Erinnerungen an das alte Hildesheim und den Luftangriff vom 22. März 1945. Zur Methodik und Problematik von Erinnerungskultur

Erinnerungen an das alte Hildesheim und den Luftangriff vom 22. März 1945. Zur Methodik und Problematik von Erinnerungskultur

urze Zusammenfassung des Vortrags:

 

Prof. Dr. Harm-Hinrich Brandt, der ehemals den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Würzburg innehatte (Nachfolge Eberhard Kolb), ist aufgrund seiner großen Erfahrung als Historiker ein Zeitzeuge ganz besonderer Art: ein Zeitzeuge nämlich, der es vermag, sich vermittelst geschichtswissenschaftlicher Methodik und im vollen Bewusstsein der bestehenden Problematiken von oral history gleichsam selbst als „mündliche Quelle“ zu analysieren. Andererseits fällt es ihm verständlicher Weise vielleicht gerade deshalb besonders schwer, sich als nunmehr 75-Jähriger in den Erfahrungshorizont eines 10-Jährigen zurückzuversetzen. Die daraus erwachsende Selbstreflexion bildet daher nach dem fachhistorischen Teil der Erlebnisbeschreibung einen nicht minder interessanten fachmethodischen (ja, in Ansätzen geradezu geschichtsphilosophischen) Abschnitt, in dem er sich mit dem Funktionieren und Bewerten derartig fernliegender und dennoch prägender Erlebnisse auseinandersetzt.

Ursprünglich in Bremen gebürtig zog Brandts Familie 1938 nach Hildesheim. Sein Vater, Dipl.-Ing. Hinrich Brandt, war Geodät und seit Ausbruch des Krieges Flieger-Stabs-Ingenieur. Prof. Brandt bemerkte schon beim Verfassen seines sehr persönlichen und offenen Vortrages, dass er sich eigentlich noch nie so eingehend und auch kritisch mit seinem Vater, dessen völkisch-nationaler Gesinnung, Charakter und Bedeutung für den damaligen Schüler, auseinandergesetzt hatte. Brandt besuchte die Moritzschule, gegenüber der er noch heute gemischte Gefühle hegt. Die schulische Erziehung empfand Brandt, der zu Hause nie geschlagen wurde, im Wesentlichen als beengend, hart mit z.T. sogar sadistischen Zügen. (Lehrer ließen Schüler, die sich etwas hatten zu Schulden kommen lassen, und seien es Nichtigkeiten, gegeneinander „Ringkämpfe“ austragen.) Was die Wahrnehmung des Krieges in Hildesheim betrifft, merkt Brandt selbstkritisch an, kann er keine neuen Fakten liefern, sondern allenfalls bestimmte Aspekte der einschlägigen Literatur aus eigener Erinnerung bestätigen. Besonders interessant war jedoch die ihm in der Rückschau erscheinende Perspektive des Jungen, der die gefährliche Zeit nicht nur mit Ängsten während der Bombardierungen in Verbindung brachte, sondern gleichzeitig mit Begeisterung für alles Heldische, ja mit Stolz sogar, als er nach der Gefangennahme des Vaters die Rolle des „Familienoberhauptes“ übernahm. Hervorzuheben sind auch seine Erinnerungen an die Menschen der verschiedenen am Krieg beteiligten Nationen: Italienische Kriegsgefangene erschienen ihm selbstzufrieden und fröhlich, elend wirkende russische Gefangene dagegen griffen ihn seelisch an, ohne dass er heute sagen könnte, ob es aus Mitleid oder Abscheu oder eine Mischung aus beidem war. Als er erstmals auf US-Amerikaner traf – es handelte sich um eine Panzerbesatzung, die eine technische Zwangspause einlegen musste – war er beeindruckt von deren Leutseligkeit, die ihn nach eigenem Zeugnis nachhaltig in seiner Einstellung zu den USA prägte. Obwohl Brandt wie unzählige weitere Hildesheimer oder Bewohner anderer deutscher Städte, die ein ähnliches Schicksal wie Hildesheim erfuhren, sich mehrmals in Lebensgefahr befunden hatte, war der Bombenkrieg doch kein traumatisches Erlebnis für den Jungen. Vielleicht lag es daran, dass Kinder so etwas anders erleben als Erwachsene, vielleicht lag es daran, dass er sich irgendwo noch als „Bremer“ und nicht mit dem im April 1945 völlig zerstörten Hildesheim identifizierte oder natürlich auch daran, dass seine Familie letztlich Glück gehabt hatte.

Hier sieht er sich im Gegensatz zu den über den Bombenkrieg in Hildesheim veröffentlichten einschlägigen Werken (insbes. Hermann Seeland: Zerstörung und Untergang "Alt-Hildesheims" : Chronik vom 30. Juli 1944 bis 8. Mai 1945. Hildesheim 1950). Erinnerungen, so Brandt, seien eben keine gespeicherten und abrufbaren Daten, sondern würden aus dem neuen Kontext heraus immer wieder neu konstruiert. Er erläutert dies anhand bestimmter nationaler Erinnerungskulturen, v.a. der bundesrepublikanischen. (Die hierzu getätigten Ausführungen liest man besser in der unten angefügten vollständigen Fassung des Vortragstextes.)

 

In der anschließenden Diskussion wird Brandt u.a. gefragt, wie er abschließend die oral history bewerte. Auch auf diese Frage selbstreflexiv eingehend, bemerkt Brandt, dass zu seinen Studienzeiten diese Methode noch keine Bedeutung hatte. Er stellt fest, dass sich vor allem jüngere Wissenschaftler ihrer bedienen. Zu trennen sind seiner Auffassung nach die Sachinformationen von der mentalen Verfasstheit des Zeitzeugen: Während man bei den Sachinformationen äußerst vorsichtig bewerten müsse (Konstruktion von Erinnerungen, Deformation derselben, Erinnerungslücken bis hin zu Verdrängungen etc.), könne die Analyse der mentalen Verfasstheit der Befragten sehr interessante Aufschlüsse geben. Hier ginge es vor allem darum, was ggf. absichtslos preisgegeben werde: Einstellungen, Gefühle, Assoziationen usw. Im Prinzip müsse also die Rezeptionsgeschichte bei der oral history im Vordergrund stehen.

 

 

 

Es folgt der vollständige Vortragstext:

 

„Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Vor einiger Zeit machte ich im Gespräch mit meinem jungen Kollegen Michael Gehler nebenher die Bemerkung, dass mich mit Hildesheim einiges ver­­bindet: Ich habe hier von 1938 bis 1945 einen Teil meiner Kindheit verbracht und nament­lich als Zehnjähriger den zerstörerischen Angriff vom 22. März erlebt. Er äußerte dann die Bitte, davon einmal vor interessiertem Publikum, namentlich auch vor Studenten zu erzählen, und da habe ich sehr spontan zugesagt. Diese Zusage bzw. ihre Spontaneität geschah auch vor dem Hintergrund, dass ich seit nunmehr 30 Jahren in Würzburg lebe, eine Stadt, die bekannt­lich wenige Tage zuvor, am 16. März 1945, dasselbe Schicksal erlitten hat. Die Würzburger Erinnerungskultur rund um dieses Ereignis ist mir natürlich sehr geläufig; die Stadt lebt und webt darin unver­min­dert bis heute, wie die regelmäßigen Veranstaltungen und vielen Veröf­fent­lichungen zeigen. Ich sagte, dass ich meine Zusage zu diesem Vortrag an Herrn Kollegen Gehler sehr spontan gegeben habe. Inzwischen hat mich der Mut dann doch ein wenig verlassen, nachdem ich nämlich begonnen hatte, die Literatur zu Hildesheim zu sichten. Es versteht sich von selbst, dass der sachliche Hergang der Zerstörung, seine materiellen Aspekte, seine Auswir­kun­gen längst eingehend erforscht sind. Darüber hinaus aber ist das emotionale Erlebnis des Angriffs durch viele Berichte und persönliche Zeugnisse in einer Intensität präsent, hinter der mein bescheidener Beitrag geradezu verschwindet. Ich kann nichts sagen, was nicht bereits in vielen Varianten geschildert worden wäre. Ich habe deshalb versucht, aus der Not eine Tu­gend zu machen und meine Schilderung biographisch auf die Kriegsjahre insgesamt auszu­wei­ten. Es könn­te erhellend sein, die geläufigen Zustände und Geschehnisse in ihrer Spiege­lung im Kopf eines Acht- bis Zehnjährigen zu erleben. Diesen Horizont versuche ich jetzt zu rekonstruieren, wobei natürlich die Erfahrungswelt eines fünfundsiebzigjährigen Historikers als Subtext stän­dig mitläuft. Am Ende möchte ich einige Reflexionen über die Erinnerungs­kultur und ihre Probleme anschließen; der Vortrag  zerfällt also in zwei Teile.

 

Wie komme ich überhaupt als Kind nach Hildesheim? Meine Eltern waren beide Bremer, ich selbst bin in Stuttgart geboren, wo der Standesbeamte es zunächst ablehnte, meinen Vorna­men Harm-Hinrich einzutragen, bis man ihn über ostfriesische Namengebung belehrte. Von dort kommen einige Vorfahren, und damit haben Sie schon ganz meinen Vater. Dieser, Jahr­gang 1904, hatte in Hannover Geodäsie studiert, dann eine Weile in Stuttgart gearbeitet, bis er sich 1937 erfolgreich an die junge Fliegerbildschule der Luftwaffe in Hildes­heim bewarb. Diese Institution ist von Herrn Meyer-Hartmann, dem langjährigen Chefredak­teur der Hildes­heimer Allgemei­nen, vor einigen Jahren genauer erforscht worden. Mein Vater diente dort als Fachmann für Luftaufnahmen und Kartographie, zunächst in Zivil, bis er 1940 zum Flieger­stabs­ingenieur erhoben und in eine Majorsuniform gesteckt wurde. Diese Uniform empfand ich als sehr schick, außer wenn er darin mit dem Fahr­rad zum Dienst fuhr; das sah ziemlich komisch aus. Mit der Luftwaffe und der Flieger­bildschule identifizierte er sich sehr stark, mir gegenüber vor allem in der Rückschau. Nach seinen Erzählungen in der Nach­kriegs­zeit müs­sen dort harmonische Verhältnisse geherrscht haben. Vom Kommandeur General Fischer sprach er immer mit großer Sympathie; das deckt sich mit den Zeugnissen von Meyer-Hartmann über Fischer in dem schon genannten Buch. Dies gilt auch für dessen Vorbehalte gegen plebejische Nazi-Größen, die mein Vater laut seinen Nachkriegserzählun­gen geteilt hat. (Fischers Ablösung im Herbst 1944 habe ich als Kind nicht mit­bekommen.) Von lustigen Kasino-Sprüchen hatte auch mein Vater, der selbst gern schwadro­nierte, stets eine Menge auf Lager. Er muss recht beliebt gewesen sein. Als Lehr­gangsleiter für Luft­aufnahmen und deren geodätische Aus­wertung hatte mein Vater sehr viel mit jungen Leuten zu tun. Jüngere Offi­ziere waren gelegentlich auch privat bei uns, ebenso einige der dienstver­pflichteten Büro­damen, die auf dem Flieger­horst offensichtlich eine Bereicherung darstellten. Manchmal nahm mein Vater mich mit zum Dienst; das ging auf dem Kindersitz des Fahrrads über den Bahnhof und am Nordfriedhof auf dessen Ostseite entlang. Die Fliegerbild­schule lag im östlichen Teil des Fliegerhorstes Richtung Drispenstedt. Dort durfte ich in den Kellern die photographischen Gerätschaften und Messapparate an­schauen. Einmal ließen die Soldaten mich in ein Flugzeug klettern, schnallten mich in der Glaskanzel bäuchlings als „Beobachter“ fest und stellten für einige Minuten die Motoren an. Gestartet sind sie aller­dings nicht mit mir. Das war der Höhepunkt meiner protomilitäri­schen Karriere; nach dem Krieg zählte ich zum Glück zu den weißen Jahrgängen. In Erinne­rung sind mir auch die Kinderweihnachtsfeiern im Kasino geblieben, die von den Soldaten sehr aufwändig ausge­richtet wurden. Davon habe ich Photographien mit Heerscharen von Kindern. Die Bildschule bot also ein Bild fast friedens­mäßiger Verhältnisse mitten im Krieg. Von einer Gefährdung durch alliierte Angriffe habe ich nie etwas gehört, auch am 22. März wurde der Flugplatz bekanntlich ausgespart. Kein Leben in der Etappe kann schöner gewesen sein, zunehmend überschattet freilich durch die Meldun­gen von gefallenen jungen Fliegern, die man gekannt hatte. Öfters habe ich meine Mutter darüber weinen sehen.

Der letzte Kommandeur hatte sich nach Meyer-Hartmanns Zeugnissen Ende 1944 als „fana­tischer Nationalsozialist“ präsentiert. Bei der Verteidigung des Fliegerhorstes kann er aber diese Pose nicht durchgehalten haben. Nachdem dessen Flakstellungen am 6. April durch Tiefflieger zerstört worden waren, hat er den Flugplatz – sehr „umsichtig“, würde ich sagen – mit einem taktischen Rückzug nach Bettmar vollständig geräumt, um den Amerikanern eine kampflose Besetzung zu ermöglichen. In Bettmar haben sich dann alle gefangen nehmen lassen; auch mein Vater, nach dessen Erzählungen ich mir den Ablauf später so zusammenge­reimt habe. In der amerikanischen Gefangenschaft erging es meinem Vater einige Wochen ziemlich schlecht, denn er befand sich in einem der berüchtigten Sammellager auf der grünen Wiese ohne ausreichende Versorgung. Doch dann durchkämm­ten Vertreter eines amerikani­schen Pionierbataillons das Lager nach geeigneten Technikern und Handwerkern und formier­ten daraus für ihre Bedürfnisse eine Hilfstruppe. Da war er wieder oben auf, denn jetzt zog man unter zuvorkommender Behandlung mit den Amerikanern in Frankreich herum, um v. a. Verkehrsverbindungen provisorisch wieder instand zu setzen. Das gab Gelegenheit, den staunenden Amis („solche Augen!!“) Proben deutschen Improvisations­ta­lents und technischer Intelligenz zu geben, also etwa ohne schweres Gerät mit Nachdenken und Kraft mal Hebel­arm Brücken wieder in ihre Veran­ke­rungen zu hieven usw. usw. Abends wurde mit den ame­ri­kani­schen Offizieren fraternisiert, wobei deren Kommandeur zur Bewertung der Weltlage sich dann schon ´mal so vernehmen ließ, dass der beste Zustand die amerikanische Weltherr­schaft bei nachgeordneter deutscher Herrschaft über Europa sei. Solche Sprüche waren nach meines Vaters Geschmack. Dieser wurde übrigens bereits im Februar 1946 entlassen und eilte vom Bestim­mungsort Hildesheim zu seiner Familie nach Bremen. Wieso Bremen, berichte ich später. Da er nicht durch Partei­zugehörigkeit belastet war, fand er dort  ziemlich bald Anstellung an der örtlichen Bau- und Inge­nieurs­schule („Technikum“), wo er als Beamter bis zu seiner Pensionierung das machte, was er immer getan hatte: junge Leute in Mathematik und Vermessungswesen unterrichten. Ich habe einmal in einer Laudatio zu einem runden Geburtstag gemeint, Vater sei in seinem Leben ständig ein Glückspilz gewesen. Das hat man mir ein bisschen übel genommen: wo doch der Krieg …! Ich hatte aber völlig Recht, z. B. aus der Perspektive meiner Verwandten mütterlicherseits: Die Eltern meiner Mutter hatten drei Söhne und über die Töchter drei Schwiegersöhne; von diesen Männern war mein Vater der einzig Überlebende, fünf sind gefallen. Das hat meinen Groß­vater, der eine hoffnungsvoll expandierende Zimmerei und Tischlerei besaß und – nebenbei – in Weimar stets die Sozial­demokraten gewählt hatte, nach dem Krieg in eine tiefe Depression gestürzt. Aus solchen Erfahrungen heraus würde ich im nächsten Leben nicht wieder Historiker werden wollen, weil nämlich die ernsthafte Betrei­bung dieser Wissen­schaft gar nicht auszuhalten ist.

Mein Vater war wie gesagt kein Parteimitglied; aber eine große Nähe zu nationalsozialisti­schem Gedankengut würde ich ihm dennoch attestieren. Seit dem Pakt von 1934 zwischen Hitler und der Reichswehr galt die institutionelle Trennung von Partei und Militär als gleich­wertigen Trägern des neuen Staates, und diese Funktionsteilung hielt bis zum Attentat des 20. Juli 1944. Seither suchte die Partei die Wehrmacht stärker in den Griff zu bekommen. Inso­fern war ich später aus dieser Kenntnis heraus nicht überrascht, als mein Vater mir einmal erzählte, Abge­sandte der Partei hätten den Offizieren des Fliegerhorstes im Herbst 1944 den Parteieintritt nahe gelegt. „Nach dem Siege“ wollten sie dies tun, sei die Antwort der Herren gewesen. Ob diese nicht risikofreie Chuzpe auf das Konto des Kommandeurs Fischer ging,  kann ich nicht abschätzen.

Zum politischen Weltbild meines Vaters, das für bestimmte Studentenmilieus in den 20er Jahren ziemlich repräsentativ war, wäre einiges zu sagen, doch würde dies meinen Vortrag sprengen. An seinem „völkisch“ getönten Nationa­lismus und dem damit verbundenen Anti­semitismus hat er mit einigem Starrsinn nach 1945 erst recht festgehalten. Dies erschöpfte sich aber eher in gelegentlichen rhetorischen Aufwallungen. Ich habe das mit zuneh­mendem Alter ironisch (am Ende nachsichtig) abgetan und mich gar nicht auf ihn eingelassen; auch die sachliche Befragung zu bestimmten Vorgängen habe ich leider unterlassen. Das ist für meine, die sog. „skeptische“ Generation (wir waren keine „68er“) ebenfalls nicht unty­pisch, jedoch im Nachhinein sehr zu bedauern.

Wir verlassen den Fliegerhorst und begeben uns in die Räume meiner Kindheit in der Stadt. Von Stuttgart aus bezogen wir 1938 eine Wohnung am Katztor 17 im letzten Haus bei der Wende­schleife dieser hübschen Sackstraße unterhalb des Moritzberges. Unsere nächs­ten Nachbarn waren damals Gerstenbergs, und so habe ich mit Bruno und seiner Schwester Renate eine Weile gespielt. Im Nachlass meines Vaters fand ich 1985 das letzte Exemplar der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung vom März 1943 vor deren Zwangsfusion mit dem Völki­schen Beobachter; das mag ein auch persönlich motiviertes Erinnerungsstück gewesen sein. Die Bewoh­ner des Katztors wurden im April 1945 von den Amerika­nern sogleich auf die Straße gesetzt, und hernach okkupierte die britische Militärregierung die Häuser. Da waren wir längst von dort weg­gezogen. Ende 1941, nach der Geburt des dritten Kindes, erkämpfte mein Vater die Zuteilung einer großen Fünf­zim­merwohnung in der Obergstraße, einer Sackgasse im unteren Bereich der Mittel-Allee, damals Horst-Wessel-Allee. Das war ein ganz anderes Milieu, in dem ich mich erst einmal zu behaupten lernen musste. Darüber später.

Vom Katztor aus wurde ich 1941 in die Moritzberg-Schule eingeschult. Der kürzeste Weg dorthin führte über den Bauernhof der Familie Eilers, der der Schule gegenüber Ecke Benno- und Berg­straße lag und dessen Garten mit einer Pforte ans Katztor grenzte, dafür  hatte ich einen Schlüssel. Zu der alten Bäuerin, Tante Eilers, hielten wir bis zum Kriegsende Kontakt, auch weil es dort gelegentlich ein paar Eier gab. Tante Eilers war eine fromme katholische Kirchgängerin und hatte durch die Geistlichkeit immer dunkle Informationen auf Lager über die bedenkliche Kriegslage, zu Übergriffen und Machenschaften der lokalen Parteibonzen u.dgl. Dies erzählte sie im Flüsterton ständig meiner Mutter. Ich hörte dabei zu, verstand zwar nicht alles, nahm aber wahr, dass es da subversive Gegenwelten zur Welt unserer Rundfunk­nach­richten und zu den optimistischen Parolen meines Vaters gab. Es war wohl besser, darüber nie etwas zu sagen, denn ich liebte Tante Eilers, die mir immer etwas zusteckte. Nach unserem Umzug in die Obergstraße gehörte ich eigentlich zu einem anderen Schulsprengel (der Treibe­schule), durfte aber am Moritzberg bleiben.

An die Moritzbergschule denke ich mit gemischten Gefühlen zurück. Die Klasse bestand aus zwei sehr verschiedenen Populationen: den Kindern vom gehobenen Berghölzchenviertel und den Alteingesessenen vom Moritzberg. Letztere waren fast noch vom Lande. Von meinen drei Klassenlehrern war nur der mittlere freund­lich und überdies musisch; er sang viel mit uns und las Geschichten vor, über den Tausend­jährigen Rosenstock und Hildesheimer Sagen. Bei sei­nem Weggang habe ich geweint. Die anderen beiden waren sehr streng und verdroschen uns ständig mit dem Rohrstock, auch für Geringfügigkeiten. Da ich zu Hause niemals geschla­gen wurde, machte mir das zu schaffen. Das Stoffpensum wurde straff und mit vielen Hausauf­gaben durchgezogen, es konzentrierte sich bei dem wachsenden Unterrichts­ausfall auf Rech­nen und Deutsch. Das wurde uns auch erklärt: als zwar bedauer­lich, aber notwendig. Mit der Jahreswende 1945 hörte der Unterricht völlig auf, dazu später. Ebenso unangenehm wie der Stock der Lehrer war die Herrschaft der großen Hauptschüler, die als Hilfssheriffs eingesetzt waren. Zu den Pausen trieben sie die Schüler durch die Gänge und zunächst einmal alle in die Toiletten, ob man wollte oder nicht. Auf dem Hof ergriffen sie alle, die rannten, schrieen oder sich dem Zaun näher­ten, der den tiefer gelegenen Mädchen­schulhof abgrenzte, und führten sie zur Bestrafung der Lehreraufsicht zu. Beliebt war bei den Lehrern die Strafe, Delinquenten paarweise einen Ringkampf ausführen zu lassen.  Also die Würde des Menschen war da sehr antastbar. Mein Vater sprach übrigens öfter davon, dass ich nach der Grundschule auf eine Napola gehen solle. 

Jeden Mittwoch war Altstoffsammlung: Papier, Spinnstoff, Metalle, die man auf dem Podest der Eingangs­treppe niederlegte. Auch das wurde von den Älteren kontrolliert, und es war ratsam, immer etwas dabei zu haben. Wir halfen uns bei Bedarf auf dem Schulweg durch Teilung unserer Schätze. Auch mussten wir Heilkräuter sammeln, trocknen und abliefern; auf unserem Dachboden hatte ich daher immer wieder Schafgarbe und Huflattich ausgebreitet. Das war sicherlich eine ganz vernünftige Aufgabe.

Seit 1942 nahmen die kriegsbedingten Eingriffe in das Schulleben zu. Vor allem wurde mehr­fach der klassenweise Marsch in die Kellerräume der Schule geprobt. Die Bewältigung dieses logistischen Problems ging stets mit nervösem Befehlsgeschrei einher und wurde daher bald entschärft: die Nahewohnenden durften heim laufen, nur die Übrigen mussten bleiben. Ich gab Tante Eilers für mein Unterkommen an und durfte raus; tatsächlich bin ich immer die lange Strecke im Dauerlauf nach Haus getrabt, was manchmal wegen des Fliegergebrumms über mir etwas unheimlich war. Nach meiner Erinnerung gab es 1943/44 mit einer gewissen Regelmäßigkeit vormittags Vollalarm; dann wurde Hildesheim bei den Tagesangriffen auf Mitteldeutschland zweimal überflogen, und die Schule war zu Ende. Nachts spielte sich in zunehmendem Maße dasselbe ab, und wir zogen in den Luftschutzkeller. Die Nachmit­tage aber waren nach meiner Erinnerung alarmfrei, und wir konnten ungestört spielen.

Dies taten wir ausgiebig, und dazu bot die Obergstraße viele Anreize. Die dortigen Wohn­blocks mit relativ großen Wohnungen gehörten der Militärverwaltung oder speziell der Luftwaffe und waren mit den Familien von Luftwaffenoffizieren belegt, mit vielen Kindern. Die bildeten (wenigstens die Jungen) eine dreiste und selbstbewusste Rotte, die zwar auch friedliche Spiele im Repertoire hatte, aber sich auch Bandenkriege mit anderen Straßen  lieferte und weite Streifzüge unternahm: durch die Schrebergär­ten, am Trillkebach entlang, durchs Berghölzchen und bis zu den Ziegeleien unterhalb des Steinbergs mit ihren wunder­baren Wasserlöchern. Das ging oft nicht ohne Vandalismus und böse Streiche ab. Dann hatten wir im Winter den Eisteich bei der Alfelder Straße und im Sommer das Freibad Johannis­wiese. Im Ganzen wuchsen wir in ziemlich freier Wildbahn auf und wurden wenig beaufsich­tigt. Nur zum Abendbrot musste man zu Hause sein. Dazu hatte jede Familie einen eigenen Erkennungspfiff.  

Daneben ging ich aber allein bestimmten Interessen nach. Dazu gehörte das Jungvolk, dessen Fähnlein 3 immer am unteren Ende der Horst-Wessel-Allee zum Dienst antrat. Deren Parade­betrieb habe ich mir immer mit großem Interesse angesehen, die Kommandos und die Bedeu­tung der Rangabzeichen gelernt. Vor allem gab es in der Stadt einen Fanfarenzug: der bestand ausschließlich aus Trommlern und Fanfarenbläsern unter der Führung eines Tambours. Mit denen bin ich oft stundenlang durch die Straßen gezogen und hatte den festen Vorsatz, später dazu zu gehören. Ein anderer Trieb bestand darin, allein durch die Altstadt und die Wallanla­gen zu ziehen, die Kirchen und die krummen Fachwerkhäuser mit ihren Schnitzereien anzu­sehen. Daheim hatten wir Bücher mit Hildesheimer Lokalsagen, und das alles wollte ich an Ort und Stelle anschauen. Damals hatte ich vom Aussehen der Stadt ziemlich klare Bilder und topographische Vorstel­lun­gen im Kopf. Dieses innere Bild vom alten Hildesheim ist bei mir inzwischen verblasst und weist erhebliche Lücken und Fehler auf. Das hat damit zu tun, dass ich seit unserem Wegzug 1945 zu der Stadt kaum Verbindung hatte und weit später nur zu gelegentlichen Besuchen bei Neubürgern da war. Ich habe also den Wiederaufbau nicht kontinuierlich begleitet. Nach diesem Bruch aber kann ich das jetzige Hildesheim mit dem alten fast nicht mehr zur Deckung bringen und habe also in dem heutigen Erscheinungsbild kaum noch eine Stütze für meine Erinnerung.

Damit nähern wir uns den Geschehnissen des letzten Kriegsjahres, immer aus meiner Perspek­­tive von damals, zu deren Verständnis ich nochmals einen kleinen Umweg mache. Schon in meiner Kindheit verstand ich mich als Bremer und sagte das auch jedem, der nach meiner Herkunft fragte. Diese Identifikation war eine gewisse Fiktion und rührte daher, dass alle meine Verwandten Bremer waren und dort wohnten, und dass ich dort immer wahnsinnig gern zu Besuch war. Bahnhofs-Abschiede in Bremen oder von Bremer Besuch in Hildesheim waren immer mit Tränen verbunden. Meine Eltern ließen mich auf mein Verlangen immer wieder Ferienwochen im Bremen verbringen, jedenfalls bis 1943, dann war damit Schluss. Auf diese Weise habe ich dort mehrfach Luftan­griffe erlebt. (Bei den schweren Vernichtungs­angriffen von 1944 war ich nicht dort.) Sehr riskant waren meine Besuche also nicht, zumal meine Verwandten in einer weniger gefährdeten Stadtrand­gemeinde lebten und sich als Bauhandwerker in Gemeinschaft einen sehr stabilen Bunker gebaut hatten. Der Aufenthalt darin war gruselig, aber auch abenteuer­lich, und ich musste in dieser Situation keine große Angst haben. Natürlich erzählte man mir viel von Häfen und Schifffahrt, von U-Boot-  und Flugzeugbau. Einer meiner Onkel diente in einer Flakbatterie am Stadtrand. Den besuchten wir manchmal, dort konnten wir dann die Kanonen und Schein­werfer, vor allem die dicken Fesselballons bestaunen. Bremen war also eine richtige große Frontstadt, und dass ich dazu gehörte, fand ich erhebend. Auch konnte ich damit meinen Hildesheimer Spiel­kameraden gegenüber re­nom­mieren. Überhaupt trieben mich in der Kriegs­zeit intensive Heldenphanta­sien um. Natürlich sammelten und tauschten wir Bilder von U-Boot- Kommandeuren und Fliegern. Speziell erinnere ich mich, einer älteren Cousine, die darüber empört war, gesagt zu haben, dass ich die Japaner für ein größeres Heldenvolk als die Deu­tschen hielt, weil es dort die Kamikaze gab. Selbstmordattentäter habe ich also bewundert.  

Dass der Krieg auch in Hildesheim näher kam, wurde mir im Herbst 1943 vor Augen geführt, als Kolonnen von italienischen Kriegsgefangenen im Berghölzchen und auf der Horst-Wessel-Allee er­schienen, um den Befehlsbunker für die NS-Kreisleitung auszuschachten und die ganze Allee hinauf Gräben für die Leitungen auszuheben. Das waren die „Badoglio-Verräter“, wie ältere Kinder mich belehrten, und dieses Schimpfwort riefen wir ihnen dann dauernd zu. Sie beach­teten uns aber gar nicht. Unter sich waren sie ziemlich unbekümmert, riefen sich Scherze zu und lachten viel bei ihrer Arbeit, auch sahen sie in ihren Uniformen immer noch ganz adrett aus. Im Kontrast dazu boten die russischen Kriegsgefangenen, die ich manchmal in Kolonnen durch die Schützenallee ziehen sah, ein elendes Bild mit ihren kahlen Schädeln, abgerissenen Klamotten und schleppenden Bewegungen. Das griff mich irgendwie an, ich weiß nicht ob aus Abscheu oder Mitgefühl. Dann gab es da noch die Massen der Zwangs­arbei­ter mit ihrem „Ost“-Zeichen an der Kleidung, die sich unter die deutsche Bevöl­kerung misch­ten und bei Schichtwechsel aus den überfüllten O-Bussen quollen, die neuer­dings zu den Rüstungsbe­trieben im Hildesheimer Wald (Neuhof) fuhren.

Die Buddelei im Mittelstreifen der Horst-Wessel-Allee fand übrigens sofort eine Fortsetzung mit der Anlage einer Kette von Splittergräben, über deren Problematik in der Hildesheim-Literatur viel zu lesen ist. Auch wir in der Obergstraße erhielten zwei davon auf einem noch freien Gartengrundstück. Ich sehe unsere Väter noch dabei, wie sie auf die halbrunden dünnen Betonschalen der Abdeckung so viel Erde wie möglich häuften, um den Schutz ein bisschen zu verbessern. Immerhin ist in diesem Erdreich am 22. März eine Stabbrandbombe stecken geblieben; einen richtigen Volltreffer hätten wir natürlich nicht überlebt.

Vorerst bevorzugten wir 1944 noch unseren Luftschutzkeller, den wir jetzt immer öfter auf­zusuchen hatten, was bei den Frauen sehr an den Nerven zehrte. Ich erinnere mich auch an gelegentlich harsche Wortwechsel im Keller. Überhaupt begann im Herbst 1944 ein perma­nenter Ausnahmezustand. Die Moritzbergschule wurde Lazarett, und wir wurden in das Gebäude einer Mittelschule am Pfaffenstieg ausgelagert. Dort gab es Unterricht nur an einigen Tagen, und auch damit wurde es enger, als zugleich Flüchtlinge darin einquartiert wurden. Es handelte sich dabei, wie man mir sagte, um Evakuierte aus Aachen. Ich sehe immer noch eine Dame in Reitkleidung vor mir, die mit ihren Kindern auf der Suche nach einem Schlafplatz durch die Gänge zog. Das erfüllte mich mit gewissen Zukunftsängsten. Von den Nachrichten zum Kriegsgeschehen wurden wir Kinder, jedenfalls ich, ziemlich abgeschirmt. Vom Beginn der letzten großen alliierten Offensiven in Ost und West hatte ich keinen Begriff, der Bombenangriff auf Dresden blieb mir zum Zeitpunkt des Geschehens unbekannt. Aber dass Deutschlands Lage prekär wurde, war mir deutlich. Im Winter 1945 sagte mir mein Vater einmal: Den Ersten Weltkrieg haben wir verloren, der jetzige wird unentschieden ausgehen, und den dritten werden wir gewinnen. Das habe ich mir schweigend angehört und kann nicht sagen, was, wenn überhaupt etwas, ich mir dabei dachte. Was er sich dachte, ist natürlich ein großes Rätsel; es war die merkwürdigste Äußerung von ihm über­haupt, und ich bin nie darauf zurückgekommen. Aber ich habe es behalten. In historischer Perspektive könnte man die Äußerung vielleicht in den Rahmen der damaligen Hoffnungen einordnen, die Westalliierten würden sich in letzter Minute mit deutschem Beistand gegen die Sowjet­union wenden.

Meine Mutter wurde in den letzten Kriegswochen von ganz anderen Befürchtungen umge­trieben. Ich konnte hören wie sie davon sprach, dass allen die Kinder weg­genommen und in Umerziehungs­lager gesteckt würden. Das habe ich mir emotionslos angehört und von mir weg geschoben; es scheint da einen psychischen Schutzfilm zu geben.

Ab dem Februar war eigentlich Ausnahmezustand. Schule gab es überhaupt nicht mehr. Auf Hildesheim fielen in letzter Zeit öfters Bomben, sie galten der Bahn und den dortigen Indu­strien. Bei den Angriffen von Ende Februar und Anfang März mit ihren Zerstörungen in der Altstadt bekam ich erstmals wirklich heftige Angst und war auch vom Ergebnis sehr betrof­fen. In diesen Tagen lief ich mit zwei Spielkameraden zur Michaeliskirche, und wir sahen die aufgerissenen Kirchenschiffe mit einiger Bedrückung. „Au weia, unsere Kirche!“, sagte ein Kleiner, das weiß ich noch. – Nach diesen Angriffen entschloss sich meine Mutter, mit uns nicht mehr in den Luftschutzkeller unseres Hauses, sondern hundert Meter weiter in einen der Splitter­gräben zu gehen. So auch am 22. März mittags, nachdem Alarm gegeben worden war, auch nach meiner Erinnerung übrigens sehr knapp. Da rief einer: „Sie kommen aus der Sonne!“ Wir rannten, und dann ging es auch schon los. Die Gefühle, in einem ohrenbetäuben­den Lärm und unter gewaltigen Erschütterungen wie ein Hase in der Grube zu hocken und das Gesche­hen regungslos über sich ergehen zu lassen, sind oft beschrieben worden. Ich erinnere mich, dass ich intensiv zu beten begann, der liebe Gott möge sorgen, dass wir verschont blieben. Ich war ans Beten nicht besonders gewöhnt, folgte aber in meiner Angst diesem atavistischen Instinkt. Fast allen Hildesheimer Erinnerungen bezeugen übrigens dieselbe Reaktion. Die Abwürfe kamen in mehreren Wellen; dazwischen steckte immer einer seinen Kopf aus der Brettertür und über den Treppenrand und rief in den Bunker: „Es steht noch alles!“ So blieb es bis zum Schluss. Als wir herauskamen und uns umschauten, war in unserer Umge­bung alles unzerstört; nur die Dächer waren abgedeckt und die Fensterscheiben zer­schlagen. Der Blick auf die Stadt über die Alfelder Straße hinweg jedoch war grauenvoll.

Die Wirkun­gen des Feuersturms und die Zerstörungen in der Stadt sind von vielen Betroffe­nen, die mitten im Geschehen waren und ihre Haut retten mussten, beschrieben worden, am ein­drucksvollsten von Domkapitular Seeland und Otto Schmieder, dazu kommt die Samm­lung von Einzelzeugnissen bei Menno Aden und Hermann Meyer-Hartmann. Wissenschaft­lich hat sich Meyer-Hartmann mit dem Angriff befasst und die detaillierte Beschreibung des Geschehens in eine quellenmäßig fundierte Analyse der Kon­zepte des Bomber-Command einschließlich seiner makabren pyrotechnischen Forschungsanstrengungen eingebettet.

Angesichts der hier dokumen­tier­ten Detailfülle und Emotionalität ist mein kleiner Erlebnis­bericht, in welchem ich jetzt fortfahre, natürlich sehr bescheiden. Ich war wohl auch ein Glückspilz wie mein Vater. Dieser war schon eine ganze Weile rund um die Uhr auf dem Fliegerhorst dienstverpflichtet und kam nur sporadisch nach Haus. Jetzt aber kam er am Nachmittag angeradelt, um nach uns zu sehen. Auf welchen Wegen er das bewerkstelligt hat, weiß ich nicht; ich weiß auch nicht mehr, was er zu dem Geschehen überhaupt gesagt hat. Nach meiner Erinnerung war er eher wortkarg. Wir anderen waren  in der ganzen Zeit mit Aufräumarbeiten in der Wohnung be­schäf­tigt und nagelten die Fenster zu. Am frühen Abend gingen wir dann – mein Vater war schon wieder fort – bis zur brennenden Scharnhorstschule vor und schauten uns die dortigen Zerstörungen aus der Nähe an. Auf unserem Weg konnten wir nachvollzie­hen, wie geometrisch geradlinig die Grenze des letzten Bombenteppichs einige hundert Meter nördlich von uns verlief, und welches Glück wir dabei gehabt hatten. Für den Abend und die Nacht zogen wir wie alle anderen in den Wald, ich glaube zum Steinberg, denn die allgemeine Erwartung war, dass die Bomber wiederkommen und das Zerstörungs­werk vollenden würden. Es geschah aber nichts. Dies ist ja ebenfalls vielfach beschrieben worden.

Meine Eltern aber verabredeten, dass die Familie aus Hildesheim evakuiert werden sollte. Das wurde in den nächsten Tagen zügig ins Werk gesetzt: Durch die Vermittlung eines der Büro­mädchen auf dem Fliegerhorst erhielten wir Quartier bei einem Bauern ihres Heimatdorfes Gödringen, und dorthin wurden wir (Mutter und Kinder) in der letzten Märzwoche von deren Vater mit Traktor und Anhänger gebracht. Unser Pflichtjahrmädchen, das bei Verwandten in der Stein­bergstraße unterkam, wurde mit der Überwachung unserer Wohnung beauftragt.

Gödringen liegt östlich von Sarstedt, auf halbem Wege nach Algermissen. Hier gab es keine Bomben und die Leute gingen ihrer Arbeit in der Landwirtschaft nach. Aber friedlich war es auch nicht, denn es gab immer wieder Tieffliegerbeschuss. Darüber war die Bevölkerung in heller Aufregung, denn die Jabopiloten vergnügten sich mit einer Art Hasenjagd auf die pflügenden Bauern. Man musste überall acht geben, und auch ich bin gelegentlich von der Straße weg in Eingänge gesprungen, wenn die Geschosse pfiffen. Eines Tages um den 10. April zog ein müder Haufe deutscher Soldaten im Gänsemarsch nord­wärts durch das Dorf, Gepäck und Gewehre schlep­pend, in abgerissener Kleidung. Das waren dann wohl die Reste der Armee auf dem Rückzug, um vor Hannover eine neue Verteidigungslinie aufzubauen – ein Bild des Jammers. Dann wurde es still, und am nächsten Morgen kamen von Süden die Amerika­ner, mit vier Panzern und darauf stehend postierten Infanteriesoldaten. Die stiegen dann ab, durch­kämmten die Häuser und nahmen alle Männer erst einmal mit; diese kamen aber abends schon wieder heim. Zum Glück ereignete sich keinerlei Widerstand; Aktivisten mit Panzerfäusten im Hinterhalt gab es nicht. Dann wären wir natürlich alle verloren gewesen, und zwar nach dem Verfahren: Rückzug und erst einmal platt bomben. So aber machten die Soldaten auf den Höfen Quartier, und einige gingen mit offenen Stahlhelmen herum und forderten die Bäuerinnen auf, sie mit Eiern zu füllen. Von irgendwelchen Übergriffen habe ich nichts erfahren. Am nächsten Morgen zogen sie nordwärts weiter, und den ganzen Tag über donnerte der riesige Fuhrpark amerikanischer Kriegführung durch den Ort. Ein Panzer aber blieb auf unserem Hof stehen, er war defekt und wurde von seiner Besatzung repariert, und zwar in aller Ruhe. Diese fröhlichen Burschen vergnügten sich stundenlang damit, über den Misthaufen hinweg Schlagbälle zu fangen, mit uns Kindern Späße zu treiben und mit Heeresverpflegung zu füttern. Ich durfte auf den Panzer und dann über den Turm in den Bauch des Ungetüms klettern, den sie mit Beutestücken ausgekleidet hatten: mit Teppichen und Hakenkreuzfahnen. Das war meine erste Begegnung mit Amerikanern live, und sie hat mich durchaus geprägt.

Diese Erzählung von der friedlichen Besetzung Gödringens kontrastiert erheblich von dem Bild, das etwa Domkapitular Seeland von dem Dorf seiner Evakuierung Großgiesen, von den Kampfhandlungen westlich vor Hildesheim und vom Auftreten des Feindes bietet. Auch von plündernden Zwangsarbeitern, die in den Munitionsfabriken Ahrbergens gearbeitet hatten, wurde in Gödringen nichts bemerkt. Dabei liegen die genannten Orte nicht besonders weit von einander entfernt. Man kann das Kaleidoskop persönlicher Er­lebnisse in ihrem subjek­tiven Gehalt offenbar nicht auf einen Nenner bringen. Die Idylle meiner ersten Begegnung mit Amerikanern war rück­schau­end betrachtet weißgott ein Kontrastprogramm zu dem Geschehen im Osten; aber auch im Westen gab es durchaus andere Erfahrungen.

In der zweiten Aprilhälfte drängte meine Mutter nach Hildesheim zurück, und wir wurden auf gleiche Weise mit Pferdewagen zurückbefördert, auf welchen Umwegen, weiß ich nicht.

In unserer Wohnung hatte sich, vermittelt durch unser Mädchen, ein uns bekanntes älteres Arztehepaar vom Katztor einquartiert, das von den Amis aus seinem Haus geworfen worden war. In den nächsten Tagen durchzogen Abgesandte der neuen Stadt­verwaltung die Wohnun­gen und requirierten entbehrliche Möbelstücke, um die meine Mutter zäh feilschte. Dann erhielten wir weitere Einquartierung von einer fremden Familie mit Kindern, und nun wurde es bei einer Küche und einem Bad sehr eng und für meine Mutter extrem belastend. Wenig­stens erhielt sie durch eine Bäuerin aus Bettmar, die mit einem Zettel meines Vaters eigens nach Hildesheim kam, die Botschaft, dass dieser lebend in Gefangenschaft gekommen war. Ich selbst war viel unterwegs und fühlte mich wichtig und verantwortlich. Gespielt wurde natürlich überhaupt nicht mehr, und meine neue Rolle als Familienoberhaupt erhob mich außerordentlich in meinem Selbstwertgefühl. Wundersamerweise erhielten wir über die Hausverwaltung sogleich Dachziegel, aber selbstverständlich keine Handwerker. So schlepp­ten wir Kinder die Ziegel auf den Dachboden, und dort begab ich mich mit einem Freund einige Tage lang auf die Dachlatten, ließ mir die Pfannen anreichen und verlegte sie nach dem Muster derer, die noch lagen. Das war eigentlich nicht schwer, aber runterfallen hätten wir nicht dürfen. Dann musste Brennholz beschafft werden, und dazu zogen wir in die Ruine der Scharnhorstschule, wo es viele angekohlte Balken gab.

Eines Nachmittags Ende Mai sah ich in der Obergstraße zwei Frauen auf Fahrrädern heran­kommen, und das verschlug mir nun wirklich die Sprache. Auf den Rädern saßen eine Tante und eine Cousine von mir (Alter damals 30 und 25); sie waren die 140 km von Bremen hergeradelt, um zu schauen, was aus uns geworden war, immer auf der Reichsstraße 6, vorbei an Lagern mit marodierenden Fremdarbeitern, natürlich auch durch das zerstörte Hannover. Am nächsten oder über­nächsten Tag machten sie denselben Weg zurück, und alles ging gut. Im Nachhinein betrachtet ein Wahnsinn. In unserer Wohnung flossen bei den Frauen die Tränen reichlich, und der Aus­tausch der Erlebnisse und Neuigkeiten nahm kein Ende. Dann aber gab es hinter verschlosse­nen Türen eine intensive Debatte, von der ich ausgeschlossen war, und in der meine Mutter in panischer Entschlossen­heit verkündete, Hildesheim mit den Kindern verlassen und in ihr Eltern­haus zurückkehren zu wollen. Ich fand die Aussicht darauf, als sie mir verkündet wurde, wundervoll. Meine Großeltern und nach seiner Heimkehr auch mein Vater waren darüber, wie man später erfahren konnte, weit weniger begeistert; es wurde dann auch sehr eng in deren Haus. Bei ruhiger Betrachtung war die übereilte Preisgabe einer intakten Wohnung, deren Haupt­mieter wir bei aller momentanen Bedrängnis immer noch waren, sicherlich ein Fehler. Anfang Juli wurde der Plan nach einigem Hin und Her (die Post muss da schon wieder funktioniert haben) ins Werk ge­setzt. Ein älteres Ehepaar aus der Verwandtschaft kam eigens angereist, um uns zu begleiten. Unsere Fahrt dauerte zwei Tage mit Übernachtung im Hanno­ver­schen Bahn­hofbunker. Die Schilderung der Zustände unter dem Hauptbahnhof Hannover und auf seinen Bahnsteigen wären ein eigenes Kapitel; da habe ich zum einzigen Mal in meinem Leben das ganze Chaos eines nomadisierten Volkes einen Augenblick lang unmittelbar zu sehen bekommen. Nach einigen Wochen gelang es – die Bremer hatten immer Beziehungen nach allen Richtungen – mit einem Fuhrunter­neh­men, die Wohnungseinrichtung erfolgreich umzuziehen und das Mobilar auf die Verwandt­schaft zu verteilen. So endete die siebenjährige Hildesheimer Epoche meines Lebens.

 

Meine kleinen Erzählungen – das werden Sie bemerkt haben – atmen den Geist eines großen zeitlichen Abstandes und altersbedingter Distanzierung. Sie sind daher bei allem Bemühen um eine Rekonstruktion meiner damaligen mentalen Dispositionen nicht authentisch. Vor allem sind sie nicht von Emotionen beherrscht, und die Relativierungsneigung des Historikers schimmert überall durch. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass ich damals kein schweres Schick­sal erleiden musste und seither zu verarbeiten hatte. Ich kenne in meinem Umfeld gleichaltrige Flüchtlinge bzw. Vertriebene, die auch heute noch weit aufgeregter von den damaligen Ereig­nissen und deren Bewertung sprechen. Damit sind wir bei den vielfälti­gen Problemen und insbesondere Konflikten der sog. Erinnerungskultur.

Wenn Sie ein zeitnahes Zeugnis existentieller Betroffenheit und tiefer Klage lesen wollen, so greifen Sie zu dem Büchlein des Domkapitulars Hermann Seeland „Zerstörung und Unter­gang Alt-Hildesheims“ von 1947, das nicht nur das Vernichtungswerk minutiös auflistet, sondern aus seiner religiösen Grundhaltung heraus Anklagen gegen die totale Kriegführung und ihre monströsen Konsequenzen, aber namentlich auch gegen das britische Bomber-command er­hebt :  „Weshalb die grenzenlose Zerstörung des alten Hildesheims mit allen seinen Gotteshäusern, mittelalterlichen Schätzen und unersetzlichen Werten? Wer trägt die Verantwortung für diese unglaubliche Kulturschändung? Wer mag es wagen, von einer >militärischen Notwendigkeit im Dienste der Kriegsführung< zu sprechen?“  – eine nach wie vor auch heute berechtigte Frage. Prompt wurde die weitere Verbreitung des Buches von der britischen Militärregierung verboten. Solche Zensur hörte auch damals schon nach wenigen Jahren auf, aber der Streit um die Deutung des Geschehens hält bis heute an und hat in den letzten Jahren durch das Buch von Jörg Friedrich „Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 bis 1945“ sogar neue Nahrung erhalten. Erinnerungen sind, sobald sie die Öffentlichkeit suchen, unvermeidbar immer auch ein Politikum, denn es geht dabei um die Deutungshoheit über die Vergangenheit.

Hierzu vielleicht ein paar knappe allgemeine Bemerkungen. Unsere Gedächtnisleistungen sind seit langem ein Forschungsgegenstand der Psychologen und Soziologen, neuerdings auch der neurologischen Hirnforschung, und die Historiker haben vernünftigerweise seit einiger Zeit damit begonnen, sich deren Ergebnisse anzueignen. Zu den wichtigen Einsichten auf diesem Feld gehört, dass die individuellen Erinnerungen nicht nur selektiv sind, sondern bei jedem aktuellen Aufruf unter dem Einfluss der jeweiligen Situation neu modelliert werden und nicht wie fertige Pakete abgerufen werden, sodann zweitens, dass die Erinnerungen der Individuen immer schon, und zwar von Anfang an, sozial vermittelt sind. Das Gedächtnis ist mit anderen Worten ein kommunikatives Gedächtnis und baut sich zunächst in Familien oder anderen Kleingruppen auf. Erinnerungsleistungen, gerade auch in ihrer selektiven, also gefilterten Form dienen individuell wie sozial der aktuellen Stabilisierung und sind deshalb notwendig. Dies gilt in gleicher Weise für die politisch handelnden Großverbände, im modernen europäischen Zusammenhang also für die Staatsnationen. Alle europäischen Nationalstaaten haben ihre Nationalgeschichte ausgebildet, die für ihre Selbstvergewisserung konstitutiv ist. Darin gehen v. a. historische Schlüsselereignisse ein, die in hohem Maße verklärt und in Denkmälern, Gedenktagen und Feiern beschworen werden. Die Rolle der Geschichtswissenschaft in diesem Aufbau einer derartigen Erinnerungskultur ist ambivalent: Als Wissenschaft ist sie darauf angelegt, Mythen zu entzaubern; zugleich aber hat sie in den letzten zweihundert Jahren europäischer Geschichte die Nationalstaaten durch Schaffung einer Nationalgeschichte mit konstituiert, war also immer an diesen Prozessen aktiv beteiligt und stand in deren Sog.

Diese Ambivalenz gilt in zugespitztem Maße für die Verarbeitung der Zeit der Weltkriege und der NS-Diktatur. Hier, im Bereich der sog. Zeitgeschichte (also der Geschichte der noch lebenden Generation), war der Aufbau einer Erinnerungskultur zunächst die Domäne der Akteure selbst und nicht irgendwelcher Historiker. Ich kann dies hier aus Zeitgründen nicht ausbreiten und gebe zur Illustration nur einige Beispiele. Das Bild der französischen Nation von sich selbst wurde wesentlich geprägt von der Résistance im Lande und der gaullistischen Teilhabe am alliierten Sieg; die Kollaboration mit dem Feind war eine Sache der Vichy-Clique und wurde entsprechend marginalisiert. Erst nach einigen Jahrzehnten haben die Historiker damit begonnen, die weit reichende Verstrickung in die Kollaboration quellenmä­ßig nachzuweisen. Nur sehr zäh, aber immerhin, finden diese Befunde in jüngster Zeit Eingang in die Gedenkveranstaltungen. Im Falle Italiens spielt die Resistenza von 1943 bis 1945 für die Herstellung eines gereinigten Italienbildes unter Marginalisierung der vorherigen Geschichte eine ähnliche Rolle. Die Konstituierung der Österreicher als einer eigenen Nation fußte wesentlich auf einer Herausarbeitung ihrer Opfer­rolle seit 1938, und erst die Causa Waldheim gab den Anstoß dazu, die enge Verstrickung in den Nationalsozialismus unter großdeutschem Vorzeichen historisch aufzuarbeiten und tendenziell auch zur Anerken­nung zu bringen. In den ehemaligen Ostblockstaaten hat die Restrukturierung eines nationalen Geschichtsbildes nach 1990 gerade erst begonnen, und hier bildet Polen einen besonders ex­ponierten Fall. Die polnische Geschichte der letzten 240 Jahre wird als nationale Geschichte des Opfers und des vergeblichen Heldentums im Widerstand begriffen, und dies entspricht ja auch in hohem Maße der historischen Realität. Diese Opfer­perspektive der nationa­len Selbst­vergewisserung gerinnt nun aber zu einem monolithischen Konstrukt, das für andere Aspekte keinen Raum mehr lässt. Dies soll hier nicht unser Thema sein; ich wollte nur auf das mytho­logische Element in allen nationalen Erinnerungskulturen hinweisen, bevor ich mich jetzt dem deutschen Fall zuwende.

Darüber, dass das Jahr 1945 nicht bloß eine militärische Niederlage, sondern eine moralisch-politische Gesamtkatastrophe markierte, kann in historischer Perspektive wohl kein Zweifel bestehen. Wie damit umgegangen wurde, lässt sich im Groben auch hier mit dem Täter-Opfer-Schema erfassen. Im Vordergrund der massenhaften persönlichen Erfahrungen standen  zunächst nicht die vorausgegangene deutsche kriegerische Expansion, sondern die gewaltigen Zerstö­run­gen, Flucht und Vertreibung, Tod und vielfältige persönliche Erniedrigung v. a. bei der Beset­zung der Ostgebiete, Hunger und Überlebenskampf. Das Grundgefühl wurde also kurz gesagt nicht von der Scham über deutsche Verbrechen, sondern von den jüngsten Leiden bestimmt. Hierin begann sich auch die deutsche Nachkriegspolitik einzurichten. Dieser Pro­zess wurde durch die deutsche Teilung und den Kalten Krieg sehr befördert. Mit der um­stands­losen Wiedereingliederung des belasteten Führungspersonals blieben die alten Gesell­schaftsstrukturen – ich rede jetzt vom Westen – unangetastet. Nach den alliierten Kriegsver­brecherprozessen fand keine weitere juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen vor deut­schen Gerichten statt. Nach der geschichtspoliti­schen Linie, wie sie sich in Manifestationen und Gedenkreden offenbarte, war auch das deutsche Volk in seiner Gesamt­heit Opfer der von Hitler und seiner Verbrecherclique ausgehenden Verführung und Täu­schung. Speziell von den Verbrechen an den Juden und osteuropäischen Völkern hatte „das deutsche Volk nichts ge­wusst“. Der militärische Widerstand und das Attentat vom 20. Juli standen für das anständige Deutschland und wurden zur Ikone beim Aufbau der Bundeswehr. Deutschlandpolitisch blieb nicht nur die Teilung, sondern auch die einseitige Aufrichtung der Oder-Neiße-Linie eine völkerrechtlich offene Frage und wurde als Wunde von den Vertriebenenverbänden offen gehalten. Die Shoah spielte in diesem „mainstream“ der Erin­nerungskultur keine prominente Rolle, obwohl Adenauer sehr früh eine materielle Wieder­gutmachung in die Wege leitete und in dem Abkommen mit Ben Gurion von 1952 wesentlich auf den Staat Israel ausrichtete, was zwar nicht der historischen Genese dieses Staates ent­sprach, aber bis heute Axiom deutscher Außenpolitik ist. Es ist, meine Skizze relativierend, selbstverständlich zu beachten, dass in der offenen westdeut­schen Informationsgesellschaft stets auch gegenläufige intellektuelle und publizistische Diskurse stattfanden; ich rede hier von dem politisch massenwirksamen main­stream der west­deutschen Erinnerungskultur.

In der DDR wurde das Bild der jüngsten Geschichte in ganz anderer Weise von strikt zu befol­genden Parteivorgaben bestimmt, die bis zum Ende dieses Staates keine Ver­änderung erfuhr. Hier besaßen die Kommunisten und Antifaschisten das Opfermonopol; daneben waren die Bombengeschädigten als Opfer zugelassen, Vertriebene hingegen nicht, und auch die Juden spielten kaum eine Rolle.

 

Im Westen wurde dagegen das bisherige Täter-Opfer-Schema ab den späten 60er und 70er Jahren aufgebrochen und bis zu einem gewissen Grade umgedreht. Die deutsche Erinnerungs­kultur wurde dadurch unübersichtlich, und dieser Zustand hält bis heute an. Ursache dafür war ganz allgemein die Ablösung der Generationen und die Freisetzung einer Vergangenheits­kritik, deren Protagonisten nicht mehr persönlich verantwortlich waren. (Die 68er-Bewegung im engeren Sinn war dafür weniger ursächlich; deren Aktivisten hatten andere Feindbilder.) Die Enttarnung der NS-Vergangenheit wichtiger Stützen des politisch-gesellschaftlichen Systems der Bundesrepublik hatte schon immer an den Nerven der aufrechten Demokraten gezerrt, ebenso das Ausbleiben einer juristischen Aufarbeitung in der Adenauerzeit. Jetzt aber ging eine nachhaltige Wirkung von den großen Prozessen aus, die das KZ-System und die barbarischen Aspekte der Judenvernichtung ans Licht zerrte, spät genug, wie man sagen muss. Den stärk­s­ten massenwirksamen Einbruch in das Normalempfin­den der Bundesbürger er­reich­te die  Fern­­seh­ausstrahlung des mehrteiligen Holocaust-Films 1979. Natürlich kann man dessen Dramaturgie als populistischen Griff in das Regiearsenal der Seifenoper kritisieren; ent­scheidend ist aber, dass mit dieser Mobilisierung von Empathie mehr an breitem Bewusst­seinswandel bewirkt wurde als durch die wissenschaftliche Erar­beitung von Statistiken u. dgl. Seither erleben wir in den letzten Jahrzehnten eine dauerhaft intensive erinnerungskulturelle In­szenierung des Gedenkens an die Shoah auf den verschie­densten Ebenen, die ich hier nicht im Einzelnen aufzählen muss. Wir alle haben eine Vo­r­stellung davon.

Ein weiteres wichtiges Ereignis war die berühmte Wehrmachtsausstellung, die trotz anfäng­licher handwerklicher Fehler hinlänglich belegte, dass die Trennung von böser SS und barbarisch operierenden Sonderein­heiten einerseits und sauberer Armee andererseits nicht mehr aufrecht zu erhalten ist, was zugleich die Verstri­ckung sehr viel weiterer Personenkreise in die Vernichtungsstrategie des Kriegs im Osten impliziert. Solche Erkenntnisse kursierten nicht länger nur in den Zirkeln von Fachleuten, sondern erreichten eine breite Öffentlichkeit.

All dies kumuliert in einer gewissen Tendenz, die Deutschen vorrangig als ein Tätervolk wahr­zunehmen und jegliche Opferrolle aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen. An diesem Bild stricken im Westen vorrangig amerikanische Historiker jüdischer Herkunft im Verbund mit linksliberalen deutschen Historikern und Zeitungen. Aus anderen Gründen, aber mit ähnlicher Wirkung, sucht die öffentliche Meinung Polens und Tschechiens die Deutschen auf die Täterrolle festzunageln; sie wird hierin ebenfalls von den einschlägigen publizisti­schen und wissenschaftlichen Richtungen in Deutschland selbst assistiert.

Nun sind aber diese Positionen weit davon entfernt, in Deutschland die öffentlichen Diskurse und die Erinnerungskultur hegemonial zu beherrschen. Die Opferperspektive behauptet dage­gen durchaus ihr Recht, ist in der Gesellschaft breit verankert und in den Medien präsent. Dies äußert sich zum einen in dem Komplex Flucht und Vertreibung, der nicht nur durch die Ver­triebenenverbände und die konservativen Parteien nach wie vor medienwirksam wach gehal­ten wird, sondern auch durch eine Flut von individueller Erinnerungsliteratur ständig neue Nahrung erhält. Man kann sogar sagen, dass viele Einzelschicksale nach Jahrzehnten des traumatisierten Schweigens erst jetzt ihre literarische Sprache finden. Sobald jedoch dieser Kom­plex auf die Ebene der Politik gehoben wird und zum Bestandteil der nationalen Erin­nerungskultur gemacht werden soll, wie jetzt mit dem Projekt der Gedenkstätte Flucht und Vertreibung, rastet der alte Grundkonflikt um die Deutungshegemonie sofort wieder ein.

Ähnlich verhält es sich mit dem Komplex des strategischen Bombenkrieges. Die öfters an­zutreffende Behauptung, die (West-)Deutschen hätten im Rahmen der neuen Westbindung die Geschichte des Bombenkrieges verdrängt, geht auf den ersten Blick fehl, wie die Fülle der Dokumentationen und Darstellungen zu jeder der betroffenen Städte be­weist. Diese Form der lokalen Bearbeitung ist von 1945 bis heute nie unterbrochen worden. Auf der Ebene der in­stitutionalisierten nationalen Geschichts­schreibung lautet der Befund etwas anders: hier gab es stets eine gewisse Abstinenz, das Thema in systematischer und theoriegeleiteter Breite forschend und darstellend anzupacken. In den engeren Zirkeln militär­historischer Fachleute sind die entscheidenden Probleme des strategi­schen Bombenkrieges durchaus seit längerem erforscht, ohne dass dies jedoch in die allgemeine Geschichte ent­sprechend Eingang gefunden hätte. Die Behandlung des Bomben­krieges läuft nun aber unweigerlich auf eine Betonung der Opferrolle hinaus, weshalb sofort der Vorwurf des Auf­rechnens verbrecherischer Kriegshand­lungen im Raum steht. Die Reak­tionen, die der  Journalist Jörg Friedrich vor einigen Jahren mit seinem schon genannten Buch ausgelöst hat, beweisen denn auch sehr klar, dass hier ein Tabu-Bruch vollzogen wurde. Es zeigt sich daran zugleich, dass es auch hier sehr schwer ist, von der lokal bezogenen Trauerarbeit die Brücke zu einer historisch-politischen Gesamt­bewertung des Bombenkrieges zu schlagen. „Nun wollen sie auch hier nicht mehr Täter, sondern nur noch Opfer sein – und das, wo sie doch selbst mit dem Bombenterror ange­fangen haben“ : So lautet in schlichter Zusammenfassung der Vorwurf, der von briti­schen und deut­schen Historikern und Medien sogleich erhoben wurde. Aber gerade auch unter britischen Historikern gibt es dazu sehr wohl unterschiedliche Einschätzungen. Die Frage, wer angefan­gen hat, ist im Detail schwierig zu beantworten, weil zwischen Ursache und Aus­lösung unter­schieden werden muss; ferner ist davon die Frage zu trennen, warum das Konzept bis zum bitteren Ende im März/April 1945 durchgezogen wor­den ist. Das will ich aus Zeit­gründen jetzt nicht ausbreiten.

Versuchen wir eine Bilanz. Es ist evident, dass es in Deutschland gegenwärtig keine Erinne­rungskultur gibt, die auf einem nationalen Konsens beruht. Dies ist nach den gewaltigen Brüchen des 20. Jahrhunderts auch nicht erstaunlich. Können die Historiker dazu beitragen, die Aporien des ewigen Parteienkampfes um die Deutungshegemonie abzubauen? Methodisch könnten sie die den Konflikten zugrunde liegenden Sachverhalte und Bewertungsprobleme schon benennen und klären. Hierzu müssten sie damit aufhören, ihr wissenschaftliches und publizistisches Geschäft (um Clause­witz ironisch abzuwandeln) als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu betreiben. Dies bedeutet, dass man Geschichte als Erinnerung und Geschichte als Wissenschaft vorläufig einmal als zwei unterschiedliche Diskursebenen aus­einander hält.

Für eine ernsthafte, an Lösungen interessierte Auseinandersetzung muss man vor allem von der untauglichen Täter-Opfer-Metaphorik Abstand nehmen. Nur Individuen können Täter oder Opfer (oder beides) sein, daraus ergibt sich vor allem ein Zurechnungsproblem. Dasselbe gilt für die Frage der Schuld. sie kann nicht Kollektiven oder Institutionen zugeschrieben werden. Nur Individuen sind schuldfähig. Von daher verbieten sich auch kausal-mechanisti­sche Ursache-Wirkung-Ketten. Für menschliches Handeln gilt demgegenüber die Relation von challenge and response: für Taten gibt es Motive, keine mechanischen Ursachen. Die Motivstruktur aber enthält das Element der optionalen Freiheit. Das sind banale Einsichten; sie haben aber weit reichende Konsequenzen für das angesprochene Zurechnungsproblem.  Wenn also auf den Bombenkrieg das Sprichwort angewendet wird „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“, dann sollte man bedenken, dass dabei diejenigen, die den Wind gesät haben, in aller Regel nicht identisch sind mit denjenigen, die den Sturm ernteten. Oder ein anderes Beispiel: Eine Frau, die als junges Mädchen auf der Flucht wiederholt vergewaltigt worden ist, wird wenig mit dem Hinweis anfangen können, dass dies die Konsequenz der ungeheuer­lichen Greultaten sei, die die Deutschen im Osten verübt haben, ganz abgesehen davon, dass damit auch die Antriebe der Vergewaltiger noch bei weitem nicht aufgehellt sind.

Daraus folgt: Jedes Individuum und auch jede Gruppe, die durch gemeinsames Schicksal verbunden ist, sollte das Recht haben, zu trauern und darüber zu kommunizieren, ohne dabei ständig von geschichtspolitischen Präzeptoren mit dem erhobenen Zeigefinger kritisiert und belehrt zu werden. Das ist im Allgemeinen ja auch nicht strittig; freilich hätte man seit 1945 auch von den Tätern und von den Mitläufern eine rückschauende individuelle Bilanzierung ihrer Vergangenheit erwarten müssen. Das ist freilich so gut wie nie geschehen: bei den Siegern sowieso nicht, bei den Verlierern aber erst recht nicht, weil schon auf dieser Ebene der Umgang mit der persön­lichen Vergan­genheit sofort zum Instrument oder gar zur Waffe wird, wenn es um die eigene  Selbst­behauptung in einer je neuen Gegenwart geht.

Umso dramatischer werden die Probleme, wenn der Trauer- und Reue-Komplex aus der individuellen Sphäre auf die Ebene der nationalen Erinnerungskultur gehoben wird, wo die öffentlichen und ritualisierten Manifestationen des kollektiven Gedenkens zelebriert werden. Dann erhält jede Gedenkver­anstaltung und jedes Denkmal sogleich und unvermeidlich zusätz­liche Funktionen im politischen Betrieb: sei es in der internationalen Positionsbestimmung des Landes, sei es im innenpolitischen Konfliktspiel der politischen Lager. Die Vergangenheit ist nämlich vergangen, die Gegenwart kennt nur ihre Aufrufung unter den modellierenden Bedingungen des Gedächtnisses – in welchem Kontext auch immer.

Gerade in Deutsch­land scheint die Bereitschaft, Kernbestände der nationalen Selbstvergewis­serung außer Streit zu setzen und einem konsensualen Schonraum zuzuweisen, besonders gering ausgebildet zu sein. Das ist ein Ergebnis unserer Geschichte. Historiker und Sozial­wissenschaftler können, wenn sie eine entsprechende persönliche Disposition mitbringen und sich nicht selbst im Parteigetümmel am wohlsten fühlen, die  hier wirksamen Mechanismen analytisch aufklären, die historischen Sachverhalte quellengestützt in die Debatte einbringen und damit zur Konsensstiftung beitragen. Ob es was nützt, steht dahin.“


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