„Grenzüberschreitende Prozesse bestimmen den Alltag in der Jugendhilfe"

Wednesday, 06. May 2015 um 12:40 Uhr

Bevor man in das Büro von Professor Gunther Graßhoff gelangt, begegnet man elf orange gekleideten Figuren. Tischfußballspiel im Flur. Schließlich befasst sich der Sozialpädagoge an der Universität Hildesheim mit Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe. Man ist jugendnah. Im Gespräch mit Isa Lange weist der Professor darauf hin, dass grenzüberschreitende Prozesse den Alltag in der Jugendhilfe bestimmen und Fachkräfte darauf vorbereitet werden müssen. Mittlerweile ist etwa jedes zehnte Kind in einem Heim als minderjähriger Flüchtling ohne Eltern nach Deutschland gekommen.

Sie haben seit einem Jahr eine Professur für Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim inne, waren zuvor Professor für außerschulische Bildung in Jena. Vielleicht können Sie einen Einblick in Ihre Forschung geben.

Gunther Graßhoff: Kinder- und Jugendhilfe ist ein Feld, welches mich innerhalb der Sozialpädagogik sehr interessiert, mein Hauptinteresse ist, die Perspektive von Kindern und Jugendlichen stark zu machen. Es geht um Partizipation, es geht darum, die Interessen und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen zu besprechen.

Es geht darum, mitzubestimmen? Was meint „Partizipation“ in diesem Bereich?

Es gibt eine Bandbreite von sozialer Infrastruktur, und gesetzliche Rahmenbedingungen, die die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen vorsehen. Das meint zum Beispiel Mitbestimmung in Einrichtungen, etwa Heimen und Jugendzentren. Dass Kinder ihren Alltag hier gleichberechtig mitbestimmen. Das meint aber auch, auf einer politischen Ebene, jugendpolitische Positionierungen der Jugendlichen, da eine Stimme zu haben im demokratischen Prozess der Meinungsbildung. Die Kinderrechte sind ein Rahmen für das Ganze. Ich schätze die kollegiale Struktur im Fachbereich, wir arbeiten kooperativ und tauschen uns aus, etwa was das Themenfeld „Inklusion“ angeht. Vielleicht etwas ungewöhnlich für einen Sozialpädagogen: Ich habe keine großen Berührungsängste mit dem Thema Schule. Ich beschäftige mich mit der Entwicklung der Ganztagsschule und mit der Öffnung zu nicht-schulischen Institutionen und Sozialräumen. Die Veränderung von Schule hat Konsequenzen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen und die Grenzen zwischen den einzelnen Feldern Schule, Soziale Arbeit verschiebt.

Wenn wir von der Sozialen Arbeit auf die Entwicklung hin zur Ganztagsschule blicken, was verändert sich? Ist man hier stärker gefordert, zusammenzuarbeiten?

Empirisch ist ganz klar zu sehen: Ganztagsschule funktioniert nur in der Kooperation mit außerschulischen Partnern.

...von der Musikschule über den Sportbereich und künstlerische Einrichtungen wie Museen bis zu Umwelteinrichtungen, etwa Schulbiologiezentren?

Genau. Unterschiedliche Partner werden Teil dieser Ganztagsschule. Es gibt auch in Niedersachsen sehr unterschiedliche Wege und Vorstellungen, wie man dies gestaltet. Grundsätzlich ist es eine Ausweitung von Schule über den ganzen Tag, oder zumindest weiten Teilen. Dies bedeutet eine gewisse Konkurrenz zu Angeboten außerschulischer Bildung. Wenn Kinder bis um 16, 17 Uhr in der Schule sind, können sie nicht um 14 Uhr im Jugendzentrum sein. Da gab es zu Beginn große Bedenken, ob sich eine solche Konkurrenzsituation entwickelt. Für Schule bedeutet das eine ganz neue Form der Zusammenarbeit. Wir arbeiten am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik an der Universität Hildesheim mit der Erziehungswissenschaftlerin Prof. Melanie Fabel-Lamla zusammen, um zu untersuchen, wie es gelingt, zwischen den Professionen zusammenzuarbeiten – Sozialpädagogen, Lehrer, Schulbegleiter und Erzieher.

Welche Formen der Zusammenarbeit beobachten Sie in Niedersachsen?

Was sich in der Praxis zeigt: Die Kooperation kann für alle Seiten produktiv sein, am Anfang gab es Ängste. Aber für einen Sportverein oder ein Jugendzentrum kann es interessant sein, Angebote aufrecht zu erhalten.

Weil sie vorher gar nicht alle Schülerinnen und Schüler erreicht haben?

Genau, auch die StEG-Studie über Ganztagsschulen zeigt, dass das eher für beide Partner Synergien auslöst, wenn man kooperiert. Man muss nicht immer so parallel denken.

Ein Blick in die Jugendzentren: Was ist deren Aufgabe? Jeder assoziiert etwas mit Jugendzentren, vielleicht können Sie einen Einblick geben: Was ist denn deren Leistung in einem Stadtteil?

Die Arbeit mit Jugendlichen hat sich verändert. Jugendzentren sind Freizeiteinrichtungen für Kinder und Jugendliche, die vor allem die Aufgabe haben, Freizeit zu gestalten, offene Angebote für jene zu schaffen, die wenig Spielräume im kommerziellen Markt der Freizeitgestaltung haben. Bildungsaspekte spielen zunehmend eine Rolle, sie gestalten Übergänge in Ausbildung und Arbeit mit. Im Grunde kann man sagen, diese niedrigschwelligen Zugänge zu Kindern und Jugendlichen werden genutzt, um Beratung im Kontext von Schule und Ausbildung zu gewährleisten. Die Bedeutung vom Jugendzentrum im Sozialraum ist größer geworden. Das sind zum Teil Einrichtungen, in denen Kinder- und Jugendinteressen im Stadtteil gebündelt werden. Man kann nicht mehr davon ausgehen, das sind so Einrichtungen, wo ein Billardtisch im Raum steht und man ein bisschen guckt, dass alles läuft. Es sind schon anspruchsvolle Aufgaben geworden...

...die das Erwachsen werden begleiten. Kommen wir zu weiteren Arbeitsschwerpunkten: Sie haben ein Buch „Soziale Arbeit in Europa“ mitherausgegeben. In dem Band erschienen auch Beiträge über die Krise und Sozialpolitik in Griechenland und über sozialpädagogische Dienste in Spanien. Warum dieser Blick auf Europa? Sie lehren etwa auch im Seminar zu internationalen und transnationalen Perspektiven in der Sozialen Arbeit. Warum endet Ihr Blick nicht an den Grenzen von Deutschland?

Grundsätzlich ist Soziale Arbeit immer schon mit grenzüberschreitenden Prozessen verwoben. Im Zuge von Transnationalisierung und Globalisierung nimmt dies zu. Soziale Arbeit ist eng an sozialstaatliche, nationale Regularien gebunden. Alles was wir tun, ist in einem rechtlichen Rahmen verortet, dieser wird zunehmend auf europäischer und internationaler Ebene verhandelt. Wenn wir uns zum Beispiel Armut und die Flüchtlingsthematik anschauen, sind dies keine Entwicklungen, die an den Grenzen halt machen. Sie werden europaweit diskutiert. In unserem Fach, der Sozialpädagogik, setzen wir uns damit auseinander.

Die Geschichte der Sozialpädagogik werde nationalstaatlich eng geführt und internationale Bezüge bleiben randständig, schreiben Sie in der Kurzerläuterung zu Ihrem Seminar. In einer Stadt wie Hildesheim oder in einer Großstadt wie Hannover, wie ist hier im Alltag spürbar, dass Soziale Arbeit „international gedacht werden muss“?

Wir beschreiben uns als ein Einwanderungsland. Der Blick auf den Alltag in Hildesheim ist davon gekennzeichnet, dass wir es zunehmend mit Migration und heterogenen Gruppierungen zu tun haben. Grenzüberschreitende Prozesse sind nicht nur ein Rahmen, die diese Arbeit bestimmen, sie bestimmen auch den Alltag. Wenn wir uns einzelne Felder der Erziehungshilfe anschauen: In Heimen, in stationären Einrichtungen, ist mittlerweile jedes zehnte Kind ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Die Kinder kommen ohne Eltern nach Deutschland. Diese Vielfalt ist kein akademischer Diskurs, sondern das bestimmt die Realität und den Arbeitsalltag von Sozialpädagogen – wie auch Lehrern – jeden Tag. Man sollte das aber nicht überdramatisieren, Vielfalt war schon immer die Realität.

Womit auch diejenigen, die in Heimen, an Schulen und in Jungendeinrichtungen arbeiten und diese Wege der Kinder begleiten und unterstützen sollen, auch die Kompetenzen mitbringen müssen. Etwa mit einem Kind, das eine Flucht erlebt hat, wie können sie hier sorgsam mit umgehen? Wie bereiten Sie denn die künftigen Fachkräfte darauf vor? Ich bin gerade am Informationsbrett des Instituts für Sozial- und Organisationspädagogik vorbeigegangen. Professorin Kirsten Scheiwe lehrt Sozialrecht, Professor Wolfgang Schröer lehrt im Seminar „Weltatlas Soziale Arbeit“ und schafft Zugänge zu unterschiedlichen Regionen der Welt, bei Andreas Oehme befassen sich die Studierenden mit Schulsozialarbeit und Berufsorientierung, bei Lucia Artner und Johanna Krawietz geht es um die Betreuung und Pflege von Älteren mit einer Zuwanderungsgeschichte – das sind einige der Lehrveranstaltungen in diesem Sommersemester. Welches Wissen geben Sie Ihren Studierenden mit?

Studierende sollen diese Prozesse kennenlernen. Die rechtlichen, psychosozialen oder auch sprachlichen Anforderungen sind komplex, sie sollen sich damit intensiv auseinandersetzen.

Die Auseinandersetzung mit transnationalen Fragen ist eine Stärke am Institut, im Team mit Professor Inga Truschkat und Professor Wolfgang Schröer untersuchen Sie etwa in einem Graduiertenkolleg, wie Unterstützung über Grenzen hinweg gestaltet wird (zur Pressemeldung). Ist dies ein Pflichtteil oder Wahlbereich im Studium?

In der Sozial- und Organisationspädagogik starten durchschnittlich 100 Personen in den Bachelor, sie arbeiten später vor allem in unterschiedlichsten sozialen Diensten. Im Master sind es 45 Plätze, dort sind vor allem die Möglichkeiten, eigene Forschungserfahrung im Kontext der Sozial- und Organisationspädagogik wichtig. Innerhalb des Studiums können Studierende Schwerpunkte auswählen.

Sie befassen sich im Hörsaal mit all diesen Fragen. Wie stellen Sie den Übergang zur Praxis her, zu dem was im realen Leben passiert?

Wir legen in den Studiengängen Wert darauf, dass die Studierenden konkrete Einblicke in Handlungsfelder erhalten, in einem mehrwöchigen Praktikum im Bachelor und in einem halbjährigen Praktikum im Masterstudium. Diese Erfahrungen besprechen wir mit den Studierenden vorher und nachher, etwa mit der Kollegin Ulla Bosse.

Wo gehen die Studierenden zum Beispiel hin?

Eine Masterstudentin, die ich im Praktikum gerade begleitet habe, hat im Bundesministerium für Entwicklung sich in einem der Referate mit Entwicklungspolitik befasst. Andere Studierende arbeiten etwa in einer Beratungsstelle für Schwangere, erhalten bei Bosch Einblicke in die Personalentwicklung oder sammeln Erfahrungen in der Migrationsberatung und Zusammenarbeit mit älteren Migrantinnen und Migranten.

Im Masterstudium steht ein Forschungspraktikum an, welche Fragen tauchen auf?

In dem Forschungspraktikum bearbeiten die Studierenden eine eigene Forschungsfrage von A bis Z, noch vor der Masterarbeit. Wir begleiten die Studierenden dabei eng. Dabei gibt es viele Verbindungen zu den praktischen Erfahrungen, sie sollen darüber hinaus aber einen eigenen kleinen Beitrag zur Forschung leisten. Im laufenden Semester haben wir etwa ein Projekt, das sich mit dem Alltag von Flüchtlingen beschäftigt. Die Studierendengruppe war auch in Hildesheim. Sie untersuchen, wie Kinder und Jugendliche in dieser Situation aufwachsen, etwa in Flüchtlingsheimen. Ein anderes Projekt, an der Schnittstelle zur Organisationspädagogik, untersucht, warum sich Menschen überhaupt noch ehrenamtlich engagieren. Weshalb machen sie das, was lernen sie dabei? Die Studierenden haben Interviews mit Menschen geführt, die in sehr anspruchsvollen und psychosozial belastenden Bereichen arbeiten, etwa in der Katastrophenhilfe und beim Deutschen Roten Kreuz. Wieso machen die das überhaupt, was sind ihre Beweggründe? Ein Projekt befasst sich mit Frauen in der Bundeswehr. Wie ist das als Frau in einer männlich dominierten Welt der Bundeswehr? Das studentische Team befragt Frauen, die selbst eine Karriere in der Bundeswehr machen, wie sie ihren Weg in dieser Institutionen – auch mit Hindernissen – beschreiben.

Eine letzte Frage: Der Fall. Sie haben ein Buch über die „sozialpädagogische Fallarbeit“ verfasst. Können Sie noch diese Wortkombination erläutern?

In dem Buch geht es um die Arbeit mit Fällen im Studium. Mit Wolfgang Schröer zusammen arbeite ich an einem Projekt, gemeinsam mit dem Jugendamt des Landkreises Hildesheim, über die Planung von Hilfen. Wenn Kinder und Jugendliche und deren Familien Unterstützung brauchen, dann werden sie dort – in Form von einer Akte – zu einem Fall. Dieser Prozess ist für den Hilfeverlauf ganz zentral. Wir schauen uns an, wie in der Jugendhilfe Hilfen für Kinder und Jugendliche bearbeitet werden. Wir untersuchen etwa vor Ort in der Fallbearbeitung, wie diese Prozesse ablaufen, wie Diagnosen getroffen und Hilfen geplant und wie Kinder und Jugendliche beteiligt werden. Wir wissen aus der Fachdebatte, dass die Beteiligung der Jugendlichen entscheidend ist für das Gelingen der Hilfen. Dies nun sehr nah an der Praxis, im Landkreis Hildesheim, im Jugendamt, im Büro, bei den Mitarbeitern aus der Fallbearbeitung zu untersuchen, wird sehr spannend sein, auch um die Hilfeplanung in der Region gemeinsam zu verbessern.

Öffentliche Antrittsvorlesung

In seiner Antrittsvorlesung spricht Professor Gunther Graßhoff über Partizipation und Verstehen in der sozialpädagogischen Forschung. Er geht der Frage nach, wie junge Menschen selbst im Kontext unterschiedlicher Forschungsprojekte beteiligt werden können. Die Vorlesung beginnt am Mittwoch, 6. Mai 2015, um 18:15 Uhr in der Aula am Bühler Campus der Uni Hildesheim. Interessierte sind herzlich willkommen.


Wissen, was Jugendliche bewegt und wie man sie beim Erwachsen werden unterstützen kann: Professor Gunter Graßhoff untersucht an der Uni Hildesheim etwa, wie Schulen und außerschulische Einrichtungen zusammenarbeiten. Zwischen Büro und Kickertisch verdeutlicht Graßhoff im Interview, dass die Aufgabe von Jugendzentren weitreichender ist, als bloß einen Billardtisch in den Raum zu stellen. Aus seiner Forschung berichtet der Sozialpädagoge in einer öffentlichen Antrittsvorlesung. Fotos: Isa Lange

Wissen, was Jugendliche bewegt und wie man sie beim Erwachsen werden unterstützen kann: Professor Gunter Graßhoff untersucht an der Uni Hildesheim etwa, wie Schulen und außerschulische Einrichtungen zusammenarbeiten. Zwischen Büro und Kickertisch verdeutlicht Graßhoff im Interview, dass die Aufgabe von Jugendzentren weitreichender ist, als bloß einen Billardtisch in den Raum zu stellen. Aus seiner Forschung berichtet der Sozialpädagoge in einer Antrittsvorlesung. Fotos: Isa Lange