Europa – Weltmacht der Herzen (Vortrag und Buchpräsentation)

Europa - Weltmacht der Herzen

(Es gilt das gesprochene Wort!)

 

Berlusconi, so beginnt Kirt seinen plastischen Vortrag, Merkel und Sarkozy haben die Ehre, von Gott eine Zukunftsprognose zu erhalten.  Berlusconi – als der Kleinste von ihnen – darf zuerst fragen und möchte wissen, wann endlich das Mafia-Problem in Italien gelöst werden könne. „Das, lieber Berlusconi“, antwortet Gott,  „wirst du nicht mehr erleben.“ Enttäuscht wendet Berlusconi sich ab und überlässt Merkel das Feld. „Lieber Gott, wann werden wir endgültig die Wirtschaftskrise meistern?“ – „Das, liebe Angela, wird nicht mehr in deine Amtsperiode fallen.“ Es bleibt Sarkozy: „Mon Dieu. Wann wird die EU zur Weltmacht werden?“ – „Ach, Nicolas“, seufzt Gott, „DAS werde ICH nicht mehr erleben!“ – Der so aufgeworfenen Frage, ob, und wenn ja, wann die Europäische Union tatsächlich zur Weltmacht aufsteigen werde, wendet sich Kirt in seinen folgenden Ausführungen zu.

Unter vielen Experten, vor allem in den USA, erläutert Kirt, ist der Glaube an eine wunderbare Zukunft der EU ungebrochen. Doch einige dieser „Experten“ sind keine solchen und argumentieren bisweilen im höchsten Maße naiv. Auffällig ist vor allem, dass einerseits die wachsende Bedeutung Asiens verkannt wird (wobei der Begriff oft sehr vage bleibt und unklar ist, ob nun vor allem China, Indien oder etwas Anderes gemeint ist) und sich andererseits bemerkenswert viele Bush-Gegner unter den Europa-Euphorikern befinden, so Kirt. Als Wortführer in diesem Sinne benennt er vor allem Rifkin und Leonard.

Kirt stellt sich zur Aufgabe, diese positiven Zukunftsprognosen etwas zu relativieren. Zunächst weist er darauf hin, dass das Tempo der globalen Veränderungen zunimmt. Nach wie vor stehen die USA als unbestrittene Supermacht da, auch wenn einige Experten (und noch mehr „Experten“) sie als einen Koloss betrachten, dessen Tage gezählt sind und der aufgrund der immensen Belastungen bald einzuknicken droht. Der Mainstream jedoch geht davon aus, dass das 21. Jahrhundert entweder nach wie vor im Zeichen der USA, oder aber in demjenigen Asiens stehen werde – oder auch beides. Im letzteren Fall wäre der clash of giants gewissermaßen vorprogrammiert.

Jeremy Rifkin (The European Dream. How Europe's Vision of the Future is Quietly Eclipsing the American Dream, 2004) hingegen sieht den American dream ausgeträumt. Vielmehr gehe nun die Sonne des „europäischen Traumes“ auf. Ähnlich sieht es Mark Leonard (Why Europe will run the 21st Century, 2005). Er geht davon aus, dass das “europäische Modell” die beste Antwort auf die Globalisierung ist, erklärt Kirt, und somit einfach das attraktivste sei. Kirt gesteht Rifkin und Leonard gleichwohl zu, „durchaus gelungene Anti-Utopien“ zum „Bush-Amerika“ entworfen zu haben.

Allerdings gibt es auch gegensätzliche Prognosen ernst zu nehmender Experten, die sich mit dem Schlagwort vom fin de l´Europe umschreiben lassen. Valéry Giscard d´Estaing, so Kirt, ist einer von diesen. In einem Interview mit der Zeitung „Le Monde“ erklärte der damalige Vorsitzende des mit der Ausarbeitung des Verfassungsvertrages beauftragten EU-Konvents, ein Beitritt der Türkei zur EU bedeute schlicht das „Ende Europas“. Walter Laqueur sieht Europa ohnehin als „Disneyland auf hohem kulturellen Niveau“ und mithin als Auslaufmodell. Zudem wirft er Europa moralisches Versagen vor. Die Hauptprobleme Europas bzw. der EU fasst Kirt auf dieser Basis in folgende vier Punkte zusammen:

1.    Entvölkerung mit einher gehender Vergreisung

2.    Masseneinwanderung mit „schleichender Islamisierung“

3.    Unfähigkeit der Reform des Wohlfahrtsstaates   und

4.    Scheitern an einer echten Vereinigung

Die These vom fin de l´Europe ist keineswegs neu, wie Kirt mit Hinweis auf Oswalt Spenglers „Untergang des Abendlandes“ (1. Bd. 1918, 2. Bd.  1922) bemerkt. Zu ihr passen allerdings auch die von John Naisbitt und Anderen formulierten aktuellen mega-trends , dass Europa schon auf dem Abstieg und im Grunde nur noch ein Erlebnispark für betuchte Asiaten sei.

Aber, fragt sich Kirt, warum ist Europa dann bisher überhaupt so erfolgreich gewesen? Die Antwort sieht er darin, dass man die Auf- und die Abstiegsthese nicht getrennt betrachten darf. Sie gehören vielmehr zusammen. Europa hat schon viele Krisen gemeistert, und Kirt geht so weit, Europa als die „erfolgreichste Krisengemeinschaft der Welt“ zu betrachten. An Herausforderungen, dies hatte er bereits gezeigt, fehlt es nicht, doch die moralische Sinnkrise sieht Kirt als das bedeutsamste aktuelle Problem.

Bereits Jean Monnet hatte erkannt, dass ständiger Wandel für Europa überlebenswichtig war, ist und sein wird. Um die Bedeutung dieser nötigen Flexibilität zu erläutern, geht Kirt zunächst auf die Geschichte der Einführung des Euro ein. Er vertritt die These, dass die einheitliche Währung auch ohne den „Mauerfall“ 1989 gekommen wäre. Als wahrscheinliches Datum für seine Einführung – auch ohne Vereinigung von Ost und West – gibt er den 01.01.2000 an. Die überraschenden Entwicklungen von 1989 jedoch hätten diesen europäischen Fahrplan durcheinander gebracht, denn nun sei schnelles Handeln geboten gewesen. Hier hat sich gezeigt, so Kirt, dass die EU auf neue Situationen schnell und zielorientiert zu reagieren vermag. Ebenso beschleunigte sich die Ausarbeitung des Maastrichter Vertrags (1992) und trug den neuen geopolitischen Umwälzungen angemessen Rechnung. Die nächste wichtige Etappe wird der EU-Verfassungsvertrag sein. An dieser Stelle fügt Kirt, der in Bezug auf die aktuelle EU-Diplomatie über aufschlussreiche Einblicke verfügt, einige interessante Überlegungen dazu an, ob der derzeitige tschechische Präsident  Václav Klaus wohl deswegen seine Unterschrift unter den Lissabon-Vertrag hinauszögert, weil er auf ein baldiges britisches Referendum hierzu spekuliert, das aller Wahrscheinlichkeit nach negativ ausfallen würde. Ein britisches Nein wäre nach Kirts Einschätzung kein „behebbarer Unfall“ wie der abschlägige Volksentscheid der Iren, sondern definitiv, weil weitaus gewichtiger, und daher eine Katastrophe für die weitere Entwicklung der EU.

Doch auch wenn Europa sich nicht im Abwärtstrend befindet, wie die oben genannten Experten suggerieren, heißt das noch nicht, dass das 21. Jahrhundert ein von Europa dominiertes sein muss. Kirt ist der Auffassung, dass hierzu ein großer Ruck durch die europäischen Gesellschaften gehen müsste, den er allerdings für recht unwahrscheinlich hält. Für einen radikalen und  fundamentalen Mentalitätswandel sieht Kirt zur Zeit keine Anzeichen.

Im Schlussteil seines Vortrags sucht der Referent optimistischere Töne anzuschlagen.  Festzuhalten bleibe zwar, dass Europa weder eine politische, noch eine wirtschaftliche Weltmacht sei oder sein werde. Doch für Kirt ist dies kein Grund zur Betrübnis. Er zeichnet stattdessen ein Szenario von Europa als einer möglichen „moralischen Weltmacht“ – von einer „Weltmacht der Herzen“. Stark zu machen sei hierfür die soft power: die alten europäischen Werte. Sie könnten die EU in die Lage versetzen, die gegenwärtige Orientierungskrise zu meistern. Kirt ist sich – nicht zuletzt als Luxemburger – durchaus bewusst, dass die Propagierung der soft-skills eine typische Kleinstaaten-Argumentation darstellt. Doch ähnlich wie ein Kleinstaat gegenüber mächtigeren Nachbarn sieht er für Europa keine Chance, in Bezug auf die hard-power(politische, wirtschaftliche und im Zuge dessen auch militärische Macht) mit den USA oder „Asien“ zu konkurrieren geschweige denn sie zu übertreffen. Europas traditionelle Werte hingegen stellen ein großes Kapital und das bessere Pendant zur US-amerikanischen „Mickey-Mouse“-Kultur dar.

Europa als „Weltmachten der Herzen“, davon zeigt sich Kirt überzeugt, habe zudem das Potential, die Menschen wieder für Europa zu begeistern, die sich momentan eher enttäuscht davon abwendeten wie Fans eines Fußballvereins, der ständig verliert und allenfalls noch hin und wieder  ein Unentschieden herauszuspielen vermag.

In der dem Vortrag folgenden lebhaften Diskussion präzisierte Kirt vor allem noch zwei wichtige Punkte:

Auf die Bitte, die von ihm angesprochenen soft-skills näher zu benennen sowie auf die Frage, ob diese denn auch bei weitgehendem Verzicht auf hard-power wirkungsmächtig werden könnten, antwortete Kirt, dass es vor allem um die Erfahrungen gehe, die Europa im Einigungsprozess gemacht habe. Ohne dies „missionarisch“ in die Welt tragen zu müssen, reiche das „gute Beispiel“ der friedlichen Einigung, um die Herzen der Menschen zu gewinnen und letztendlich auch auf diese Weise Einfluss zu behaupten.

Des Weiteren wurde Kirt gebeten, in dieser Richtung mögliche zukunftsträchtige, identitätstiftende Projekte zu umreißen. Hierzu äußerte er zweierlei Möglichkeiten: Man könnte und sollte Europa als Bildungsstandort nachdrücklich ausbauen, was leider zur Zeit sträflich vernachlässigt werde. Zweitens sei eine Art „Wiedergutmachungsprojekt“ denkbar. Ein solches könne zudem dazu dienen, den berechtigten Einwand zu entkräften, dass sich Europa bzw. Teile Europas geschichtlich in moralischer Hinsicht keineswegs nur mit Ruhm bekleckert haben. Gerade weil hier jedoch die Unterschiede recht groß sind (z.B. in Bezug auf Kolonialismus, Faschismus oder v.a. den Holocaust) ist es – das gestand auch Kirt freimütig ein – fraglich, ob ein solches Projekt tatsächlich in Europa konsensfähig wäre.

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