Vom ungeliebten Anwärter zum EU-Mitglied - Die Slowakei im Spannungsfeld nationaler und supranationaler Identitätskonstruktion

Vom ungeliebten Anwärter zum EU-Mitglied

Die Slowakei im Spannungsfeld nationaler und supranationaler Identitätskonstruktion

Zusammenfassung des Vortrags von Mag. Simon Gruber (Österreichische Botschaft Bratislava)

1989 vollzogen sich auch in der Slowakei revolutionäre Ereignisse. 1993 wurde die Slowakei selbstständig – nach erfolgter Trennung von Tschechien durch die Politik von Vladimír Mečiar und Václav Klaus, beide wollten die Unabhängigkeit gegen den Mehrheitswillen beider Bevölkerungsteile! – nachdem die Slowakei vorher im Rahmen der ČSFR mit Tschechien einen Bundesstaat gebildet hatte. Auf dem EU-Gipfel von Luxemburg im Jahre 1997 wurde der slowakische EU-Beitrittswerber jedoch aus der Reihe der Kandidatenländer aussortiert, weil er die politischen Bedingungen gemäß den „Kopenhagener Kriterien“ von 1993 nicht erfüllte. Dabei spielten vornehmlich drei Gründe eine ausschlaggebende Rolle: Die Konflikte zwischen Regierung und Opposition, die Behandlung der ungarischen Minderheiten, die 10% der Gesamtbevölkerung ausmachte, sowie die Frage der Privatisierung der Wirtschaft. Nach der Abwahl Mečiars, der bis dato drei Regierungen gebildet hatte und mit der Bescheinung der Erfüllung der Kriterien setzte der Beginn der Verhandlungen ein (1999). Die Volksabstimmung im Jahre 2003 erbrachte ein 90%iges Votum für die EU-Mitgliedschaft, so dass 2004 der Beitritt erfolgen konnte. Die ökonomischen Daten der Slowakei waren und sind sehr gut. Die Wirtschaft wächst um 10% – trotz Finanzkrise hält sie derzeit immer noch bei 6%. Das Land wird am 1. Januar 2009 den Euro einführen.

Nach dieser Einführung entwickelte der Vortragende seine folgenden Ausführungen an drei Hauptsträngen bzw. Fragen:

1.      Welche Bedeutung hatte das Thema „Europa“ für die Slowakei nach der Wende 1989?;

2.      Was störte die EU an der Slowakei und was wollte sie mit ihren Einwirkungsversuchen bezwecken?

3.      Welche Wirkungen erzielte die EU tatsächlich in der Slowakei?

 

Zu 1: Nach der Wende machte auch in der Slowakei alsbald das Wort von der „Rückkehr nach Europa“ die Runde. Der Referent verdeutlichte, dass das Bekenntnis zu „Europa“ ein unerlässliches Legitimationsmittel für alle Politiker und Parteien wurde. Das Thema hatte eine mobilisierende Wirkung: Am 10. Dezember 1989, dem internationalen Tag der Menschenrechte, machten sich zehntausende Slowaken auf den Weg und vollzogen ihren „Marsch nach Europa“. Der Friedensmarsch führte über die Grenze nach Österreich. Getragen war dieser Trend von der Bürgerbewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ und der Studentenschaft. Er fand seinen Ausdruck in einer Grundsteinlegung für das „europäische Haus“. Gruber beleuchtete präzise das Parteienspektrum, in dem sich alle für den EU-Beitritt aussprachen. Doch ist trotz aller deutlichen Tendenzen nach „Europa“ eine spezifische Gegensätzlichkeit in den Geschichtskulturen und Geschichtsnarrativen erkennbar. Es handelte sich um zwei konkurrierende Geschichtserinnerungen: Eine orientierte sich an Kyrill und Method unter Rückbezug auf das 19. Jahrhundert, als die beiden Missionare des Mittelalters als Nationalpatrone, gleichsam Repräsentanten der „nationalen Erweckung“ stilisiert worden waren sowie unter Berufung auf Papst Johannes Paul II., der die gesamteuropäische Dimension dieser Religionskünder betonte. Daneben bzw. dagegen positionierte sich eine andere Form der Erinnerung, nämlich die Rückbesinnung auf das „Revolutions“-Jahr 1989, in dem die politische Reife der slowakischen Bürger und ihrer sich entwickelnden Zivilgesellschaft zum Ausdruck gekommen sei. Beide sich aus der Erinnerung speisenden identitätsstiftenden Grundannahmen und damit auch geschichtspolitischen Konzeptionen drehten sich um den gemeinsamen Nenner „Die Slowakei gehört zu Europa“, was der Vortragende an einem Schaubild zu verdeutlichen verstand.

Während Mečiar von einem Kulturraum vom Atlantik bis zum Ural parlierte, den Nationalstaat und seine Souveränität betonte sowie die Einheit und Einigkeit aller ethnischen Slowaken hervorhob, d. h. einen nationsorientierten kulturalistisch aufgeladenen (exklusiv) introvertierten Standpunkt zum Besten gab, übte sich die Opposition in einem zivilgesellschaftlich, westeuropäisch und wirtschaftlich orientierten Regelwerk der liberalen Demokratie, sah sich innerstaatlicher Modernisierung und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet und war somit liberal-demokratisch, okzidentialistisch und (inklusiv) extrovertiert ausgerichtet. Die beiden Konzeptionen rekurrierten auf ein kollektives Empfinden, waren nicht frei von Minderwertigkeitsgefühlen, die es damit zu kompensieren galt, und zielten auf einen entsprechenden Umgang mit dem (zivilisatorischen) West-Ost-Gefälle ab. Die dabei entstandene Optik ließ unterschiedliche Orientierungen zum Vorschein kommen: Wollten die bürgergesellschaftlich orientierten Gruppen „den Osten“ hinter sich lassen und war „der Westen“ für sie das Ziel, so hinterließ Mečiar den Eindruck, als wolle er die Slowakei „dem Osten“ zuwenden – zumindest war dies eine Wahrnehmung. Reaktionen und Strategien schienen dabei sehr unterschiedlich: Das eine Konzept verstand sich mehr als Modell der Abwehr, das andere eher als Akzeptanz-Modell. Kyrill und Method wurden dabei auch im erstgenannten Sinne als Gegenfiguren zum „Heiligen Stefan“ von Ungarn begriffen. Die einen verfochten die These, wonach die Slowakei nicht nur in der „Mitte Europas“ liege, sondern auch das „Herz Europas“ sei. Die anderen betonten die „westliche“ Identität der Slowakei. Bezug nehmen ließ sich dabei auch auf den prominenten US-Politikwissenschaftler aus Harvard, Samuel Huntington, der in seinem Werk, das vom „clash of civilisations“ handelte, die Slowakei am Westrand der „Zivilisationsgrenze“ ansiedelte, wodurch eine Debatte um den normativen Gehalt der EU-Zugehörigkeit ausgelöst worden war, wobei aber problematisch war, dass die Außengrenzen der Europäischen Union von Cambridge/Massachussetts aus zu bestimmen seien. Der Befund Huntingtons konnte auch als Argument der Opposition verwendet werden, wobei sich gleichzeitig die Frage stellte, was sich dann daraus für Kroatien und Serbien, vor allem aber für die Türkei und ihre EU-Beitrittsambitionen für Schlussfolgerungen ergeben sollten.

Zu 2: Das Europa der EU hatte bis 1998 erhebliche Probleme mit der Praxis der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit der Slowakei. Die Opposition wurde an Parlamentsausschüssen nicht beteiligt, der Geheimdienst blieb noch von Ex-Kommunisten durchsetzt, pflegte Kontakte zur Unterwelt und war involviert bei der Entführung des Sohns des Staatspräsidenten, während die Medien regierungskonform zu berichten hatten, Volksabstimmungen vereitelt wurden wie auch ein problematischer Umgang mit der ungarischen Minderheit herrschte, die im Süden der Slowakei über ein respektables und kompaktes Siedlungsgebiet verfügte. Auf die eigene und auch schwierige Roma- und Sinti-Problematik in der Slowakei ging die EU in ihren Vorhaltungen in der Phase bis 1998 kaum oder nicht näher ein. Dagegen war der Vollzug der Privatisierung der Wirtschaft der EU ein Dorn im Auge, nachdem es zur Bildung einer eigenen slowakischen Unternehmerschaft kam, die Betriebe, Firmen und Werke zur Ausschlachtung brachte, sodann in den Konkurs führte und schließlich an ausländische Investoren verscherbelte. Wie Gruber ausführte, waren allerdings westliche Massenmedien – er zitierte beispielhaft die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung – der Slowakei gegenüber wenig wohlgesonnen, ja mitunter eindeutig negativ eingestellt. Die in Aufregung befindliche Publizistik sprach von einer „autoritären“ bzw. „delegativen“ Demokratie. Gruber merkte hier kritisch an, dass diese Art von Nachrichten zu stark Mečiar-orientiert waren, Positionen anderer Politiker unberücksichtigt ließen und diese Berichterstattung vornehmlich von Korrespondenten aus Prag und Budapest stammte, die also gar nicht vor Ort gewesen waren! Der einzige deutschsprachige Korrespondent vor Ort war der um Differenzierung bemühte Österreicher Christoph Thanei, der als Korrespondent der österreichischen Tageszeitungen Die Presse bzw. Der Standard sowie auch für die Deutsche Presseagentur (dpa) tätig gewesen war und nach wie vor journalistisch aktiv ist. Gruber ergänzte weiter, dass die Slowakei in Brüssel auch keine vergleichbare Lobby hatte wie bspw. die baltischen Staaten. Das Negativurteil über die Slowakei war dabei auch von der Angst der Errichtung einer Diktatur so wie in Weißrussland diktiert. Im Europäischen Parlament wurde hingegen die Vision von einer Demokratie- und Rechtsstaatskompatibilität entwickelt. Dabei wurde ein intern beratender gemischter Ausschuss des Europäischen Parlaments aktiv, während im Plenum offen debattiert wurde. Die Folge davon war mitunter politische Empörung in der Slowakei über die Maßregelungen von außen.

Gruber differenzierte in weiterer Folge das Bild, das die EU von sich abgab: Die Kommission empfahl keine öffentlichkeitswirksamen Schritte, entwickelte allerdings in den Jahren nach 1994 bis etwa 1998 einen gewichtigen Katalog, der Ranglistenverluste nach sich zog. Das 1997 getroffene Urteil des Kommissionsgutachtens war sorgfältig und objektiv, was zu dem eingangs erwähnten Luxemburger Beschluss führte, wonach die Beitrittskriterien für die Slowakei nicht erfüllt seien. Hingegen konnte die US-Stiftung Freedom House nach Prüfung relevanter Fakten ab 1997/98 positive Schritte in Richtung Demokratie feststellen. Der Gipfel von Helsinki bedeutete schließlich 1999 eine Wende in Richtung Anerkennung, allerdings verwies Gruber auf unterschiedliche Positionen und Reaktionen der einzelnen EU-Mitgliedsländer im Vorfeld dieser Entscheidung. Gruber ortete dabei auch klassisch-nationale Interessen. Während die Bundesrepublik Deutschland zunächst sehr kritisch und abweisend reagiert und Bundeskanzler Helmut Kohl (1982-1998) ein Treffen mit Mečiar verweigert hatte, agierte Österreichs Bundeskanzler Franz Vranitzky (1986-1997), wie es Gruber nannte, als „verhinderter Mentor“ und traf sich mit dem missliebigen slowakischen Regierungsvertreter. Die Mittelmeerländer sahen im Einschluss möglichst vieler schwieriger Beitrittswerber zunächst eine willkommene Verzögerungschance, um weiter in den Genuss von Zuwendungen aus den Strukturfonds zu kommen. Eine Wende setzte dann mit der deutschen und der finnischen Ratspräsidentschaft im Jahre 1999 ein. Das grund- und menschenrechtliche Argument trat zwar zugunsten des stabilitätspolitischen Arguments im Zeichen der Kosovo-Krise etwas zurück, blieb aber weiter relevant: Großbritannien unter Tony Blair und Robin Cook, die Bundesrepublik Deutschland unter dem neu gewählten Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer sprachen sich nun für eine schnelle und schlanke „EU-Osterweiterung“ aus, die im Zeichen von Demokratie und Menschenrechten rasch durchgezogen werden sollte.

Zu 3: Gruber fasste diesen Punkt angesichts der fortgeschrittenen Zeit mehr zusammen: Es gab seiner Ansicht nach keine geschlossene EU-Strategie im Vorgehen gegenüber der Slowakei. Die Beantwortung der Frage nach der Wirksamkeit der „Konditionalität“ ist ambivalent ausgefallen: einerseits gab es punktuelle Fortschritte bei demokratiepolitischen Einzelfragen, andererseits kontraproduktive Effekte bei identitätsrelevanten Fragen. Bei den Regierungseliten war generell betrachtet keine „Umkehr“ auszumachen. Gruber verwies z. B. auf den chauvinistisch-martialischen Inhalt der ehemaligen und inoffiziellen slowakischen Nationalhymne „Hej Slováci“, die aus der Zeit der 1848/49er Jahre stammte und voller Inbrunst von den Parlamentsangehörigen gesungen wurde, den expliziten Verweis auf Kyrill und Method in der Verfassung oder auch auf die Debatte um das Sprachgesetz, mit dem die restriktive Regelung der ungarischen Sprache verbunden war und legitimiert werden sollte. Bei solchen Themen stellten sich umgehend Fragen nach der slowakischen Identität und der Loyalität zur slowakischen Nation. Bei andersartigen Positionen konnte rasch von „Anschwärzern“, „Nestbeschmutzern“ und „Verrätern“ die Rede sein. In diesem Zusammenhang wurden auch die „Einmischungsversuche von außen“ gebrandmarkt, so die Rolle der USA, die demokatiepolitische Argumente nur vorschiebe, tatsächlich aber kultur- und wirtschaftspolitische Absichten verfolge. Während sich die Eliten und Regierungsvertreter argumentativ und inhaltlich mehr auf einer Linie nationalstaatlicher Interessenpolitik bewegten, war die Bevölkerung, wie Gruber zuletzt ausführte, mehrheitlich für den EU-Beitritt eingestellt und zwar zu rund 85%. Am Ende der Mečiar-Regierung waren es noch mehr als früher, die ein klares Bekenntnis zur EU aussprachen. Der Glaube in die EU blieb mit und ohne Mečiar bestehen und konstant positiv, am Ende setzte sogar noch eine Steigerung ein. Das negative Kommissionsgutachten bedeutete keinen Vertrauensverlust. Die Zahl der negativ zur EU eingestellten slowakischen Bürgerinnen und Bürger bewegte sich durchgehend unter 10%. Gruber argumentierte, dass die von der EU vorgebrachte Kritik seitens der Bevölkerung zwar nicht überwältigend, aber überwiegend akzeptiert worden sei, so z. B. angesichts einer kritischen Resolution des Europäischen Parlaments im Jahre 1995. Wenngleich manche in der Person Mečiars ein Problem bei der Überwindung der Schwierigkeiten und einen Ausdruck des „Zivilisationsgefälles“ erblickten, war es für die Mehrheit der Slowaken kein Widerspruch Mečiar zu wählen und für den EU-Beitritt zu sein. Allerdings spielte bei der Abwahl Mečiars 1998 die Frage des integrationspolitischen Misserfolgs sehr wohl eine Rolle. Mit der Europäischen Union war zweifelsohne eine Fortschrittserwartung verknüpft. Die Schuld für die nicht erfüllte Hoffnung gaben immerhin 55% der Slowaken der Person Mečiar.

Grubers Fazit war kurz und bündig: Das Verhalten der EU verlieh ihr trotz des Nichtvorhandenseins einer einheitlichen Strategie den Charakter eines Akteurs. Sie bildete einen Referenzrahmen und spendete eine normgebende Kraft, die letztlich ein Abgleiten der Slowakei in den Autoritarismus verhindern half.

Im Anschluss an die gehaltvollen und reich illustrierten Ausführungen entwickelte sich noch eine ebenso intensive wie ergiebige Diskussion, bei der die NATO-Mitgliedschaft der Slowakei, die ebenfalls zunächst an demokratiepolitischen Einwänden offen und daher unentschieden blieb und erst zeitverzögert zu Polen, Tschechien und Ungarn erfolgte, wie auch weiters die Rolle der übrigen mittelosteuropäischen Staaten berührt wurde, von denen sich Polen, Ungarn und die Tschechische Republik auch für eine EU-Mitgliedschaft der Slowakei aussprachen.

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