Österreichs Außenminister Alois Mock, Deutschland und Europa 1989/90

Es gilt das gesprochene Wort!

 

Michael Gehler, Leiter des Instituts für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim und Veranstalter der Europagespräche, sprach heute zum selben Thema, für das eigentlich Helmut Wohnout (Wien) vorgesehen war, dessen Vortrag jedoch aus verkehrstechnischen Gründen ausfallen musste.

 

Gehler beginnt seine Ausführungen mit einigen Quellenauszügen, die Meinungen und Einschätzungen zur Situation 1988 kurz vor den Ereignissen beleuchten, die dann letztlich zur deutschen und europäischen Einigung führten.

Hierbei wendet er sich zunächst dem österreichischen Botschafter in der DDR zu, Franz Wunderbaldinger. Dieser äußerte sich 1988 zu folgenden drei Aspekten:

1.   Ausgangslage: In jüngster Vergangenheit sei die Lage für die DDR zurfriedenstellend, meinte Wunderbaldinger. Sie scheint international weitgehend anerkannt und gilt den meisten RGW-Staaten (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, russ.: Совет экономической взаимопомощи, CЭB, SEW),  als Vorbild. Honnecker dürfe stolz sein.

2.   unerfüllte Aspirationen der Bevölkerung: Viele DDR Bürger wünschten hingegen, reisen zu dürfen, was ihnen verwehrt blieb. Die Auslandsreisen Honneckers wiederum konnten innenpolitisch kaum genutzt werden: „Trabis“ und Lebensmittel blieben knapp, die D-Mark sei gleichsam die zweite Währung der DDR und Gorbatschows jüngsten Äußerungen weckten weitere Hoffnungen der Bevölkerung.

3.   Ausblick: spektakuläre Veränderungen auf wirtschaftlichem und sozialen Gebiet seien hingegen nicht zu erwarten, glaubte Wunderbaldinger. Stattdessen sei mit geringfügigen periodischen Anpassungen zu rechnen. Die DDR-Bürger zeigten ein starkes „Realitätsbewusstsein“ und verfügten über einen relativ hohen Lebensstandard, so dass sie wohl keine revolutionären Maßnahmen ergreifen würden.

Der damalige österreichische Botschafter in Bonn, Friedrich Bauer, schätzte die Lage im April 1988 ähnlich ein: Eine Wiedervereinigung Deutschlands sei nicht in Sicht. Er machte sich allenfalls Sorgen, dass rechte Gruppen sich des Themas bemächtigten. Der Glaube an eine Wiedervereinigung schwinde jedoch in der Bevölkerung, es gehe nur noch um „Aufrechterhaltung von Wiedervereinigungsansprüchen“ auf Regierungsebene. Eine Wende in der Status-quo-Position bemerke er nicht.

 

Zu den Hintergründen in Österreich 1988 erläutert Gehler, dass zu jener Zeit dort eine – nicht unübliche – große Koalition regierte. Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten war 1987 bis 1995 Alois Mock (geb. 1934), ÖVP, 1987-89 gleichzeitig österreichischer Vizekanzler. Wie dieser war auch Erhard Busek (geb. 1941), bis 1989 Landesparteiobmann der Wiener ÖVP, stark nach Mittel- und Osteuropa hin orientiert. Österreichs Beziehungen in diesen Raum waren jedoch enge Grenzen gesetzt. Im „Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die Neutralität Österreichs“ hatte sich der Staat zu „immerwährender Neutralität“ verpflichtet. Die UdSSR hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg nur unter der Bedingung aus Österreich zurückgezogen, dass ein neutraler Alpenkeil tief in das Gebiet der NATO gebildet wurde, dem Österreich und die Schweiz angehörten. Gleichwohl stellte Österreich 1989 den Antrag um Aufnahme in die Europäischen Gemeinschaften, in denen Frankreich damals die Ratspräsidentschaft innehatte.

Die Lage im Sommer 1989 sei allgemein durch den Ausfall wichtiger Führungspolitiker eine unsichere gewesen: Während Honnecker unter einer starken Gallencholik litt, fiel Genscher aufgrund eines kürzlich zuvor erlittenen Herzinfarktes aus. Kritisch war die Situation nicht zuletzt für Helmut Kohl: Er befand sich aufgrund tagelanger Unterleibsschmerzen in ärztlicher Behandlung und stand angesichts des Bremer Parteitages kurz vor dem parteipolitischen Aus.

Was konkret den Katholiken und Antikommunisten Alois Mock betreffe, so der Redner, sei dieser schon in jungen Jahren sehr Europa-orientiert gewesen. Er selbst verlor zwar im selben Jahr das Vizekanzleramt, blieb jedoch Außenminister. Österreichischer Bundeskanzler war damals Franz Vranitzky, SPÖ (geb. 1937, Bundeskanzler 1986-97).

 

Für den Juni 1989 lässt Gehler eine weitere Quelle sprechen. Der österreichische Botschafter in Moskau, Herbert Grubmayr, gab die Lageeinschätzung ab, dass eine ideologische, politische und außenpolitische Öffnung der Sowjetunion erkennbar sei. Eine Debatte über die Breschnew-Doktrin [„Die Souveränität der einzelnen Staaten findet ihre Grenze an den Interessen der sozialistischen Gemeinschaft.“ F.H.] sei jedoch nutzlos, da diese nie schriftlich fixiert worden sei.

 

Am 13. Februar 1989 fanden bereits erste gegenseitige Besuche auf österreichischem und ungarischem Gebiet statt. Bereits unter Miklós Németh (1987-88 Vorsitzender des Präsidialrates Volksrepublik Ungarn) hatte eine Neubewertung des Volksaufstandes von 1956 stattgefunden. Statt einer „Konterrevolution“ sei es nun ursprünglich ein Volksaufstand gewesen, der dann erst zur „Konterrevolution“ mutierte. Dies war ein Kompromiss, um das Auseinanderbrechen der Partei zu verhindern.

In der Folge wurden neue Grenzübergänge geschaffen und sogar eine gemeinsame, österreichisch-ungarische Weltausstellung angedacht.

 

Anfang Mai 1989, so Gehler, wurde bereits mit dem vorsichtigen Abbau der Grenzanlagen zwischen den Staaten begonnen, die zu alt und verrottet und nicht mehr sanierbar waren. Gyula Horn (1988/89 ungarischer Außenminister) und Alois Mock zerschnitten schließlich am 27. Juni 1989 medienwirksam vor laufenden Kameras den Stacheldraht bei Sopron. Dies war allerdings nurmehr eine symbolische Handlung, da zu diesem Zeitpunkt kaum noch intakte Grenzanlagen zu finden waren. Eine offizielle Ausreisegenehmigung gab es jedoch auch danach noch nicht.

 

Mock formulierte bezüglich der Grenzöffnungen zum Ostblock sechs Grundsätze:

1.   Die Grenzöffnungen sind souveräne Entscheidungen der jeweiligen Staaten (keine Einmischung Österreichs)

2.   Österreich begrüßt die aktuelle Bewegung.

3.   Wenn Österreich den Öffnungsprozess unterstützt, soll es so geschehen, dass niemand politisch irritiert ist.

4.   Die Öffnung soll die Chancen für Österreich vermehren.

5.   Frieden und Stabilität sollen gefördert werden.

6.   Die Neutralität Österreichs soll genutzt werden.

 

Die sozialistischen Staaten waren für den Öffnungsprozess nun sensibilisiert und achteten genau auf die Bewertungen der Ungarnaufstände von 1956 wie auch des aktuellen Massakers auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ (3./4. Juni 1989) in Peking.

 

Am 19. August 1989 schritt der Öffnungsprozess weiter entscheidend voran. Nur wenige Kilometer von der Stelle, an der Horn und Mock den Zaun durchschnitten hatten, wurde die Grenze für drei Stunden geöffnet, damit sich Ungarn und Österreicher zu einem von Otto von Habsburg  und ungarischen Reformkommunisten initiierten „paneuropäischen Picknick“ treffen konnten. Die Aktion war nicht zuletzt als ein Test für Gorbatschow gedacht. Zwar flüchteten bereits einige Menschen nach Österreich, aber noch kam es nicht zu einer Massenflucht.

 

Wenige Tage später jedoch wurde der DDR-Bürger Kurt Werner Schulz bei Györ von einem ungarischen Grenzpolizisten erschossen, als er mit Lebensgefährtin und Kind die Grenze nach Österreich überschritt. Als kurz darauf ein weiterer Flüchtling einen tödlichen Herzinfarkt erlitt, zog Németh die Konsequenz, die Grenze bald zu öffnen, obwohl dies einen klaren Verstoß gegen den Warschauer Pakt darstellte. In diesen Tagen kam es bereits zu massenweisen Ausreisen von DDR-Bürgern, die ihre Autos in Ungarn zurückließen, um über die „grüne Grenze“ nach Österreich und weiter in den Westen zu fliehen. In Österreich selbst war eine enorme Spendenbereitschaft feststellbar, und es wurde Hilfe jeder Art geleistet.

 

Am 28. August war Németh bei Kohl und Genscher. Németh wollte die Grenze offen halten, doch Kohl drängt auf ein bestimmtes Öffnungsdatum – und zwar auf den Tag des anstehenden Bremer Parteitages, auf dem er von Heiner Geißler, Rita Süssmuth und Lothar Späth politisch demontiert werden sollte. Mock gab für das Vorhaben sofort „grünes Licht“, so Gehler. Vom 28.08.-10.09. wurden die technischen Details besprochen. Ein Problem bestand im österreichischen Vertrag mit der DDR. Um den Flüchtlingen nicht mit staatlichen Einrichtungen zu helfen, wurde der Transfer derselben durch österreichisches Gebiet vom österreichischen Roten Kreuz und privaten Busunternehmen (nicht von der ÖBB) geleistet. Auf diese Weise wurde die Hilfe als „humanitäre Aktion“ deklariert. Jedem Flüchtling wurden 700 Schilling Begrüßungsgeld offeriert, wobei Helmut Kohl von Beginn an betonte, dass Geld von bundesdeutscher Seite keine Rolle spiele.

Als Kohl in Bremen zum gegebenen Zeitpunkt verkünden konnte, dass die Grenze zu Ungarn ab dem 11. September geöffnet sei, waren natürlich alle innerparteilichen Fragen mit einem Schlag bedeutungslos – und Kohls Position nicht nur gerettet, sondern dauerhaft gefestigt.

 

Medienpolitisch war diese rasante Entwicklung ein Drahtseilakt, so Gehler. Die österreichischen Politiker hatten mit dieser rasanten Entwicklung schlicht nicht gerechnet. Als der Mauerfall geschah, zeigten die meisten „keine sonderliche Begeisterung“. Mock jedoch unterstützte Kohl auch dann noch, als Schewadnadse dessen 10-Punkte-Plan als „Hitler-Methoden“ zu diffamieren versuchte.

Parallel dazu gab es aber auch jetzt noch österreichische Maßnahmen, die eher darauf hinausliefen, die DDR zu stabilisieren. Ein Ost-West-Fonds sollte dazu dienen, den reibungslosen Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft zu ermöglichen. Modrow wurde auch dann noch in Wien empfangen, als offenbar wurde, dass die DDR unrettbar bankrott war. Das österreichische Bundeskanzleramt unter Vranitzky blieb gegenüber der deutschen Wiedervereinigung also skeptisch, während das Außenministerium unter Mock derselben gegenüber offen eingestellt war.

 

Im Februar-März 1990 reagierten die UdSSR und die USA. Gorbatschow war zu Konzessionen bereit, da er einsah, dass der Öffnungsprozess nicht mehr aufzuhalten war. Allerdings bestand er auf Grenzgarantien. Ein neutrales Deutschland war jedoch angesichts der Entwicklung aus seiner Sicht keine Conditio sine qua non mehr. Was die USA betrifft, erläutert Gehler, so war diese unter den Westalliierten am positivsten gegenüber der deutschen Einigung eingestellt. Sie strebten an, ganz Deutschland in die NATO einzubinden.

 

Die österreichische Bevölkerung begrüßte die Öffnung Ungarns und die sich anbahnende Einigung Deutschlands sehr. 1990 stimmten 90% ihr zu (bei partieller Gegnerschaft in den Reihen der Grünen). Ebenfalls 90% votierten jedoch auch gegen einen Beitritt Österreichs zum wiedervereinigten Deutschland.

 

Als Fazit streicht Gehler nochmals heraus, dass Österreich im Vorfeld der Maueröffnung durchaus entscheidenden Einfluss auf die Geschehnisse ausübte – und dass diese in der deutschen Geschichtsschreibung bislang eigentlich nicht hinreichend gewürdigt wurden.

 

 

Dem Vortrag Gehlers, der eine aus deutscher Sicht selten eingenomme und daher um so erhellendere Perspektive bot, folgte wie üblich eine rege Diskussion. Hier wurde ergänzend deutlich, dass Gorbatschows aktiver Beitrag zum Einigungsprozess weithin überschätzt wird. Ihn tangierte 1989/90 die deutsche Frage kaum mehr als zu 10%. Stattdessen war er bemüht, von der sowjetischen Macht das zu retten, was noch rettbar erschien. Gegenüber Kohl war Gorbatschow sehr skeptisch eingestellt, überschätzte dabei aber seine eigene Machtposition in der Welt noch maßlos. Noch im Januar 1990 glaubte er, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands „frühestens in 10 Jahren“ anstünde.

Gleichwohl war Gorbatschow aus westlicher Sicht der Garant eines friedlichen und geordneten Rückzugsprozesses der Sowjetmacht. Die größte Sorge In den USA und Westeuropa bestand in der Möglichkeit, dass Gorbatschow hierüber zu Fall kommen könnte.

Dass seine Politik mächtige Gegner hatte, lag auf der Hand. Putin äußerte noch 2009, dass „1989 die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei“.

 

Bericht als Download (pdf)