Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus und die Perspektive eines „Neuen Europa“

Europagespräche des Instituts für Geschichte, Stiftung Universität Hildesheim

 

6.1.2014: Dr. Holm Arno Leonhardt: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus und die Perspektive eines „Neuen Europa“

 

Zum Referenten: Dr. Holm Arno Leonhardt studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie an den Universitäten Göttingen, Hannover und Bremen. 1983 promovierte er mit einer Arbeit zum Thema „Der Konflikt um Supranationalität und Intergouvernementalität in der EG“. Seit 1985 ist Dr. Leonhardt wissenschaftlicher Bibliothekar und seit 1989 Fachreferent an der Universität Hildesheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Klassische Kartelltheorie und die Wirtschaftsgeschichte ab 1870, die Internationale Integration, darunter Fragen der EU und des Euro, sowie die Nationalcharakterforschung und nationale Ressentimentforschung.

 

Der Referent gliedert seinen Vortrag in zwei Abschnitte, mit folgenden Schwerpunkten:

a)      Die Organisation der deutschen Wirtschaft im Nationalsozialismus.

b)      Die durch den II. Weltkrieg bedingte Europäisierung der Wirtschaft ab 1939/40.

 

Die Organisation der deutschen Wirtschaft im Nationalsozialismus

Dass Deutschland den Krieg trotz zuletzt aussichtsloser Situation durchhielt, war auch einer starken Wirtschaft zu verdanken, die bereits vor dem Krieg auf diesen ausgerichtet wurde. Mit dem Machtantritt 1933 erfolgte der Übergang zur Planwirtschaft mit Vierjahresplänen, zunächst zum Abbau der Arbeitslosigkeit, dann zur Erreichung der Kriegsfähigkeit. Ab 1938 sprach man dabei von „gelenkter Wirtschaft“, um sich von der sozialistischen Planwirtschaft abzugrenzen. Diese Wirtschaftslenkung war eine spezielle Form der Privatwirtschaft in einem autoritären Staat ohne unabhängige Gewerkschaften und liberale Rechte, stattdessen mit totalitärer Gleichschaltung und Deutscher Arbeitsfront (DAF). Es gab aber private Unternehmen und die Unternehmer konnten die Organisation der Planwirtschaft beeinflussen. Auch hatte die DAF durchaus einige gewerkschaftliche Funktionen.

Die Wirtschaft war erfolgreich auf Wachstum hin orientiert, wie einige Zahlen belegen:

·         1933-1940 gelang die Verdoppelung des realen Pro-Kopf-Einkommens.

·         Zwischen 1928 und 1938 erhöhte sich die Industrieproduktion um 35%.

·         1940-1943 gelang Deutschland die Mobilisierung der Wirtschaft von mehr als halb Europa.

·         1942-1944 sorgte das „Rüstungswunder“ für die Vervielfachung der Waffenproduktion: Die Produktion von Panzerwagen stieg auf das 5fache (plus 450%), die der Flugzeuge auf das 8fache (plus 700%).

 

Die Forschung zur NS-Wirtschaft hat vier Ansätze entwickelt, um die Stärke Deutschlands zu erklären, die jedoch jeweils nur Teilsaspekte erfassen.

1.      Die Wirtschaft beruhte auf Raub und Zwangsarbeit. – Das sei, so der Referent, richtig, aber der normale Betrieb der Wirtschaft sei weitaus wichtiger gewesen. Die Auswirkungen der „Raub- und Zwangswirtschaft“ seien in einer Nettobilanz nicht eindeutig positiv, in einiger Hinsicht klar leistungsmindernd gewesen.

2.      Es war eine Befehls- und Kommandowirtschaft, deren Effizienz nur durch Druck zustande kam.

3.      Die Emergenztheorie behauptet ein Chaos bei den Interessen und Initiativen im Lenkungsapparat und ein „glückliches Durchwursteln“ durch die vielfältigen Entscheidungsprobleme. Es sei eine behelfsmäßige polykratische Wirtschaft ohne Konzept gewesen (analog zum Chaos im Staatsapparat, von dem Historiker sprechen), die nach Versuch und Irrtum agierte. – Ein bloßes Durchwursteln könne allerdings, so der Referent, kaum zu so beachtlichen Ergebnissen führen.

4.      Es war die hohe Kriegsmoral der Deutschen, die zu herausragenden Ergebnissen führte. – Tatsächlich verhielt sich die Bevölkerung ziemlich loyal und diszipliniert, obwohl die Versorgung eingeschränkt wurde.

Der Referent stellt eine Gegenthese auf: Die Stärke der NS-Wirtschaft beruhte auf einer ausgefeilten Organisationskunst, welche die Methodik der Kartelle nutzte. Bereits die Wirtschaft in der Weimarer Republik war zu etwa 50% kartelliert. Kartelle sind Unternehmensverbände einer Branche, die damals legal waren, Kartellbüros und eine eigene Verwaltung hatten. Sie griffen in den Absatz ein, die Preisgestaltung, die Produktion, optimierten Transportkosten und Qualität, waren gesamtwirtschaftlich durchaus nützlich. Das Motto war Kooperation statt Konkurrenz. Der Nationalsozialismus hat die „Kartelltechnik“ systematisch und konsequent angewandt, über das Maß hinaus, das die Kartelle bis dato selbst erreicht hatten.

 

Dabei ist zunächst zu fragen, wer die Macht hatte, diese Veränderungen in der Wirtschaft durchzuführen? Drei Gruppen hatten Einfluss auf die Wirtschaft:

1.      Die Nationalsozialisten als politisch herrschende Gruppe. Ihre Ideologie war rassistisch, antidemokratisch, theoriefeindlich und antibürgerlich, etablierte ein Führersystem und drängte auf „Lebensraum“. Hitler misstraute nach eigener Aussage den Fachleuten und vertraute lieber seinem Instinkt. Er traf Entscheidungen auch gegen wissenschaftliche Erkenntnisse. Auch im Bereich der Wirtschaft galt der Primat der Politik.

2.      Die Unternehmerschaft, oft studiert und gebildet. Über sie wurde nun häufig verfügt; sie waren die politischen Verlierer des Regimewechsels. Als „Betriebsführer“ ihrer „Gefolgschaft“ erfuhren sie allerdings eine gesellschaftliche Aufwertung. Ideologisch waren sie schon in der Weimarer Republik oft antigewerkschaftlich und proimperialistisch orientiert.

3.      Wirtschaftsfachleute in der staatlichen Verwaltung und in Wirtschaftsverbänden. Sie waren oft hochgebildet, stammten in der Regel aus dem Bürgertum und wurden bei der Umstellung auf planwirtschaftliche Methoden immer wichtiger.

Es gab Konflikte zwischen den rassistischen Nazis und den Bürgerlichen. Vor, während und nach dem Dritten Reich hieß es, ‚Die Nazis verstehen nichts von Wirtschaft‘. Diese wehrten sich gegen solche Aussagen und rangen um Geltung in der Wirtschaft, auch mit (recht niveaulosen) Büchern, etwa zum „Lebensgesetz des völkischen Wirtschaftens“.

 

Die Wirtschaft der Weimarer Republik war trotz einiger Stärken vor allem geprägt von

·         einer Strukturschwäche und mangelnder Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland,

·         einer Spaltung der Wirtschaft in kartellierte und nicht kartellierte Bereiche,

·         einem Kapitalmangel als Erbe des Krieges und des Versailler Vertrags.,

·         unsicheren Exportmärkten,

·         einer begrenzten Steuerungsfähigkeit des ‚liberalen‘ Staats über die ‚liberalen‘ Unternehmer.

·         dem durch die Weltwirtschaftskrise erschütterten Glauben an den liberalen Kapitalismus, was in den 30er Jahren zu einer ‚Planwirtschaftsdebatte‘ führte. (Deren Gegner nannten sich ab 1938 ‚Neoliberale‘ und bildeten ein schwaches, exotisches Häuflein.)

 

Vor diesem Hintergrund suchte die NS-Wirtschaftspolitik nach mehr Steuerungsfähigkeit. Es entstanden zunächst Zwangskartelle in der Agrarwirtschaft („Reichsnährstand“), in denen jeder Bauer oder Produzent Mitglied sein musste. Unzureichende Preise wurden angehoben, was zu bescheidenem Wohlstand führte. Ab 1934 wurden Zwangskartelle auch in industriellen Bereichen eingeführt und die Kartellkontrolle verschärft. Neben Preiskontrollen gab es Investitionsverbote in überinvestierten Branchen (Quotenkartelle). Für die Devisenbewirtschaftung gelang es eine Art Kunstgeld zu schaffen, unabhängig vom Goldstandard. Gleichzeitig begannen mit dem „Gesetz über den organischen Aufbau der deutschen Wirtschaft“ von 1934 die Gleichschaltung in der Wirtschaft und der Durchgriff des Regimes auf jeden einzelnen Unternehmer. Nach berufsständischem Prinzip wurden Wirtschaftsgruppen eingerichtet mit Zwangsmitgliedschaft. Durch deren zunehmende Befugnisse bei der Marktordnung und –regulierung kann von einer Art Vollkartellierung der deutschen Volkswirtschaft gesprochen werden.

Die Propaganda verkündete die Ziele „Arbeit für alle“ und ‚Deutschland wieder groß und bedeutend machen‘, Hitler sprach von einer „soldatischen Haltung in der Wirtschaft“. In diesem Sinn wurden sowohl Arbeitskämpfe verboten – sie galten als unsolidarisch und gegen die Volksinteressen gerichtet – als auch Konkurrenzkämpfe zwischen den Unternehmern unterdrückt. Stattdessen wurden gerechte Preise, soziale Leistungen und eine faire Konkurrenz angeordnet. Die Werbung wurde (mit einigen Ausnahmen) auf volkswirtschaftlich Nützliches beschränkt, etwa auf Verbrauchslenkung oder Verbrauchererziehung gerichtet.

Mit all dem strebte das Regime letztlich die Kriegsfähigkeit der Wirtschaft an. In der ersten Phase wurden Infrastrukturprojekte (Autobahnen) zur Arbeitsbeschaffung gefördert, in der zweiten Phase die Aufrüstung forciert, was zunächst als Nachholbedarf gegenüber anderen Staaten in Sachen Statusgewinn erschien. Die Blockadeerfahrungen des I. Weltkriegs führten zur Bevorratung, aber auch zur Autarkiepolitik und zur Suche nach Ersatzstoffen. Ab 1936 wurde der Konsum reguliert (Kanonen statt Butter) und schließlich die Gesamtwirtschaft nach wehrwirtschaftlichen Gesichtspunkten organisiert. Es gab in allen wichtigen Industriestaaten Gesetze für die Umstellung auf Kriegswirtschaft, in der Weimarer Republik entsprechende Planung seit 1924. Das Dritte Reich ging über den Standard eines ‚Kriegswirtschaftsrechts schon im Frieden‘ noch hinaus: Es schuf sich eine kriegsfähige Regulierung der Wirtschaft bereits unter Friedensbedingungen, musste die Wirtschaft bei Kriegsausbruch nicht erst gemäß Kriegswirtschaftsrecht umstellen.

 

Im Rahmen dieser erhöhten verbandlichen und staatlichen Kontrolle wurden z.T. über ‚Kartelltechniken‘ vielfältige Effizienzgewinne eingefahren:

·         In den Absatzkartellen war die Verbandswerbung vorgeschrieben, d.h. das einzelne Unternehmen verzichtet auf Werbung, was Kosten spart.

·         Die Transportkosten wurden optimiert: Kunden werden vom nächstgelegenen Werk beliefert, der Zwischenhandel ausgeschaltet.

·         In der Agrarwirtschaft wurde 1934 der Milchabsatz reorganisiert: Der einzelne Milchhändler, der vorher Produkte von bis zu 17 Molkereien z.T. von weither bezogen hatte (ein Kennzeichen liberalen Wirtschaft, in der sich niemand abhängig machen will), kaufte nunmehr nur von ein bis zwei. 1939/40 galt dasselbe Prinzip für Butter, Margarine und Speiseöl, nachdem man unnötig lange (sich kreuzende) Lieferwege festgestellt hatte.

·         Die Preisstabilität war gut für Unternehmen, denn sie führte zu einer gleichmäßigeren Nachfrage, diese wiederum zu einer gleichmäßigeren Produktion.

·         Zur normalen Rationalisierung in der Wirtschaft gehören die Produktionsverbilligung durch neue Anlagen, Reorganisationen oder Stilllegungen. Im Krieg geschah dies rasch und koordiniert, wenn etwa Anlagen nicht kriegswichtig oder zu unproduktiv waren.

·         In Branchen mit vielen verschiedenen Produkten war ein einheitliches Preiskartell nicht möglich, stattdessen gab es Kartelle auf der Basis einer gleichartigen Kalkulation (Kalkulationskartelle). Zu diesem Zweck wurde die bereits in der Weimarer Republik begonnene Weiterbildung der Unternehmer verstärkt fortgesetzt.

·         Seit 1921 förderte das Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit u.a. die Reduzierung der Typenvielfalt; in einigen Branchen gab es dazu Spezialisierungs- oder Fertigungskartelle. Ab 1936 drängte das Regime stärker auf Rationalisierungen. Die deutsche Wirtschaft war geprägt durch viele kleinere und mittelständische Unternehmen, die den Kunden sehr entgegen kamen, bis hin zur Einzelanfertigung eines Produkts, woran sich oft der Versuch einer Kleinserie anschloss und branchenwirtschaftlich ein Wildwuchs von Produkttypen entstand. So gab es im Extremfall etwa 20.000 Glühlampenformen, die auf einige Hundert zusammengestrichen werden konnten. Durch die Rationalisierungen wurde die Typenvielfalt im Durchschnitt auf 10-40% verringert, was auf eine drastische Kostensenkung hinauslief.

·         Während des Krieges kam es auf Druck des Regimes zur Weitergabe von organisatorischem Wissen und Betriebsgeheimnissen von den besonders kostengünstigen Unternehmern zu ihren Konkurrenten.

 

Die Unternehmer nahmen diese Maßnahmen nicht immer widerspruchslos hin. 1934 verweigerte die Zementindustrie die Neuaufteilung der Absatzgebiete, 1936 hebelten einzelne Kartelle die Kartellkontrolle aus und schafften es, ihre Führungspersonen in die Wirtschaftsgruppen einzubringen. Ebenfalls 1936 stellte sich das Ruhrstahl-Syndikat gegen das Autarkieprojekt Salzgitter-Stahl; das Regime setzte allerdings den Bau der Reichswerke Hermann Göring durch.

1939 nutzte das Regime den Rationalisierungsbedarf, der durch die Anschlussgebiete mit viel Glasindustrie (Sudetenland, Protektorat Böhmen und Mähren) entstanden war, und schuf als ersten Lenkungsverband mit staatlich empfohlenem Vorsitzenden die ‚Hohlglasgemeinschaft‘. Das bedeutete einen Sprung weg von den Kartellen in eine neue Organisationsform. 1940 erhielten die Zementsyndikate mit dem „Deutschen Zementverband“ eine Dachorganisation mit staatlich eingesetztem Leiter. 1941 geriet das Reichskohlenkommissariat als Behörde oberhalb der Syndikate in einen Konflikt mit den Bergbauunternehmern, die die Kommandowirtschaft kritisierten und einen eigenen Dachverband gestalteten. Das Regime akzeptierte diese selbstgestaltete Organisation, benannte ihn um in „Reichsvereinigung Kohle“ und setzte einen Vorsitzenden ein. Das Modell der Reichsvereinigung wurde 1942 auf vier weitere Bereiche übertragen: Eisen, Bastfasern, chemische Fasern, Textilveredelung (die letzten drei für textile Ersatzstoffe). Das Regime schuf damit neuartige Lenkungsverbände und beseitigte die Kartelle bzw. baute sie in die Lenkungsverbände ein. 1943 wurde eine ‚Kartellbereinigung‘ beschlossen, durch die 90% aller Kartelle liquidiert wurden.

 

Die durch den II. Weltkrieg bedingte Europäisierung der Wirtschaft ab 1939/40 – Das „Neue Europa“

Ab 1940 ist unter diesem Begriff die Europa-Ordnung der Achsenmächte Deutschland und Italien zu verstehen. Dabei ging es angesichts der wirtschaftlichen und militärischen Dominanz im Kern um eine Europäisierung der deutschen Planwirtschaft durch Verbreitung deutscher Organisationsregeln. Ab 1941/42 wurde dieser Verbund zunehmend auch als „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ bezeichnet. Das ‚Neue Europa‘ wurde intensiv propagiert; man gewann dafür auch ausländische Autoren, leisteten doch das Ausland und die besetzten Gebiete einen erheblichen Beitrag zur deutschen Kriegswirtschaft. Im Konzept dieser europäischen ‚Großraumwirtschaft‘ lassen sich Konfliktpunkte zwischen Entscheidungsträgern mit bürgerlicher und NS-ideologischer Orientierung erkennen:

·         Sollte es weitere Annexionen geben oder auf Gewalt verzichtet werden? – In den deutschen Wirtschaftszeitschriften wurde ein Gewaltverzicht versprochen; die besetzten Gebiete sollten gleichberechtigte Partner werden.

·         Sollten in Politik und Arbeitsleben Rassismus oder Gleichberechtigung herrschen?

·         Wie stand es um die Rückzahlung von Schulden? – Deutschland stand gegenüber einigen Ländern stark im Minus. Die deutschen Wirtschaftsautoren betonten, dass Deutschland nach dem gewonnenen Krieg lieferfähig sein, Europa aufbauen und alle Schulden zurückzahlen würde.

 

In der Frage der Industrialisierung und Modernisierung der Staaten der Peripherie (Balkan, Norwegen, Ukraine) waren Nazis und Bürgerliche sich einig. Die Belieferung dieser Länder mit Industriegütern aus Deutschland galt als zu teuer, eher sollte vor Ort Industrie aufgebaut werden, was man verschiedentlich auch in Angriff nahm. Die Sowjets hatten bei ihrem Abzug aus der Ukraine Fabriken und Stahlwerke zerstört. Sie wurden von der deutschen Industrie wieder aufgebaut, was sich kriegswirtschaftlich aber nicht auswirkte, da die Sowjets zurückkehrten.

Für das Neue Europa gab es auch eine politische Konzeption: den Großraumführerstaat, wobei ein Kompromiss zwischen Nazis und Bürgerlichen erkennbar ist. Gemäß einem Abkommen zwischen Japan, Deutschland und Italien sollten diese Länder in ihren jeweiligen Großwirtschaftszonen auch politisch führen, bei Gleichberechtigung untereinander. Im europäischen Osten sollte es ein germanisch-romanisches, von Deutschland angeführtes Siedlungswerk geben.

Die deutschen Lenkungsmethoden der Wirtschaft wurden zwischen 1939/40 und 1944 in unterschiedlichem Maß über Europa verbreitet. „Großdeutsches Reich“ meinte nun die besetzten und verbündeten Staaten. In den angeschlossenen Gebieten wurden die deutschen Lenkungsmethoden eingeführt; die Niederlande, Belgien und Frankreich übernahmen diese Organisationsverfahren relativ bereitwillig. Dagegen waren die unabhängigen Verbündeten (Italien, Kroatien, Ungarn, Finnland) zurückhaltender; es gab hier nur Ansätze einer Lenkungswirtschaft. Das besetzte Dänemark hat kaum Einwirkungen erfahren.

Auch über die Wirtschaftsordnung nach einem gewonnenen Krieg hatten einige Wirtschaftsautoren bereits genauere Vorstellungen. Die Konzerne sollten entflochten werden, denn man kritisierte, dass sie sich nicht richtig eingefügt hatten. Gefordert wurden zudem freie Märkte und die freie Betätigung der Unternehmer, ohne Kartelle und ohne Bewirtschaftung. Daraus folgerten Historiker, der Nationalsozialismus wollte zum Neoliberalismus übergehen. Das ist jedoch zu bezweifeln, denn der Wirtschaftslenkungsapparat als solcher sollte grundsätzlich beibehalten werden, um die Möglichkeit zu behalten, die Wirtschaft schnell wieder auf Kriegs- oder Blockadeverhältnisse umzustellen. Dazu durfte man den Unternehmern nicht allzu viele Rechte dauerhaft überlassen. Die geforderten Lockerungen bezweckten offensichtlich eine Durchsetzung des nationalsozialistischen Ideals der „Leistungskonkurrenz“. Dazu hätte man die Parameter Preise, Produktionsmengen und Produktqualitäten mehr oder weniger freigegeben, andere Regulierungen aber belassen.

Nach einem Sieg des Dritten Reichs im Weltkrieg hätte es vermutlich schwere Probleme mit den Partnerstaaten der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ gegeben. Manche hegten die Hoffnung, dass eine Versöhnung auf der Basis gemeinsamer Arbeit eintreten werde – aber daran darf gezweifelt werden.

 

Diskussion

 

Hinweis Prof. Gehler: Auf der Suche nach der Herkunft des Begriffs „EWG“ bin ich vor vielen Jahren auf eine Publikation der Hochschule für Wirtschaft in Berlin von 1943 gestoßen. Es gab dort eine Veranstaltung zur „EWG“, zur Großraumwirtschaft und Führerstaatswirtschaft. Die Ideen zur Reduzierung von Wirtschaftsmacht, zur Schaffung von Märkten und Vereinigungen und Verbänden auf europäischer Ebene gab es schon in den 20er und 30er Jahren. Das ist nicht originell, verblüffend ist aber die Bezeichnung.

Interessant ist, dass die Alliierten nach 1945 nach Deutschland kommen mit der Absicht der Dekartellierung, also einer Zerschlagung der Kartelle. Aber die gab es gar nicht mehr.

 

Diskussionsbeitrag: Sie haben den Begriff Planwirtschaft verwendet. Ich finde der Begriff ist falsch, denn es wurde im Deutschen Reich nicht zentral, sondern dezentral geplant, wie Sie auch ausgeführt haben.

Antwort: Das ist richtig. Der Begriff ist abgeleitet von den Vierjahresplänen. 1936 wurde die Behörde für den Vierjahresplan gegründet, vorher war die Planung eher improvisiert.

 

Diskussionsbeitrag: Ich würde ab 1941/42 den Begriff ‚Großdeutsches Reich‘ nicht mehr verwenden, sondern besser den von den Nazis verwendeten Begriff ‚Großgermanisches Reich‘ – es sollte ja noch mehr werden.

Antwort: In den deutschen Wirtschaftszeitschriften ist weiterhin die Rede vom Großdeutschen Reich.

 

Diskussionsbeitrag: Sie sprechen von den Nazis und den Bürgerlichen. In vielen Berufszweigen waren die führenden Kräfte zum großen Teil Mitglieder der NSDAP; der Großteil des einflussreichen Bürgertums war in der NSDAP. Wie unterscheiden Sie Nazis und Bürgerliche?

Antwort: Ich habe festgestellt, dass der Druck in die Partei einzutreten nicht absolut war. Es gab sogar die Möglichkeit, ohne Parteimitgliedschaft in einflussreicher Position weiterzuarbeiten.

Die Bürgerlichen, die sich den Nazis annäherten, wurden in gewisser Tendenz schuldig, z.B. beim Projekt Aufbau der Wirtschaft in der Ukraine. Die Arbeiterbasis waren Ukrainer, die Betriebsleiter Deutsche und es herrschte Zwangsarbeit. Es war schwer sich unter den Kriegsbedingungen nicht zu verstricken. Man sieht es am Entnazifizierungsprozess vieler Unternehmer. Viele wünschten sich in der letzten Phase, den Krieg zu beenden, sie hatten ja Einfluss und manche Kontakte zum Widerstand. Die Konservativen trugen die Gräuel der Nazis innerlich nicht mit.

 

Diskussionsbeitrag: Nicht jedes Parteimitglied war der Nazi. Kann man die Unterscheidung Bürgerliche – Nazis so treffen? Wäre die Unterscheidung eher dort anzusetzen, wo es um kaufmännisches Denken geht, das dem ideologischen Denken entgegenstand?

Antwort: Es sind unterschiedliche Ideologien. Das Bürgertum war geprägt vom Projekt der Aufklärung. Rassisten können nicht rational sein, die Rassentheorie kann man wissenschaftlich ja widerlegen. Hitler stellte den Instinkt, das Bauchgefühl vor die wissenschaftliche Erklärung: „Ich glaube nicht an Fachleute, ich glaube an meinen Instinkt.“ Wer so metaphysisch eingestellt und dabei Rassist ist, der ist für mich ein Nazi.

 

Diskussionsbeitrag: Sie erwähnten die Wirtschaftsfachleute. Welche Rolle spielten sie und wie wirkten sie auf die Unternehmer ein, vielleicht auch auf die politischen Größen?

Antwort: Die Wirtschaftsfachleute waren an den Spitzen der Ministerien oder Verbänden, d.h. das Regime suchte sich Persönlichkeiten aus, die Sachverstand hatten, die Regulierungsarbeit leisteten und gleichzeitig politisch zuverlässig waren.

 

Diskussionsbeitrag: Wer waren die Köpfe, die Strategen, die das ausgearbeitet haben. Kennt man sie namentlich? Welche Rolle spielte Göring als Verantwortlicher für den Vierjahresplan?

Antwort: Göring hatte gute Leute. Man kann nicht sagen, dass er der Erfinder der Lenkungswirtschaft war. Namen von Lenkungsfachleuten waren Hans Kehrl (in wechselnden Funktionen), Oskar Lehnich (der Begründer der Hohlglasgemeinschaft) oder Heinz Müllensiefen (der Vorsitzende des Zementverbandes von 1940). Etliche waren kartellerfahren und sind dann in die Lenkungswirtschaft gegangen oder hineingerutscht. Vom Unternehmen zum Kartell zur Lenkungswirtschaft, das war in vielen Fällen so. Der spätere Leiter des Bundeskartellamts Eberhard Günther arbeitete im Deutschen Stickstoffsyndikat.

 

Diskussionsbeitrag: Experten im Hintergrund für Österreich und das Sudetenland waren Wilhelm Keppler und Edmund Veesenmayer. Göring nutzte die Experten in der Frage, wie die zu besetzenden Länder ganz gezielt zu sichern waren, was die Devisen- und Goldbestände der Nationalbanken anging und die Beschlagnahmung von Unternehmen. Die Arisierung war ein ganz wichtiges Strukturelement.

Antwort: Es gab auch noch eine andere Enteignungsschiene: die Verstaatlichung des Feindbesitzes. Das hat man in besetzten Ländern gemacht, wo z.B. britisches Kapital war. Was die Arisierung angeht, war der Effekt eher negativ. Diese Raubwirtschaft brachte Unruhe in die Wirtschaft. Die Judenverfolgung hat sich sicher für einzelne wirtschaftlich gelohnt, aber nicht gesamtwirtschaftlich. In Polen, wo man nach dem Einmarsch schnell arisiert hat, gab es anschließend einen Handwerkermangel.

 

Diskussionsbeitrag: Es gab die Ideologen, Hitler, Göring usw., die ihr System durchsetzen konnten. Dann sind Leute wie du und ich hineingeschlittert, wer meinte ich kann hier Karriere machen; das beste Beispiel ist Albert Speer. Das ist die große Gefahr, wenn Fachleute hofiert werden.

Antwort: Auch Fritz Todt war ein unpolitischer Mensch, ein Problemlöser, der überall in den besetzten Gebieten eingesetzt wurde, für Bauprojekte militärischer und ziviler Art.

 

Diskussionsbeitrag: Hitler, Goebbels – das waren keine Europäer. Wenn man das Tagebuch von Goebbels liest, wie er von Europa spricht, dann meint er unser deutsches Europa. Sie sprachen von einer Europäisierung der Planwirtschaft. Ich bin mir nicht sicher, ob man nicht von einer Germanisierung/Verdeutschung der europäischen Wirtschaft sprechen sollte. Europa war doch nur ein Instrument, um noch mehr zu mobilisieren, aber Europa an sich war kein ideologischer oder politischer Anspruch.

Antwort: Das Konzept der europäischen Großraumwirtschaft wurde schon in den 1920ern diskutiert. Es war das Lieblingsprojekt der deutschen Exportindustrie. Ein anderer Punkt kommt hinzu: Die Deutschen hatten gemerkt, dass sie nicht alle Länder gleichermaßen kontrollieren konnten und haben erstaunlich nachgiebig mit den Verbündeten auf dem Balkan verhandelt. Auf die Klagen eines NS-Unternehmers: „warum können wir den Albanern nicht einfach kommandieren“, war die politische Führung zurückhaltend: Wir haben die Divisionen nicht, um Albanien so vollständig zu besetzen, dass wir unseren Willen durchsetzen können, lasst uns verhandeln. Deshalb gab es eine gewisse Chance, dass eine echte Staatengemeinschaft EWG in Kraft hätte treten können. Diese Einsicht, dass man nicht nur unterdrücken kann, dass das kaufmännische Prinzip und eine Selbstverwaltung eintreten muss, hat sich nach und nach durchgesetzt.

 

Diskussionsbeitrag: Aber ist nicht aus dem Verlauf der Geschichte zu entnehmen, dass sich die handelsorientierten Kräfte nicht durchsetzen konnten gegenüber den Ideologen und der NS-Kriegs-, Unterdrückungs- und Terrormaschine. Letztlich ist der Wunsch auf gleichberechtigter Basis Handel zu treiben nur möglich, wenn ich Völker gleich behandele. Das ist nicht geschehen. Die rationalen, wirtschaftlich denkenden Kräfte, Fachleute, Unternehmer, konnten sich nicht behaupten.

Antwort: Das würde ich etwas differenzierter sehen. Wo die Deutschen durch die Besatzung starken Einfluss hatten, in Frankreich, Belgien und den Niederlanden, konnten sie viel durchsetzen. Nach Osten hin galt das bizarre, germanisch-romanische Siedlungsprojekt, während es viele Staaten gab, wo die Deutschen lieber verhandelten, so in Ungarn und Rumänien. Etliche Staaten schafften es, einen ausgeglichenen Handel mit Deutschland zu führen, sie ließen sich nicht ausbeuten. Finnland hat es sogar geschafft mehr von Deutschland zu bekommen als es geliefert hat.

 

Diskussionsbeitrag: Wie sah der Blick der Wirtschaftslenker auf die südlichen Staaten aus? Griechenland, Portugal, Spanien?

Antwort: Es gibt einen Aufsatztitel von 1944: „Griechenland, ein Sorgenkind der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“. Es gelang den Griechen trotz intensiver deutscher Beratung nicht, den Schwarzmarkt in den Griff zu bekommen. Es wurde gegenüber allen südlichen Staaten kritisiert, dass sie nicht bereit waren, die deutschen Wirtschaftslenkungstechniken zu übernehmen. Man schrieb über die galoppierende Inflation bei den Verbündeten, während es Deutschland durch Preiskontrollen und Bewirtschaftung gelungen war, die Preise halbwegs zu stabilisieren. Italien hatte eine Art verfehlter Form der Lenkungswirtschaft. Man hatte Korporationen, dort waren die Arbeitnehmerrechte stärker; es konnte weniger durchregiert werden, war aber auch weniger effektiv.

Wirklich integriert war Frankreich, nach Osten ein Gebiet inklusive der Ukraine, Norwegen war relativ stark integriert. Man findet im norwegischen Wirtschafts- und Steuerrecht noch Relikte aus dieser Zeit; ganz ähnlich in Frankreich und Belgien. Es fand während dieser Zeit unter deutschem Druck ein Lernvorgang statt, ein organisatorisches Lernen, das man aus bestimmter Perspektive als Modernisierung betrachten kann. Manche Dinge hatten Nachwirkungen, sie wurden nicht sofort beseitigt als die Deutschen abzogen. Die Verwaltungen in den besetzten Ländern fanden die eingetretenen Neuerungen nützlich, nahmen daran eventuell nur Abänderungen vor.

 

Diskussionsbeitrag: Da reden wir jetzt aber von den Kollaborations-, nicht von den Resistenz- und Widerstandsgesellschaften.

Antwort: Ich meine damit den Umbau der französischen Wirtschaft und dass es dort Wirtschaftsverbände gab, dass beispielsweise ein Jean Monnet auf diese Organisationen und Strukturen zurückkommen konnte.

 

Diskussionsbeitrag: Ich würde gern auf den Punkt der Großraumwirtschaft zurückkommen. Die Hermann-Göring-Werke z.B. gab es nicht nur in Salzgitter, sondern auch in Linz, nach 1945 hießen sie dort Voest. Man hat profitiert von den Hermann-Göring-Werken, sie waren ein Modernisierungsschub für die österreichischen Stahlwerke. Allerdings waren sie im Krieg auf die Großraum-, die Kriegswirtschaft angelegt und mussten redimensioniert werden auf die Friedenswirtschaft und einen Kleinstaat. Das ist ein Punkt der unterscheidet die EWG der Römischen Verträge von der EWG der Nazis.

Letzter Punkt: Sie haben vier Deutungen angeboten für die Effektivität der Wirtschaftsstruktur der Nazis und ihre These, es sei das spezifische Organisationstalent. Das ist nicht so neu. Man hat 1943 bis 1945, als das große Flächenbombardement einsetzte, schon von der hohen Improvisationsfähigkeit der Deutschen zu dezentralisieren lesen können. Frage: ist es nicht die Kombination von allen fünf Punkten, die man heranziehen müsste und wäre dabei eine Gewichtung möglich?

Antwort: Dezentralisierung und Verlagerung gab es in anderen kriegführenden Staaten auch. Worauf ich hingewiesen habe, ist das spezielle Verhältnis zwischen Staat und Unternehmern, die Einbindung der Unternehmer in die Lenkungsverbände. Es gibt einen Vorsitzenden, der könnte kommandieren, aber wenn er klug ist, tut er es nicht. Er gibt Empfehlungen, bittet die Unternehmer um Unterstützung und gewinnt dadurch deren Engagement und Fachwissen. Das ist wichtig, um zu Höchstleistungen zu kommen. Das ist das spezielle Geheimnis dieser Lenkungswirtschaft. Verlagerung und Improvisation sind zu unspezifisch.

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