DIE KINDERLADENBEWEGUNG ALS CASE-STUDY DER ANTIAUTORITÄREN ERZIEHUNGSBEWEGUNG. 1968 UND DIE PÄDAGOGIK IN KULTUR-, MODERNITÄTS- UND PROFESSIONSGESCHICHTLICHER PERSPEKTIVE (1965-1977).

PROJEKTLEITERIN: Prof. Dr. Meike Sophia Baader

LAUFZEIT: 01.10.2010 - 30.09.2013

TEILPROJEKT I: Die Kinderladenbewegung in Berlin 1965-1977. (Bearbeiterin: Beate Ronneburger)

TEILPROJEKT II: Die Befreiung der kindlichen Sexualität. Sexual­pädagogik im Rahmen der Kinderladenbewegung. (Bearbeiterin: Christin Sager)

 

PROJEKTSKIZZE:

Ziel des Projekts ist, die pädagogischen Dimensionen von „68“ in kultur-, modernitäts- und professionsgeschichtlicher Perspektive zu analysie­ren. Dies erfolgt exemplarisch anhand der Kinderladenbewegung in Berlin. Erfasst werden die Motive für die Gründung von Kinderläden, ihre soziale Zu­sammensetzung und ihre pädagogischen Konzepte. Auf der Sexualerziehung liegt dabei ein besonderer Akzent. Untersucht werden zudem die Entstehung pädagogischer Zeitschriften im Kontext der Kinderladenbewegung und die Ef­fekte der Kinderladenbewegung für die Professionali-sierung der Erzieherin­nenausbildung.

Erwartbar sind Ergebnisse für die Erziehungsgeschichte nach 1945 in modernisierungs- und professionsgeschichtlicher sowie für die Histo­riographie der 68er Bewegung in kulturgeschichtlicher Perspektive.

 

FORSCHUNGSFRAGEN:

Welche Motive liegen der Gründung von Kinderläden zugrunde?

Wer waren die Gründerinnen und Gründer der Kinderladenbewegung?

Wie hingen frühe Frauenbewegung und Kinderladenbewegung zusammen?

Wie setzten sich die Kinderläden sozial zusammen?

Wie viele Kinderläden gab es um 1970 in Berlin?

Welche pädagogischen Konzepte wurden entwickelt?

Welche Konzepte zur Sexualpädagogik wurden entwickelt?

Welche pädagogischen Zeitschriften wurden im Umfeld der Kinderladenbewe­gung gegründet?

Welche Professionalisierungseffekte hatte die Kinderladenbewegung?

Wie lassen sich ihre Effekte für die bundesrepublikanische Bildungs- und Erziehungsgeschichte beschreiben?

 

ERGEBNISSE:

Ausgangspunkt des Projektes stellte das Forschungsdesiderat zu pädagogischen Dimensionen von „68“ dar. Hier hat das Projekt Ergebnisse zu den pädagogischen Dimensionen von „68“ auf der Ebene pädagogischer Konzepte und Praxen der Berliner Kinderladenbewegung, hinsichtlich der Übernahme von Prinzipien der antiautoritären Kindererziehung in den Regelbereich, etwa im Rahmen des Modellprojektes Kita 3000 in Frankfurt/M., zur Diskussion um die kindliche Sexualität und zum Wandel der Sexualerziehung, zur ErzieherInnenausbildung sowie zum Fachdiskurs in pädagogischer Zeitschriften vorlegen und zugleich vier Annahmen der bisherigen bildungs- und geschlechtergeschichtlichen Forschung zu „68“ widerlegen bzw. präzisieren können.

1. Die Periodisierung, die Axel Jansa (1999) zur Kinderladenbewegung vorschlug (Vorphase 1965-1967, antiautoritäre Phase Juni 1967-1968, proletarische Phase Herbst 1968-Winter 1969 und Phase der sozialliberalen Bildungsreform 1969-1972) muss revidiert werden. Zu allen Zeiten existierten höchst unterschiedliche Konzepte in den verschiedenen Einrichtungen, so dass eine Phaseneinteilung mit entsprechenden Homogenisierungen hinsichtlich der pädagogischen Konzepte der Heterogenität der Ansätze nicht gerecht wird.

2. Die These, dass eine geschlechtsspezifische Erziehung in den Kinderläden keine Rolle spielte (Rendtorff 2009, S. 146) muss revidiert werden. Bereits ab 1968 wird diese in den Kinderläden diskutiert.

3. Die These, dass sich die westdeutsche Frauenbewegung erst 1973 im Zuge der Diskussionen um den § 218 etablierte (Gerhard 2008), muss ebenfalls widerlegt werden. In Berlin konstituiert sich die Frauenbewegung 1968 im Zusammenhang mit der Frage der Kinderbetreuung und ist aufs Engste mit der Kinderladenbewegung verknüpft (Baader 2011).

4. Die Einordnung der 68er Bewegung in die „langen 60er Jahre“ (Siegfried/von Hodenberg 2006) trifft zwar auch auf die Kinderläden zu, nicht aber auf die dort verorteten Ideen zur Sexualerziehung. Hier fand im Jahr 1968 eine Zäsur statt (Sager 2015).

Zudem konnten erstmals Zahlen zur Verbreitung der Kinderläden vorgelegt werden. So stieg die Anzahl von Kinderläden in Berlin von 58 im Jahre 1970 auf 304 im Jahre 1974 an. Auch in den pädagogischen Zeitschriften war das Thema der antiautoritären Erziehung Anfang der 1970er Jahre am stärksten präsent, so dass für die frühen 1970er Jahre von einem Höhepunkt gesprochen werden kann, der zugleich mit Gefühlen von Aufbruch und des Betretens von „Neuland“ verbunden war. Differenziert benannt werden konnte auch das Spektrum heterogener Ansätze, innerhalb derer sich wiederum vier Typen identifizieren lassen. Die jeweilige Ausprägung der pädagogischen Ansätze ist zugleich stark vom politischen Klima der Städte abhängig, sie unterscheiden sich in West-Berlin und Frankfurt/M. Insgesamt lässt sich ein starker Stadtteilbezug der Kinderladenbewegung feststellen, der eng mit der Entstehung von Bürgerinitiativen verbunden ist (Baader 2011). Zwar ist die auf Elterninitiativen beruhende Kinderladenbewegung in einem akademischen Milieu angesiedelt, aber es gab sozialpädagogische Projekte, die Kinder aus sozial benachteiligten Familien und aus Migrantenfamilien adressierten (TEK Berlin). Deren pädagogische Konzepte unterschieden sich in wesentlichen Punkten und brachten insbesondere auch andere Formen von Elternarbeit hervor. Zudem gab es empirische Forschungen zur Erziehung in den Kinderläden, insbesondere aber eine Begleitforschung zu deren Implementierung in den Regelbereich im Rahmen des Frankfurter Modellprojektes Kita 3000 (Flaake 1978). Auch hier wird die Bedeutung des akademischen Herkunftsmilieus der Kinder für die Passung mit antiautoritären Ansätzen unterstrichen.

Die Kinderladenbewegung, die auch in enger Verbindung mit universitären pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Instituten entstand, hatte - über ein subkulturelles Milieu hinausgehende - Effekte auf die pädagogische Praxis. Vorstellungen etwa von der Perspektive des Kindes als Akteur (Baader/Sager 2010), das Prinzip der Selbstregulierung, die Bedeutung der Sexualerziehung, der Abbau hierarchischer Strukturen sowie die Elternbeteiligung und die Selbstreflektion der Fachkräfte wurden - zumindest teilweise - sowohl in den Elementar- und Primarbereich als auch in die ErzieherInnenausbildung in West-Berlin transferiert. Für diese Transferprozesse und Implementierungen erwies sich das „Klima“ der Bildungsreform zu Beginn der 1970er Jahre als günstig. Die längerfristige Etablierung von antiautoritären Erziehungskonzepten blieb hingegen schwierig. Dies wurde anhand des Modellprojekts Kita 3000 gezeigt, das im Zuge veränderter bildungs- und kommunalpolitischer Machtverhältnisse 1978 abgeschafft wurde. Dagegen gelang die Etablierung der Freien Schule Frankfurt 1986.

Im Bereich der Sexualerziehung muss von einer Zäsur um 1968 gesprochen werden. Es kam zu einem radikalen Bruch der Konzepte und Praxen, die vor 1968 nicht zu beobachten sind. In der Sexualerziehung stand vor allem die Idee der „Selbstregulierung“ der Kinder im Fokus mit dem Ziel der „Befreiung“ der kindlichen Sexualität. Die infantile Sexualität wurde als der erwachsenen gleichwertig verstanden. Protokolle zeugen von den Auseinandersetzungen im Umgang mit den Äußerungen kindlicher Sexualität und der Reaktion der Erwachsenen auf diese. Stand also zunächst die kindliche Sexualität im Fokus, rückte zunehmend die Sexualität der Erwachsenen ins Zentrum der Elternarbeit und sollte in kollektiven Gruppentherapien bearbeitet werden. Insgesamt lässt sich bilanzieren, dass das Thema kindliche Sexualität zwar in den Protokollen und Programmatiken der Einrichtungen einen zentralen Stellenwert erhielt, dennoch keine eigenständigen Sexualerziehungskonzepte aus der Kinderladenbewegung hervorgegangen sind.

Des Weiteren ließen sich Effekte der Kinderladen-, Studenten- und Frauenbewegung - das heißt der Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) um 1970 - anhand der Analyse pädagogischer Fachdiskurse in Zeitschriften sowie der Curricula der ErzieherInnenausbildung rekonstruieren, dies betraf etwa Modelle der Partizipation im Rahmen der Ausbildung. Am Pestalozzi-Fröbel-Haus Berlin lassen sich Prozesse der Demokratisierung und Enthierarchisierung des LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnisses nachzeichnen, die Impulse aus den Neuen Sozialen Bewegungen aufnahmen. In deren Umfeld wurden auch neue pädagogische Zeitschriften („betrifft erziehung“, „päd extra“, „Sozialpädagogische Korrespondenz“) gegründet und damit das Spektrum pädagogischer Fachzeitschriften erweitert. In bereits etablierten pädagogischen Fachorganen erfolgte eine Rezeption mit zeitlicher Verschiebung, Reformvorschläge für den Vorschulbereich gingen zu Beginn der 1970er Jahre in modifizierter Form in den pädagogischen Fachdiskurs ein. Hinsichtlich der Rezeption von pädagogischen Themen aus dem Umfeld der NSB, insbesondere der antiautoritären Erziehungsbewegung, ist eine Diskrepanz zwischen pädagogischen Fachzeitschriften, die den Handlungsfeldern nahestehen einerseits und der einschlägigen Zeitschrift der Disziplin, der „Zeitschrift für Pädagogik“, festzustellen. Dort wurden Themen der Kinderladenbewegung kaum aufgegriffen, wohl aber Fragen der Bildungs- und Hochschulreform.

 

DFG-ABSCHLUSSBERICHT

PUBLIKATIONEN AUS DEM PROJEKT

 

Im Rahmen des Projektes wurde eine Literaturdatenbank erstellt, die wir auf Anfrage gern zur Verfügung stellen.

Kooperationspartner und Netzwerke des Projektes:

Über weitere Hinweise, Anregungen, Materialien und Kontakte würden wir uns sehr freuen und sind Ihnen dankbar, wenn Sie sich mit uns in Verbindung setzen.

Universität Hildesheim

Fachbereich 1: Erziehungs- und Sozialwissenschaften

Institut für Erziehungswissenschaft/ Abteilung Allgemeine Erziehungswissenschaft

Universitätsplatz 1
31141 Hildesheim

Team

Projektleiterin:

Prof. Dr. Meike Baader
E-Mail: baader(at)uni-hildesheim.de
Tel.: +49 (0) 5121-883-10102
Fax: +49 (0) 5121-883-10103

Teilprojekt I

Beate Ronneburger
E-Mail: ronnebur(at)uni-hildesheim.de
Tel.: +49 (0) 5121-883-10126
Fax: +49 (0) 5121-883-10127

Teilprojekt II

Christin Sager
E-Mail: sagerc(at)uni-hildesheim.de
Tel.: +49 (0) 5121-883-10128
Fax: +49 (0) 5121-883-10129


Studentische Mitarbeiterin:
Melanie Bühnemann