Hildesheimer Erinnerungsorte im Kontext des kollektiven europäischen Gedächtnisses

Hildesheimer Erinnerungsorte im Kontext des kollektiven europäischen Gedächtnisses
(Europagespräche, Universität Hildesheim, 15.12.2008)

 

Struktur:

1.
„Kollektives Gedächtnis“ und „Erinnerungsorte“: Konzept, Definition, Kernaussagen

2. Hildesheimer Erinnerungsorte 19./20. Jahrhundert

3. Europäische Perspektive: Kontextualisierung

 

„Erinnerungsorte“ und „kollektives Gedächtnis“ sind allgegenwärtige Begriffe, die ein intuitives Vorverständnis geradezu provozieren. Mit beiden Begriffen ist jedoch mehr gemeint als ein bloße allgemeine Bezugnahme auf die Vergangenheit. Dies soll durch eine kurze Skizzierung der dahinter stehenden Grundgedanken deutlich werden. Gleichzeitig ergeben sich dadurch erste Hinweise für die Frage nach einem kollektiven europäischen Gedächtnis. Im Anschluß werden diese theoretischen Überlegungen anhand von Hildesheimer Erinnerungsorten zu illustrieren versucht, indem einige Beispiele im zeitlichen Verlauf vom 19. bis ins 20. Jahrhundert nachgezeichnet werden sollen unter Berücksichtigung und Verweis auf Bezüge zum kollektiven europäischen Gedächtnis. Abschließend soll ein Ausblick auf die europäische Dimension der Diskussion um kollektives Gedächtnis, Erinnerung und Geschichte skizziert werden.

 

Das „kollektive Gedächntis“

 

Der Terminus „Kollektives Gedächtnis“ geht zurück auf den französischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs. Halbwachs lebte und forschte in Paris, Strasbourg und Chicago sowie -für kurze Zeit- in Göttingen. Er wurde 1944 in Paris von der Gestapo verhaftet und im März 1945 im KZ Buchenwald ermordet. Seine Hauptwerke „Das kollektive Gedächtnis“ und „Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen“ wurden aus dem Nachlass veröffentlicht und in viele Sprachen übersetzt. Mit zeitlicher Verzögerung wurde Halbwachs' Werk von Mitte der 80er Jahre an auch in Deutschland mit wachsendem Interesse rezipiert.

Im Kern beschäftigte sich Halbwachs mit der Frage, welchen Anteil soziale Gruppen (das „Kollektiv“, die Gesellschaft) an den Erinnerungen des Individuums haben – oder in Halbwachs' Worten: „(...) inwiefern man sagen kann, daß das Gedächtnis von der gesellschaftlichen Umwelt abhängt“1.

Dies war eine scheinbar seltsame Frage, galten Erinnerungen doch als ausschließliche (autonome) Domäne des Individuums, an der Andere wenig oder überhaupt keinen Anteil zu haben schienen. Halbwachs dagegen argumentierte, daß „ganz sicher die meisten unserer Erinnerungen uns dann kommen, wenn unsere Eltern, unsere Freunde oder andere Menschen sie uns ins Gedächtnis rufen. (...) Meistens erinnere ich mich, weil die anderen mich dazu antreiben, weil ihr Gedächtnis dem meinen zu Hilfe kommt, weil meines sich auf ihres stützt. (...) Es gibt da nichts zu suchen, wo sie (die Erinnerungen) sind, wo sie aufbewahrt werden, in meinem Kopf oder in irgendeinem Winkel meines Geistes, zu dem ich allein Zugang hätte; sie werden mir ja von außen ins Gedächtnis gerufen, und die Gruppen, denen ich angehöre, bieten mir in jedem Augenblick die Mittel, sie zu rekonstruieren, unter der Bedingung, daß ich mich ihnen (den Gruppen) zuwende und daß ich zumindest zeitweise ihre Denkart annehme“2.

Erinnerungen entstehen also durch soziale Interaktion. Das Vergangene wird aber durch die Gruppe nicht bloß wieder wachgerufen: es wird (re)konstruiert, wobei man, so Halbwachs, „von der Gegenwart ausgeht“3. Darüberhinaus wird die Vergangenheit, und dies unterscheidet kollektive Erinnerungen von der Geschichte, überhaupt erst dann sozial (re)konstruiert, wenn Teile von ihr für eine soziale Gedächtnisgruppe in der Gegenwart von Bedeutung sind. Konkret bedeutet dies, daß eine soziale Gruppe aus dem Strom vergangener Ereignisse diejenigen auswählt, die für sie und ihren Zusammenhalt (oder, wie Halbwachs sagt, für ihre Existenz als Gedächtnisgruppe) wichtig sind. Dieser Rekonstruktionscharakter der Erinnerungen bleibt dabei den Gruppenmitgliedern weitestgehend verborgen, ebenso wie die Übertragung der Vergangenheit in Konvention, deren Gültigkeit auf die Gruppe beschränkt bleibt. Für kollektive Erinnerungen ist die ständige physische Anwesenheit der Gedächtnisgruppe (oder einzelner ihrer Mitglieder) keine notwendige Voraussetzung; kollektive Erinnerungen werden auch dann gebildet, wenn sich ein Individuum im Geiste auf diese Gedächtnisgruppe bezieht und an ihr orientiert. Das Eingebundensein in das soziale Beziehungsnetz bewirkt die Übernahme kollektiver Erinnerungen, ebenso wie das Loslösen von der Gruppe Vergessen mit sich bringt. 

Damit können wir folgende Charakteristika des kollektiven Gedächtnisses festhalten: Selektivität, Konstruktivität, Gegenwartsbezug, soziale Interaktion und Multiplizität.

 

Im Grunde müsste das kollektive Gedächtnis stets im Plural verwendet werden, da es, folgt man der Konsequenz dieser Überlegungen, ebenso viele kollektive Gedächtnisse und kollektive Erinnerungen gibt, wie soziale Gruppen existieren. Soziale Gruppen können auf lokaler oder regionaler Ebene oder sogar auf der Ebene ganzer Nationen angesiedelt und damit unterschiedlich groß und von unterschiedlicher Dauer sein. Per definitionem ist die Lebensdauer dieser kollektiven Gedächtnisse auf die Lebenszeit der Mitglieder der sozialen Gruppe beschränkt. Stirbt diese (oder löst sich die soziale Trägergruppe aus anderen Gründen auf), so geht auch ihr kollektives Gedächtnis unter. 

 

Pierre Nora, Erinnerungs-/Gedächtnisorte

 

An diesem Punkt setzen die Überlegungen des französischen Historikers Pierre Nora an. Er entwickelte die Grundidee vom kollektiven Gedächtnis weiter, indem er den Moment der Auflösung der sozialen Trägergruppe kollektiver Erinnerungen in den Blick nahm. Nora breitete seine Überlegungen zum Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte zusammen mit anderen französischen HistorikerInnen im editorischen Großwerk „Le lieux de memoire“ aus, als deren Herausgeber er fungiert (1984-1992: Sieben Bände erschienen). Das essayistisch gehaltene Vorwort erschien 1984 als eigenständige Publikation unter dem Titel „Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte“. Die zentrale Fragen lautete: Was geschieht mit den Erinnerungen, wenn die soziale Trägergruppe sich auflöst, untergeht oder aus anderen Gründen verschwindet? 

Die sozial konstruierte Erinnerung, zentral für Halbwachs, ist Nora zufolge gegenwärtig infolge geänderter gesellschaftlicher Rahmen-bedingungen in Auflösung begriffen: „Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt“4. Das Substrat dieser Wandlungsprozesse bezeichnet Nora als „Gedächtnisort“ (lieux de memoire), wobei „Ort“ nicht als Ort im strengen Sinne verstanden wird, sondern als allgemeine Bezeichnung für einen (materiellen) Bezugspunkt in der Gegenwart, an den sich kollektive Erinnerungen anlagern, eben weil ihr natürlicher Träger – die Gedächtnisgruppe- diese Funktion nicht mehr übernehmen kann. Anders gesagt, im Moment des Verschwindens sozialer Erinnerungsgruppen beginnen die kollektiven Erinnerungen sich an diesen Kristallisationskernen an- und abzulagern, gleichsam wie Treibgut auf dem Strand, wenn sich das Meer des kollektiven Gedächtnisses zurückzieht. Nora gibt mit Bezug auf Frankreich zahlreiche Beispiele für solche Erinnerungsorte „in allen Bedeutungen des Wortes“: „Geschichtsbücher der nationalen Geschichte Frankreichs, Memoiren von Staatsmännern, Museen, Archive, Feste, Jahrestage, Denkmäler, Wallfahrtsstätten“, insgesamt „alles, was mit dem Totenkult zu tun hat, was zum kulturellen Erbe gehört, alles, was die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart regelt“5.

Angesichts dieser großen Menge disparaten Materials versuchte Nora, Kriterien zur Eingrenzung von Erinnerungsorten zu definieren. Diese zeichnen sich demnach durch eine materielle, funktionale und symbolische Ebene aus, die parallel zueinander existieren, aber in ihrer konkreten Erscheinungsform unterschiedlich gewichtet sein können: So überwiegt etwa bei einem Archivdepot die materielle Komponente, bei einem Schulbuch die funktionale, und bei einer Schweigeminute ist der materielle Aspekt so gut wie nicht mehr vorhanden, der symbolische dagegen sehr stark präsent.

 

Vehältnis zur Geschichte und Geschichtswissenschaft

 

Was folgt aus dem bisher Gesagten für die Geschichtswissenschaft? Was kann man über das Verhältnis von „kollektivem Gedächtnis“, „Erinnerungsort“ und Geschichte/Geschichtswissenschaft sagen, und welchen Nutzen kann letztere aus den bisherigen Überlegungen ziehen?

Zunächst bleibt festzuhalten, daß Maurice Halbwachs die Geschichte durchaus als Gegensatz zum kollektiven Gedächtnis betrachtete. Was nicht mehr erinnert wird – m.a.W., was keine gelebte Bedeutung mehr besitzt – geht über in den Fundus der Geschichte, die ihrerseits indifferent gegenüber solchen Bedeutungszuschreibungen ist. Die kollektiven Erinnerungen stiften Gemeinschaft und Zusammenhalt, und zu diesem Zweck wird in ihnen ein Bild der Vergangenheit (re)konstruiert, das ebendiese Funktion erfüllt. Das Diktum Leopold von Rankes, es sei Aufgabe des Historikers, „zu zeigen wie es eigentlich gewesen“, ist nicht das vordringliche Anliegen kollektiver Erinnerungen. In Funktion, Methodik und Inhalt ergeben sich wesentliche Unterschiede zur wissenschaftlichen Betrachtung der Vergangenheit durch die Geschichtsforschung.

Ähnliches gilt für die „Erinnerungsorte“, die ja quasi die „kollektiven Erinnerungen“ in die Gegenwart fortschreiben und dafür materielle Bezugspunkte zu Hilfe nehmen. Erinnerungsorte sind aber nicht einfach „da“, ebensowenig wie „kollektive Erinnerungen“ einfach da sind. Sie werden konstruiert und müssen über den Weg einer ständigen Auseinandersetzung mit ihnen aktualisiert und in die Gegenwart einbezogen werden, da sie andernfalls ihre gemeinschafts-bildende, identitätsstiftende Kraft verlören. Gemeinschaftsbildung, Identitätsstiftung – dies wiederum entspricht nicht dem Selbstverständnis moderner Historiker und ihrer Aufgaben. Vielmehr arbeiten diese daran, die dabei entstehenden Verzerrungen und Mythen zu de-konstruieren.

Wenn das so ist- was gewinnt dann der Historiker vom Umgang mit derart komplexen, subjektiven und anderen als rein rationalen Aussageintentionen folgenden Untersuchungsgegenständen? 

  • Er gewinnt eine neue Frage- und Forschungsperspektive auf die Vergangenheit, dadurch, daß nun nicht die Vergangenheit „als solche“, sondern die sozialen Verständigungsprozesse – einfach gesagt, der öffentliche Umgang mit Geschichte - in den Blick genommen werden können

  • Die Verwendung der Kategorien „kollektives Gedächtnis“ und „Erinnerungsorte“ erlaubt zudem die Identifikation von zentralen Bezugspunkten zur Vergangenheit. Über den Weg ihrer kritischen Analyse lassen sich so Aussagen über die gesellschaftliche Wirklichkeit zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Vergangenheit gewinnen. Pierre Nora bezeichnet das „zyklische Wiederauftauchen seiner veränderten Bedeutung im Bewußtsein von Menschen“ als das zentrale Charakteristikum der Erinnerungsorte: diese seien „gleichsam russische Puppen der Bedeutung“. Die Gründe für dieses zyklische Wiederaufleben zu verschiedenen Zeiten zu erforschen ist eine so spannende wie lohnenswerte Aufgabe für Historiker.

  • Zugleich führt dies zu einer stärkeren Wahrnehmung der Vielzahl von verschiedenen Perspektiven auf die Vergangenheit. Diese Perspektiven werden dadurch zwar nicht zwangsläufig in den Rang wissenschaftlich-objektiver Fakten erhoben, können aber als Phänomene neuen Typs wahr- und ernstgenommen sowie der Forschung zugänglich gemacht werden.

 

 

Beispiele: Hildesheimer Straßen(namen)

 

Dieser theoretische Bezugsrahmen soll an Hildesheimer Beispielen (vor allem Straßennamen und Denkmäler) illustriert und konkretisiert werden. Straßen und ihre Namen können dabei durchaus als „Erinnerungsort“ gelten, sind sie doch durch das Nebeneinander von praktischer Funktion und symbolischem Gehalt gekennzeichnet. Beginnend mit der Zeit des Deutschen Kaiserreiches werde ich versuchen, verschiedene Nutzungskontexte von Erinnerungsorten, auf die soziale Gruppen sich beziehen, und ihre jeweils zeitspezifische Aussage(n) herauszuarbeiten.

Die Gründung des Deutschen Kaiserreiches durch Otto von Bismarck 1871 war eine in vielerlei Hinsicht unabgeschlossene: Sie enttäuschte die Großdeutschen, ließ die Katholiken zunächst am Rande stehen und verfehlte die Integration der Sozialdemokratie und ihrer Anhänger in den neuen Staat, die sich einer autorität-konservativ-agrarischen „Koalition“ gegenübersah. Überkommene Wirtschaftsweisen, vor allem auf dem Agrarsektor, und der parallel dazu stattfindende Innovationsschub in den neuen Industrie-bereichen, vor allem der Chemie- und Elektroindustrie, sorgten für soziale und politische Spannungen, nicht zuletzt auch angesichts eines selbst-bewußter werdenden Bürgertums auf der einen und eines rückständigen politischen Systems auf der anderen Seite. Eine „innere Reichsgründung“, die der äußeren folgen sollte, schien notwendig zu sein. Gleichzeitig forderte das Bürgertum eine ihrer ökonomischen Bedeutung entsprechende Mitsprache im Kaiserreich.

Es ist daher kein Zufall, das gerade in diesem Zeitraum (1871-1914) viele Straßenbenennungen in Hildesheim zu verzeichnen sind, die man allgemein als „kulturelle“ Namensgebungen definieren kann. Besonders um die Jahrhundertwende tauchen verstärkt Namen etwa der bedeutenden Nationaldichter (Goethe, Schiller, Lessing), Komponisten (Mozart, Wagner) oder Wissenschaftler (Gauss) auf. Vor allem das gehobene und das Bildungs-Bürgertum definierte sich und seinen gesellschaftlichen Status auf der Grundlage von selbsterworbenem Besitz und Bildung, nicht auf der Basis überkommener Adelsprivilegien. Es waren daher in vielen deutschen Städten bürgerliche Initiatoren, die sich für gerade diese Straßenbenennungen einsetzten. Hildesheim stellte hier keine Ausnahme dar. Die meisten Namen dieser Kategorie wurden für Straßen in eher bürgerlich geprägten Wohngegenden vergeben.
In Hildesheim war jedoch eine Gruppe von Straßennamen noch stärker zu verzeichnen, die ich als „historisch-politische“ Namen bezeichnen möchte. Darunter fallen Namen der Angehörigen des Herrscherhauses (Wilhelm, Luise, Augusta, Friedrich, Otto, Kaiser Friedrich, Kaiser Wilhelm) sowie die handelnden Personen der Reichsgründung, allen voran Bismarck (-straße, -platz) und Namen, die anknüpften an militärische Ereignisse, die für die Bildung des deutschen Nationalstaats bedeutsam waren. Dabei wurden nicht nur auf den Krieg von 1870/71, sondern auch auf die Befreiungskriege Bezug genommen und so eine historische Kontinuitätslinie hergestellt, die künftige Generationen an den Ursprung des Kaiserreiches und der deutschen Nation erinnern sollten. (Diese scheinbare Geradlinigkeit -mit anderen Worten: die Zwangsläufigkeit der historischen Entwicklung hin auf den Deutschen Nationalstaat in seiner konkreten Form des Kaiserreiches von 1871- war zugleich ein gängiges Deutungsmuster der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft unter dem Stichwort des „Historismus“). 

Als Beispiele können genannt werden für den Krieg von 1870/71: Gravelotte, Vionville, Orleans, Spichern, Sedan (Orte von Schlachten), Goebenstraße (preußischer General (Gravelotte, Spichern)). Die zeitlich früheren Befreiungskriege wurden durch Straßennamen wie Scharnhorststraße (Heeresreformer), Blücherstraße (Generalfeldmarschall, Heeresreformer), Körnerstraße (Dichter der Freiheitskriege) oder Waterloostraße kommemoriert.

Diese Kategorie ist quantitativ bei weitem die Stärkste. Es dominieren dabei Namen mit militärischem Bezug (z.B. auch: „Kanonenweg“), was insofern nicht verwundert, als daß „nicht die in sich gespaltene Nationalbewegung, sondern die preußische Armee das Einigungswerk vollbrachte“6. In der Gesamtsumme von 49 Straßennamen dieser Kategorie tauchen verschwindend wenige auf, die an die liberale Tradition der Nationalbewegung erinnerten (als Beispiel wäre zu nennen die Stüwestraße, nach einem gemäßigt liberalen Politiker der Märzregierung bei der Revolution 18487) .

Beides unterstreicht die Intention, der Reichsgründung eine spezifische Perspektive als militärisch-autoritäre Staatsgründung „von oben“ zuzuschreiben. Die Straßenbenennungen waren Ausdruck der Selbst-vergewisserung eigener Stärke nach außen bzw. stellten implizit die Aufforderung dar, sich auf preußisch-militärische Kategorien bei der Kommemorierung der Reichsgründung zu beziehen. Die Betonung des dynastischen Prinzips (wie es sich am Beispiel der „Kaiserstraße“ als eines Namens von Angehörigen des Herrscherhauses ausdrückt) war zudem eine klare Positionierung gegen die liberal-demokratischen Elemente der Nationalbewegung, die ihrerseits bei der Vergabe von Straßennamen keine nennenswerte Berücksichtigung fanden. Vor diesem Hintergrund muß die eingangs erwähnte Vergabe von Straßennamen der kulturellen Kategorie als Kompromiss- oder Kompensationsangebot erscheinen, welches dem Bürgertum ermöglichte, sich ebenfalls wahrnehmbar im öffentlichen Raum Hildesheims zu repräsentieren. Bezeichnend ist dennoch die Relation beider Namenskategorien zueinander.

Das Gesamtbild deutet hin auf die Existenz verschiedener kollektiver Gedächtnisse und verschiedener sozialer Gruppen, die miteinander um ihre Repräsentation im begrenzten öffentlichen Raum Hildesheims konkurrieren. Dabei wird jeweils ein für diese Gruppen wichtiger, spezifischer Ausschnitt aus der Vergangenheit betont, dem (zumindest implizit) allgemeine Verbindlichkeit zugesprochen wird. Beides illustriert die Multiplizität und den meist unbewussten Selektionsvorgang bei der Rekonstruktion kollektiver Erinnerungen. Von Dissenzen bei den erwähnten Straßenbenennungen berichten weder die zeitgenössischen Protokolle der „Städtischen Collegien“ noch die Hildesheimer Allgemeine Zeitung, die jeweils die Straßenbenennungen kurz erwähnt. Über Reaktionen der Anwohner oder anderer Zeitungsleser erfahren wir nichts. Wir können daher nur mutmassen, daß der derat „ausbalancierte“ öffentliche Raum in Hildesheim die verschiedenen kollektiven Gedächtnisse seiner Bewohner in einer für diese akzeptablen (und für die Zeit und das Kaiserreich insgesamt durchaus typischen) Weise widerspiegelte. 

 

Denkmäler

 

Während Straßennamen eher beiläufig wahrgenommen werden, ist die Errichtung von Denkmälern mit deutlich stärkerer öffentlicher Aufmerksamkeit verbunden. Nicht zuletzt deshalb, weil die Errichtung eines Denkmals, anders als Straßenbenennungen, beträchtliche finanzielle Unterstützung seitens der Bevölkerung voraussetzt.

Die Vorgeschichte der Denkmalserrichtungen in Hildesheim zeigt den starken Einfluss bürgerlicher Gruppen, die ausschlaggebend für ihre jeweilige Realisierung gewesen sind, was erneut einem allgemeinen Trend im Kaiserreich folgt. Denkmalserrichtungen vollzogen sich über einen vergleichsweise langen Zeitraum von oft mehreren Jahren und in verschiedenen Phasen:

  • Gründung eines (bürgerlichen) Denkmalkommittees

  • Werbung um finanzielle Unterstützung (Beteiligung der HAZ als „Werbeforum“, Aufruf zu Spenden)

  • Berichte über Baufortschritte, weitere Spendenaufrufe, Errichtung

  • öffentliche Einweihung, Kommemoration und Berichterstattung, spezifische „Interpretationsanleitungen“ durch Festreden, Zeitungsberichte etc.

 

In Hildesheim wurden während des Kaiserreiches u.a. errichtet:

  • Das „Kriegerdenkmal für die Angehörigen des 79. Infanterie-Regiments“, das 1870/71 unter Beteiligung von Hildesheimern an den Kampfhandlungen beteiligt gewesen ist (19. August 1874),

  • das Denkmal Bischof Bernwards (19.09.1893),

  • das Denkmal für den Hildesheimer Lehrer und Professor Leunis aus Anlaß seines 100. Geburtstages (07.06.1905)

  • sowie das Kaiser-Wilhelm-Denkmal (Sedanallee) und das Bismarck-Denkmal (Galgenberg)

 

Es zeigen sich schon in dieser Aufzählung sowohl die unterschiedlichen Denkmalskategorien, die sich wiederum auf lokale, kulturelle oder nationale bzw. militärische Aspekte der Geschichte beziehen als auch ihr zahlreiches Vorhandensein im öffentlichen Raum. Zeitgenossen sprachen zur Jahrhundertwende von einer „Denkmalspest“ oder „Denkmalswuth“, die sich insbesondere auf die vielerorts entstehenden Bismarcktürme bezog, von denen es nur wenige ästhetische Varianten gab.

Der Hildesheimer Bismarckturm wurde, wie die HAZ berichtete, von Personen initiiert, die an der öffentlichen Bismarck-Geburtstagsfeier im April 1897 beteiligten gewesen sind. Es waren dies „national gesinnte Kreise unserer Stadt“, der „liberale Verein“ unter Vorsitz Direktor Schochs, „Herr Fabrikant Louis Brehme“, Stadtsyndikus Götting sowie die „nationalliberale Partei und ihr Vorsitzender Wienold“ sowie „Kaufmann B. Warnecke“8, womit Angehörige des Bürgertums erneut stark repräsentiert waren. In den Folgetagen erwähnte die HAZ, daß Bismarck-Denkmäler bereits in über 200 deutschen Städten errichten worden seien oder werden sollten. Der dem Bürgertum nicht fremde Konkurrenzgedanke spielte daher wohl ebenfalls eine Rolle. 

Anläßlich der Einweihung des Denkmals (1905) rief die HAZ die „gesamte Einwohnerschaft von Stadt und Land Hildesheim“ zur Teilnahme auf und versäumte auch nicht, „alle Berufsklassen“ anzusprechen und bei den Unternehmern dafür zu werben, „ihren Angestellten so früh zu entlassen, daß diese sich am Festzuge beteiligen können“. Sowohl die Feierlichkeiten, die dort gehaltenen Festreden als auch die mediale Begleitung dieses Großereignisses durch die HAZ zielten darauf hin, die gewünschte Aussage des Denkmals in möglichst vielen Köpfen zu verankern und dieses als „Sinnbild der Einheit Deutschlands“ anzunehmen9. Indirekt wurde damit der Notwendigkeit Ausdruck verliegen, diese innere Einheit überhaupt erst herzustellen. Ein Leserbrief an die HAZ (01.04.1905) illustriert dies, in dem „ein Katholik“ feststellt, daß „jede Anspielung vermieden worden sei, welche die katholischen Mitbürger hätte unangenehm berühren können“. Der Leitartikel der HAZ kommentiert zustimmend, daß der Festausschuß von vornherein die Absicht gehabt habe, „alles zu verhindern, was in dieser Beziehung vielleicht irgendwie verletzend gewirkt hätte“. Damit spiegeln sich die im Kaiserreich bestehenden Konfliktlinien auch im Hildesheimer Kontext wieder, in dem es von 1871 bis 1910 einen bei 33 % liegenden, konstanten katholischen Bevölkerungsanteil gegeben hat. Dieser war ein in der öffentlichen Symbolik ein durchaus zu berücksichtigender Faktor. 

Das Hildesheimer Bismarck-Denkmal kann zum Zeitpunkt seiner Errichtung daher als typischer Vertreter seiner Gattung gesehen werden: Dafür sprechen die soziale Zusammensetzung des Denkmal-Kommittees, die Übernahme des beispielgebenden, monumentalen Entwurfs mit Bezügen zur mittelalterlichen Formensprache10 sowie nicht zuletzt die intendierte Wirkung, nämlich eine „Stärkung des patriotischen Sinns, Begeisterung für das Vaterland und innere Harmoniestiftung“.

Mit anderen Worten wurden gesellschaftliche Konfliktlinien mit Hilfe des Appells an nationale Geschlossenheit zu unterdrücken gesucht. Bismarck-Denkmäler zählen daher in den Worten des Historikers Thomas Nipperdey zu den „Denkmälern der nationalen Sammlung“ 11. Das Bismarck-Denkmal und der Bismarck-Kult des Kaiserreiches erfüllten daher eine soziale und politische Funktion. Beide waren Ausdruck einer intendierten Beeinflussung des kollektiven Gedächtnisses und zugleich dessen sichtbarer Repräsentant.

Während sich die Zeitumstände änderten, blieb die architektonisch-abstrakte Form des Denkmals unverändert. Dies bedeutete, daß auf dem Wege der Interpretation eine Anpassung der Denkmalsaussage an sich ändernde Zeitumstände erfolgen musste, sollte das Denkmal seine Funktion als Erinnerungsort beibehalten. Während der Zeit des Nationalsozialismus berichtete die HAZ (08.03.1935) ausführlich über das kommende 120. Jubiläum des Geburtstags Bismarcks. Vokabeln wie „Neubegründer“, „Einiger“ und „Schmied des wiedererstandenen Deutschen Reiches“ waren kraftvolle Vokabeln, die nicht zufällig dem Selbstverständnis des Regimes entsprachen. Betont wurde außerdem die „Dankesschuld des deutschen Volkes“, die es abzutragen gelte sowie die damalige „Opferfreudigkeit der Bewohner von Stadt und Land“. Besonders signifikant dabei ist die intendierte Verschiebung der Aussageintention: Bestanden die „Opfer“ zur Zeit des Kaiserreichs vor allem in „Spenden“, waren die mit dieser Vokabel assoziierten Inhalte nun nicht mehr auf finanzielle Aspekte beschränkt, sondern schlossen weitere Bedeutungsebenen von „Opfer“ mit ein. Überspitzt gesagt kann man an dieser Formulierung den Wandel einer Interpretationsanleitung für ein Denkmal beobachten, welche sich immer mehr in Richtung auf Kriegsvokabeln hin konkretisiert und dadurch eine mentale Vorwegnahme (oder Vorbereitung auf) Kommendes verkörpert. Ausführlich wurde auch noch der Fackelzug der damaligen Einweihungsfeier erwähnt. Auf diese Weise wurde nicht nur eine Kontinuitätsvorstellung „Von Bismarck zu Hitler“ hergestellt (so auch ein Buchtitel Sebastian Haffners), sondern auch eine Rückbindung der NS-Symbolik (Fackelzug) an die deutschnationale Tradition erreicht. Dies war nicht bloß ein propagandistischer „Trick“, sondern belegt die veränderte Schwerpunktsetzung in der Deutung des Denkmals, welches nun für Opfertum und Hingabe angesichts nationaler und wahrhaft historischer Aufgaben stehen sollte. Der „Verständigungsprozess“ über die Vergangenheit, die Rekonstruktion kollektiver Vorstellungen erfolgte so unter maßgeblicher Beteiligung des Zeitungsmediums, hier der HAZ.

Nach 1945 wurde in der Direktive Nr. 30 des Alliierten Kontrollrats in Deutschland die Entfernung aller NS-Symbolik aus dem öffentlichen Raum verfügt. Die abstrakte Form des Bismarck-Turmes vereinfachte dessen Uminterpretation (die etwa beim in der Weimarer Republik neugeschaffenen Krieger-Denkmal am Galgenberg schon schwieriger war) und ließ den sozialen Nutzungskontext in der Zeit zuvor in Vergessenheit geraten. So konnte der Bismarckturm schon 1954 wieder öffentlich genutzt werden, diesmal -wie die HAZ erneut berichtete- als „Denkmal für die Einheit Deutschlands“ und als „Freiheitssysmbol“ (HAZ 19./20. Juni 1954; Bericht zum Tag der Deutschen Einheit).

Nicht unerwähnt darf dabei bleiben, daß sich an den jährlichen Festreden auch Vertreter der Vertriebenenverbände beteiligten und dem Gedenktag und der Neunutzung des Bismarck-Denkmals insgesamt oftmals eine revanchistische Note verliehen, indem sie Gebietsansprüche formulierten oder sich auf den Kalten Krieg und die Rolle Deutschlands in der Ost-West-Auseinandersetzung bezogen, was die öffentlich intendierte Friedens-symbolik ein Stück weit relativierte, dem Einheitsgedanken dafür aber eine gruppenspezifische Nuancierung verlieh. Für die 50er und 60er Jahre kann man also auch hier eine Konkurrenz um Deutungshoheiten verfolgen, die aber gerade durch ihr Vorhandensein die immer noch existierende Wirksamkeit des Erinnerungsortes „Bismarckdenkmal“ unter Beweis stellt. Klar wird auch, daß es nicht allein die physische Existenz oder die materielle Beschaffenheit des Denkmals ist, welche Aussagen über die Vergangenheit hervorruft, sondern daß es ein sozialer Nutzungskontext ist (Feiern, Festreden, Zeitungsberichte), der diese Funktion übernimmt und eine zeit- und kontextspezifische Aktualisierung der Denkmalsaussage bewirkt.

In den „Deutschen Erinnerungsorten“ (dem dreibändigen, deutschen Pendant zu den französischen „Lieux de memoire“) stellt die Erinnerung an Bismarck als Person, als symbolischer Bezugspunkt, als Mythos und als Quell nationaler Selbstvergewisserung und Neuinterpretation denn auch ein wichtiges Kapitel dar (Bd. 2, Lothar Machtan, Bismarck).

 

 

Bevor der Versuch unternommen werden soll, das bisher Gesagte in einen europäischen Kontext zu stellen, komme ich zu einem letzten Hildesheimer Beispiel: der Zerstörung der Altstadt und speziell dem Knochenhauer Amtshaus als Erinnerungsort sui generis.

 

Die Zerstörung der Altstadt

 

Am 22. März 1945 wurde die als „Nürnberg des Nordens“ gerühmte Fachwerk-Altstadt durch einen britischen Bombenangriff im Rahmen der Moral Bombing Strategie fast vollständig zerstört. Von 1500 Fachwerk-häusern blieben 200 erhalten, 90 % der historischen Altstadt gingen im Flammen auf.

Seit der ersten Phase des Wiederaufbaus wurde in Hildesheim die Frage des Umgangs mit dem zerstörten „historischen Ensemble“ der Stadt, speziell dem Marktplatze, aber auch den restlichen Altstadtbauten diskutiert. Dabei standen jedoch die unmittelbaren praktischen Erfordernisse im Wohnungsbau und Verkehrswesen im Vordergrund. Ein Leserbrief vom 26.02.1951 an die HAZ fasst diese Problematik wie folgt zusammen: 

„Das alte Hildesheim ist nicht mehr. Wir brauchen in erster Linie Wohnungen für unsere sehnsüchtig darauf wartenden Hildesheimer auf dem Lande, und keine Amtshäuser mit Schnitzereien. In einem Museum könnte die alte Stadt im kleinen angelegt werden und somit Zeugnis ablegen von der Baukunst unserer Vorfahren. Gebt Hildesheim ein sich der Zeit anpassendes Gesicht“.

Eine Artikelserie in der HAZ („Hildesheimer Kleinigkeiten“) versuchte dagegen sowohl die Erinnerung an das Hildesheim vor der Zerstörung wachzuhalten als auch die Neuankömmlinge (Landflüchtlinge, wieder-kehrende ehemalige Kriegsgefangene, Vertriebene) mit diesem zentralen Bestandteil der städtischen Identität vertraut zu machen. Davon zeugen Titel wie

  • „Mit den Menschen stirbt die Erinnerung aus“ (22.02.1954)

  • „Heute vor 9 Jahren: Als das alte Hildesheim starb (in memoriam)“ (22.03.1954)

  • „Die Reste unserer Fachwerkbauten“ (09.06.1954)

  • „Vor der Zerstörung und heute: Ein Gang durch den Hückedahl“ (23./24.10.1954)

und

  • „Spaziergang durch die alte Schuhstraße“ (26.10.1954)

Mit Fotos wurde versucht, den materiellen Verlust auf einer mentalen, imaginären Ebene zu kompensieren. Gleichzeitig wurde bei den Hildesheimern selbst das innere Bild der alten, vertrauten Umgebung wachgehalten. Aber dieser Blick zurück erfüllte gerade nach 1945 noch eine weitere Funktion jenseits purer Nostalgie: Mangels eines positiven Konsenses in Westdeutschland in bezug auf die eigene Identität, angesichts der Diskreditierung „des Nationalen“ durch die Nazi-Verbrechen, durch Kriegsende und Holocaust, angesichts der Verunsicherung über positive Deutungsmuster der eigenen Deutschen Geschichte konnte eine Wiederaufnahme der politisch „unverdächtigen“ kulturellen Tradition des Mittelalters als durchaus attraktive Option erscheinen und den Wunsch fördern, ein positives Selbst-Bild auf dieser Grundlage zu schaffen. Die Altstadt, die Fachwerkarchitektur, letztlich alle die Vergangenheit tradierenden Elemente im Hildesheimer Stadtbild wären insofern die zeitlich letztmöglichen „kanonischen Symbole“, auf die eine Rückbindung in jener Zeit noch möglich erschien; der lange, dazwischenliegende und bis zur Gegenwart der 50er Jahre andauernde Zeitraum wäre indirekt Ausdruck tiefer Verunsicherung in bezug auf identitätsstiftende Bezugspunkte und Symbole. Dieser Funktions-zusammenhang rückt das zerstörte Hildesheim, v.a. seine Altstadt, als Ganzes in die Nähe eines „Denkmals“ oder „Erinnerungsortes“ in des Wortes doppelter Bedeutung, da ihr wesentlicher Aspekt die Erinnerung und handlungsleitende Orientierung für die Gegenwart zu sein scheint.

Darauf deutet nicht zuletzt die Flut von Leserbriefen, Zeitungsartikeln und Einzeldarstellungen über einen langen Zeitraum von den 50er bis weit in die 80er Jahre hin. Angesichts der materiellen Zerstörungen kann man im Umkehrschluß vermuten, daß Hildesheim sich über diesen Zeitraum wesentlich über kulturelle und ästhetische Attraktionen, die aus der geschichtlichen Vergangenheit fortexistierten, definierte. Wenn, wie die HAZ 1954 schrieb, mit den Menschen auch die Erinnerung an die Altstadt ausstirbt, bleibt in der Nachkriegsgegenwart eine Leerstelle zurück. Dies erklärt auch die emotionale Qualität der damit verbundenen Erinnerungen sowie den bald aufkommenden Wunsch, die nur noch mental vorhandenen „Orte“ auch physisch wieder entstehen zu lassen.

Bedenkt man die elementare Bedeutung von sozialer Interaktion für die Herausbildung kollektiver Gedächtnisinhalte, so ist es wohl kein Zufall, daß das Knochenhauer Amtshaus, das als pars pro toto für das eben über die Altstadt Gesagte steht, innerhalb derjenigen Generation von Zeitzeugen wiedererrichtet wurde, die selbst noch lebendige Erinnerungen an Hildesheim vor der Zerstörung besaß.

Das Knochenhauer Amtshaus

Das Knochenhaueramtshaus galt vielen Hildesheimer als das Symbol Alt-Hildesheims schlechthin, und so blieb der Wunsch nach seiner Wiederherstellung lebendig. Ursprünglich war es im Jahr 1529 als Amtshaus der Metzger erbaut worden. Die mehrmals angeregte Wiedererrichtung konnte erst nach dem Konkurs des Hotels Rose (das am gleichen Ort wie das ehemalige Knochenhauer Amtshaus errichtet wurde) sowie zeitgleichen Plänen für einen Neubau der Stadtsparkasse in den 80er Jahren in die Tat umgesetzt werden. Die Diskussion um eine Wiedererrichtung begann aber schon kurz nach Kriegsende, und auch hier hielten Publikationen verschiedenster Art die Erinnerung der Zeitzeugen lebendig. Die eigentliche Frage nach dem Umgang mit diesem Fachwerkhaus ist jedoch älter und schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts aufgeworfen worden, als sich angesichts der Baufälligkeit des Gebäudes die Frage nach Restaurierung oder Abriß stellte12.

1852 wurde das Rathaus von der Stadt gekauft und auf Drängen Senator Roemers restauriert. „Leider existieren über die damaligen Maßnahmen praktisch keine Unterlagen (...) Was war originaler Baubestand an jenem beeindruckenden Zeugnis der Holzbaukunst?“. Während das Knochenhauer Amtshaus also schon zu dieser Zeit in das Dilemma der Nichtunterscheidbarkeit „originaler“ und „rekonstruierter“ Bausubstanz geriet, wurde dies durch den Brand der Dachgeschosse im Jahre 1884 noch weiter verschärft (das Feuer hatte das Haus fast bis zur Hälfte seiner Gesamthöhe vernichtet).

Auch nach dieser Teilzerstörung erfolgte die Wiederherstellung umgehend. Mangels entsprechender Skizzen wurde die Ornamentik seiner Außenseite nach Vorbild der erhaltenen Reste reproduziert, so daß wahrscheinlich „Teile des ursprünglichen Baus nur unterhalb dieser Scheidelinie (des Brandes) zu erwarten sind“.

Es bleibt festzuhalten, daß bereits im 19. Jahrhundert der Abriß erwogen wurde und das, was 1945 zerstört worden ist, nur zum geringen Teil noch „mittelalterliches Original“ gewesen ist. Auch die Wiedererrichtung von 1987 integrierte moderne Bau- und Konstruktionselemente, u.a. aufgrund von Brandschutzbestimmungen oder aus Gründen der Statik, weshalb bsp. ein Betonfundament gegossen wurde. Die stilistischen Ungereimtheiten erklären sich zum großen Teil aus den wiederholten Rekonstruktionsmaßnahmen zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte des Knochenhauer Amtshauses. Schon für die Maßnahmen des 19. Jahrhunderts kommen Achilles/Borck zu dem Schluß: „Läßt man in Gedanken (diese) aus, so ändern sich Erscheinungsbild und Charakter des ursprünglichen Baus bereits erheblich“. Im Diskussionszusammenhang um das kollektive Gedächtnis und Erinnerungsorte ist die Frage, was 1987 wiedererrichtet wurde weniger bedeutsam als die, was damit verbunden wurde. Werner Schmidt (Der Hildesheimer Marktplatz seit 1945, S. 26), fasst zusammen: „Werden Steinbauten zerstört, so bleiben Ruinen, in die sich ein Teil der Bedeutung verlagert (// man denke an die als Mahnmal fortexistierenden Kirchenruinen //) . (...) Holzbauten verschwinden meist spurlos. Das gespenstische „Nichts“, das übrigbleibt, verschiebt die Bedeutung ins Imaginäre, die Phantasie. Dort wächst die Bedeutung. Es bleiben keine Trümmer. Das Bild jedoch bleibt. Es entzieht sich der Trümmerräumung. In den Auseinandersetzungen um den Hildesheimer Marktplatz wird deutlich (...), daß das Bild widerstandsfähiger sein kann als die Realität“.

Wie auch beim Frankfurter Goethehaus, um das es ähnliche Diskussionen gegeben hatte, wurde in Hildesheim eine „Abstimmung mit den Füßen“ herbeigeführt, nicht zuletzt durch die Gründung eines Vereins zur Wiedererrichtung des Knochenhauer Amtshauses- in dem man möglicherweise einen späten Nachfolger der bürgerlichen Denkmalskommitees des 19. Jahrhunderts sehen kann. 

Das Knochenhauer Amtshaus, so läßt sich abschließend sagen, besitzt die Funktion eines Sinnbildes lokaler Geschichte und einer materiellen Verkörperung von Heimat, stellt dadurch nicht zuletzt ein Wesenselement eigener Identität und den Ausdruck eines mentalen Grundbedürfnisses dar. Diese Symbiose von Ort und geistigem Bild, das sogar zur physischen Wiederauferstehung dieses mentalen Bezugspunktes führt, ist daher ein aufschlußreiches Beispiel des zyklischen Wiederauftauchens von Erinnerungsorten im Sinne Pierre Noras, bei dem die ihm zugesprochene Bedeutung und seine identitätsstiftende Rolle weitaus stärker ins Gewicht fällt als historische Exaktheit.

Hildesheim im kollektiven europäischen Gedächtnis

Abschließend möchte ich zusammenfassend den Versuch unternehmen, das bisher Gesagte in Richtung auf die Frage nach einem kollektiven europäischen Gedächtnis hin zu kontextualisieren.

Erinnerungsorte beziehen sich häufig, wie erwähnt, auf nationale (oder -wie gerade gezeigt- lokale) Geschichte oder Geschichten. Dadurch entsteht eine Multiplizität, die sich einer (europäischen) Harmonisierung oder Nivellierung entzieht, ja dieser sogar widerspricht. Hildesheim spiegelt im Kleinen die „große“ Nationalgeschichte unter Einbeziehung seiner spezifischen Besonderheiten als katholische Enklave im vorwiegend protestantisch geprägten Norddeutschland wieder. Weitere Spezifika sind die örtliche Verwurzelung seiner Einwohner, insbesondere die Identifikation mit der 1945 zerstörten Altstadt, wobei diese Identifikation eine mentale, soziale, sozialpsychologische und politische Komponente beinhaltet. Hildesheims öffentlicher Raum gibt Auskunft über die zu verschiedenen Zeiten dort abgelaufenen Aneignungen von Geschichte durch soziale Gruppen. Allgemein könnte man daher auf europäischer Ebene vielleicht sagen, daß außer den nationalen Gründungsmythen (die anhand des Bismarckdenkmals illustriert wurden) der Zweite Weltkrieg insgesamt eine Art negatives „Gravitationszentrum“ darstellt, um das die unterschiedlichen kollektiven Erinnerungen kreisen: Er ist gleichsam so etwas wie ein „transnationaler Erinnerungsort“. Wie man aber etwa am Beispiel der gelungenen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin mit dem Titel „Mythen der Nationen“ sehen kann, wird dieser transnationale Erinnerungsort aber weiterhin aus nationaler Perspektive wahrgenommen und gedeutet. Konsequenterweise präsentierte die Ausstellung europäische Geschichte als Kakophonie sich einander widersprechender Erfahrungen und darauf basierender Erinnerungen. Erinnert wird trotz der europäischen Einigung weiterhin im nationalen Maßstab. Dies wird bisweilen als Hindernis für die Schaffung einer europäischen Identität angesehen. Allerdings - wie sollte eine Harmonisierung dieser widersprüchlichen und gegensätzlichen Erfahrungen aussehen? Selbst wenn sie möglich wäre- wäre dies wünschenswert? Mit Blick auf die theoretischen Überlegungen Maurica Halbwachs' und Pierre Noras muß Ersteres eher bezweifelt werden. Bezüglich des letzteren Punktes mag man daran erinnern, daß als gemeinsamer Ausgangspunkt für die Europäische Einigung die „Friedensidee“ als Reaktion auf die Antagonismen der europäischen Geschichte, v.a. des 2. Weltkrieges gedient hat und heute möglicherweise wieder dienen kann. Holocaust, Vertreibungen, Zerstörungen- dies sind gesamteuropäische Erfahrungen, was nicht als Aufforderung zur Nivellierung der kategorialen Unterscheidung von Tätern und Opfern mißgedeutet werden darf. Die Frage aber, die die sich daran anschließt, ist zum Einen, ob diese Negativerfahrungen angesichts der fortbestehenden Unterschiede in der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges als allgemeiner Lernprozess positiv gewendet werden können, zum Anderen, ob diese positive Deutungslinie über 50 Jahre nach den Römischen Verträgen noch tragfähig ist, oder ob diese selbst bloß den Ausdruck eines kollektiven Gedächtnisses der damals handelnden Europapolitiker, die über eigenen Kriegserfahrungen verfügten, darstellt? Wenn das so wäre, iwäre nicht eine neue Gründungsidee für EU wichtig und notwendig?

Meines Erachtens ist der Existenz und Fortdauer nationaler Gründungsmythen nicht mit einer Neukonstruktion eines Europäischen Gründungsmythos zu begegnen. Vielmehr müssen geschichtliche Brüche und Diskontinuitäten, die ein gemeinsamer Mythos einzuebnen versuchen müsste, (an)erkannt, verdeutlicht und erläutert werden. Diese Brüche und Diskontinuitäten, die sich allein schon in der deutschen Geschichte und am Hildesheimer Beispiel zeigen ließen, stehen einer erzwungenen Harmonisierung sowohl der europäischen kollektiven Gedächtnisse als auch ihrer Geschichte entgegen. Pierre Nora sagt, daß die Geschichte eine, die Erinnerung aber trenne und die Unterschiede betone. Dies verdeutlicht vor allem Eines: die Aufgabe der kritischen Geschichtswissenschaft, jenseits der großen Meistererzählungen transnationale Bezüge herzustellen, dabei aber auf die Mulitplizität der verschiedenen kollektiven Erinnerungen hinzuweisen und diese miteinzubeziehen. Vielleicht folgt daraus auch, daß „Europa“ insgesamt weniger mit dem Konzept von Erinnerungsorten zu begreifen ist, sondern nach einem neuen, offeneren Ansatz verlangt, der Raum bietet für neue Gedächtnispraktiken. Es bleibt Aufgabe der Historiker, die Vergangenheit kritisch zu reflektieren, nicht, die Zukunft herbeizuschreiben, auch dann nicht, wenn es sich um eine gemeinsame Zukunft im Europäischen Maßstab handelt.

1 Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin 1966, S. 19. 

2 a.a.O., S. 20/21.

3 a.a.O., S. 22.

4 Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte. Berlin 1990 (frz. 1984), S. 11.

5 Nora, a.a.O., S. 28/29.

6 Peter Brandt, Reichsgründung, in: Lutz Niethammer (u.a. (Hrsg.), Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. Frankfurt/M., 1990, S. 197-216, hier S. 198.

7 schaffte die Zensur ab, beseitigte Standesvorrechte, trennte Justiz und Verwaltung und reformierte Verwaltung und Gemeinden (Wikipedia)

8 HAZ vom 02.April 1897.

9 HAZ, 01.04.1905.

10 Dieser geht zurück auf einen Entwurf von Wilhelm Kreis, der 1899 den in Hildesheim errichteten Typus mit dem Namen „Götterdämmerung“ als Beitrag zu einem von der Deutschen Studentenschaft initiierten Wettbewerb schuf .

11 Thomas Nipperdey: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert. Erstmals in: HZ 206 (1968), S. 529-585, hier in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 133-173

12 Achilles, Borck (Hrsg.), Der Marktplatz zu Hildesheim, a.a.O., s. 44/45. 1852 wurde das Rathaus von der Sttadt gekauft und auf Drängen Senator Roemers restauriert.

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