindheit und Kindern hängt auch davon ab, wie Wissenschaft auf die Infrastrukturen und die sozialen Umgebungen junger Menschen blickt und diese beforscht. In dem Wissenschaftsraum SOBIS werden Kinder, Eltern als Akteur*innen ihrer sozialen Umgebungen gesehen. Während der Corona-Pandemie wurde sehr deutlich, dass Kindheit und Kinder nicht nur aus der Perspektive abstrakter Qualifikationsziele betrachtet werden dürfen. Ein zentraler Aspekt des Gelingens von Infrastrukturen und Bedingungen des Aufwachsens ist die Frage, wie Kindheit mit Kindern und ihren Möglichkeiten zur Selbstbestimmung ‚gemacht‘ wird. Es geht mit dem Wissenschaftsraum auch um die Anerkennung der alltäglichen Leistungen unterschiedlicher Akteur*innen - Kinder, Eltern, Fachkräfte, Lokalpolitik - und die Verwirklichung der Rechte von jungen Menschen in den Einrichtungen“, schildern Prof. Dr. Meike Sophia Baader, Tabea Noack und Prof. Dr. Wolfgang Schröer von der Universität Hildesheim ihre Forschungsmotivation.

SOBIS eröffnet damit eine in den vergangenen Jahren in Bezug auf die empirische Bildungsforschung immer wieder eingeforderte sozialpädagogische Perspektive: Unterschiedliche Akteur*innen – nicht zuletzt Kinder selbst – analysieren die aktuelle Infrastruktur von Kindheit im Alltag als sozialen Aushandlungsprozess, durch den auch Familien immer neu positioniert werden. Dabei wird gefragt, wie heute eigentlich Kindheit alltäglich „gemacht“, erfahren und gestaltet wird und was das Aufwachsen in unserer Gesellschaft mit den heutigen Infrastrukturen der Kindertagesbetreuung und Bildung für Kinder und Familien bedeutet.

Der Alltag, aber auch die Methoden, Didaktiken und Verfahren in Organisationen der Betreuung, Pflege, Erziehung und Bildung können nur angemessen reflektiert und bemessen werden, wenn sie als Teil der Infrastrukturarbeit von Fachkräften, aber auch Kindern, Familien, Ausbildungsorten und Lokalpolitiken gesehen werden. Je bedeutsamer die öffentlichen Infrastrukturen und Einrichtungen für die Kinder und ihr Aufwachsen werden, desto wichtiger wird auch, nach der Verwirklichung ihrer Rechte auf Förderung, Beteiligung und Schutz in diesen Einrichtungen zu fragen.

Die Forschenden im Wissenschaftsraum SOBIS rücken die Einbettung von Kindheit und Kindern in das institutionelle Gefüge des Aufwachsens in den Mittelpunkt. Es wird untersucht, wie Verantwortungen übernommen und zugeschrieben werden und sich die verschiedenen sozialer Welten* überlappen.

Das gesamte Forschungsprojekt besteht aus vier Teilprojekten

Teilprojekt GaBi: Ganztag als relationales Bildungs- und Betreuungsarrangement zwischen unterschiedlichen sozialen Welten

(realisiert an den Universitäten Hildesheim und Osnabrück)

Mithilfe von Case-Studies soll im Teilprojekt GaBi die Ganztagsbetreuung als Infrastruktur untersucht werden: Von dem Forschungsstand ausgehend, dass in dieser Arena Kinder, Familien und Fachkräfte zusammenwirken, stehen folgende Fragestellungen (Auswahl) im Zentrum: Welche Funktionen werden der Ganztagsbetreuung im Hinblick auf Betreuung und anderen Aufgaben (zum Beispiel Bildung oder Schutz) von den unterschiedlichen sozialen Welten zugeschrieben und wie werden diese vermittelt? Welche Veränderungen ergeben sich für und durch Betreuungsarrangements im Kontext von Übergängen zwischen verschiedenen Organisationen des Bildungs- und Betreuungssystems?

Teilprojekt KiSchu: Kinderrechte und Schutzkonzepte in transorganisationalen Bildungs- und Betreuungsarrangements

(realisiert an der Universität Hildesheim und der Hochschule Hannover)

Für dieses Teilprojekt werden einrichtungsspezifische Gruppendiskussionen mit allen am Kindheitsalltag beteiligten Akteur*innen erhoben und unter anderem mit Blick auf ihre Positionen bezüglich ihrer professionellen Idee von Schutzkonzepten und Kinderrechten ausgewertet. Im Fokus steht hier die Fragestellung, ob und – wenn ja – inwiefern, die Verpflichtung zu Schutzkonzepten ein sogenannter ‚game-changer‘ für die Umsetzung von Kinderrechten ist.

Teilprojekt SoWeKi: Soziale Welten von Kindern in der Binnenarena der fachschulischen Qualifizierung

(realisiert an den Universitäten Hildesheim und Osnabrück und der Hochschule Emden/Leer)

Das dritte Teilprojekt widmet sich schließlich der Frage, wie die sozialen Welten von Kindern in der fachschulischen Qualifizierung thematisiert werden. Es wird untersucht, wie und welche Positionierungen mit Blick auf Kindheit(en) in den Fachschulen entstehen und bearbeitet werden.

Teilprojekt: Responsibilisierungen ex*inklusiver Infrastrukturen

(realisiert an der Universität Hildesheim)

Ein weiteres, querliegendes Teilprojekt widmet sich beispielsweise der Fragestellung, wie sich Verantwortungszuschreibungen und -übernahmen verschieben, wenn der Anspruch inklusiver Kindheiten und somit einer diskriminierungsfreien Teilhabe aller Kinder in der Sozial- und Bildungsinfrastruktur formuliert wird.

Was folgt?

An der Universität Hildesheim hat sich in den vergangenen Jahren zwischen dem Institut für Sozial- und Organisationspädagogik und dem Institut für Erziehungswissenschaften ein deutschlandweit anerkannter Schwerpunkt in der sozialpädagogischen Kinder- und Jugendhilfeforschung sowie zur Bildung in der Kindheit entwickelt. Mit dem bewilligten Wissenschaftsraum wird dieser Schwerpunkt weiter gestärkt und mit anderen forschungsstarken Hochschulen in dem Forschungsgebiet vernetzt. Mit der Universität Osnabrück und den Hochschulen in Hannover und Emden/Leer kann es vor diesem Hintergrund gelingen, ein nachhaltig sichtbares und wissenschaftlich ausgerichtetes Forschungsnetzwerk in der sozialpädagogischen Erziehungs- und Bildungsforschung aufzubauen. 

*Gemäß Petra H. Steiner (Wetzlar, 2018) sind soziale Welten: „Teilbereiche der Gesellschaft, die einen Zusammenhang bilden. Die in ihnen Handelnden haben ein gemeinsames Anliegen, gemeinsame Ziele und teilen dieselben Ideologien.“ In: Soziale Welten der Erwachsenenbildung, S. 196.

Überblicksinformationen zu den weiteren Wissenschaftsräumen mit Hildesheimer Federführung oder Beteiligung


Links: Forengebäude; Foto: Clemens Heidrich. Rechts: Symbolbild Kooperation aus der Public Domain von Wikimedia Commons