60 Jahre Schuman-Plan: Historische Grundlagen der französischen Europapolitik

Es gilt das gesprochene Wort!

 

Die Forschungsgebiete Dr. Thomas Angerers [http://www.univie.ac.at/<wbr></wbr>Geschichte/htdocs/site/arti.<wbr></wbr>php/90033] (Assistenzprofessor am Institut für Geschichte der Universität Wien) liegen in der neueren und neuesten Geschichte Frankreichs im europäischen Kontext. Der Inhaber des Karl-von-Vogelsang-Staatspreises hatte Gastprofessuren an den Universitäten Paris VIII und Paris I inne und lehrt auch in den „Europastudien“ der Universität Wien (http://www.univie.ac.at/europaeistik) sowie an der Diplomatischen Akademie Wien (http://www.da-vienna.ac.at/application/startseite.asp).

 

Angerer beginnt seine Ausführungen mit der Feststellung, dass der Schuman-Plan sich zum Zeitpunkt seines Vortrages fast auf den Tag (09.05.1950) zum sechzigsten Mal jährt. Die Initiative Robert Schumans (1886-1963) und Jean Monnets (1888-1979), die bereits den Zeitgenossen als revolutionär galt, führte 1951 zur Gründung der Montanunion (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Abkürzung EGKS), der ersten der drei europäischen Gemeinschaften, aus denen sich die EU entwickelt hat.

[Vgl. www.ena.lu/erklarung_robert_schuman_paris_mai_1950-3-613]

 

1. Wie kam es zum Schuman Plan und was beinhaltete er?

Der Schuman-Plan stellt den Höhepunkt der sogenannten „europäischen“ Wende der französischen Deutschlandpolitik in den ersten Nachkriegsjahren dar. Frankreich wollte die junge Bundesrepublik Deutschland möglichst eng an den Westen binden, d.h. ihre wiedererlangte teilweise Unabhängigkeit in einen westeuropäischen Rahmen binden. Französische Überlegungen, die deutsche Nation mittels eines europäischen Einigungsplans in der europäischen Mächtegemeinschaft einzubinden, zu besänftigen und zu versöhnen wurden bereits in der Zwischenkriegszeit (Briand-Plan) und im Widerstand (z.B. Léon Blum) angestellt und lassen sich in Vorstufen bis in die Frühe Neuzeit zurückverfolgen. Auch nach dem 2. Weltkrieg, so Angerer, sei die französische Haltung Deutschland gegenüber nicht so einseitig (negativ) gewesen, wie dies an der Oberfläche und in der Rückschau scheinen mag. Offensichtlich wurde dies allerdings erst 1948. Französische Bedingungen für den Abbau der Alliierten Kontrolle waren:

·       der schrittweise Abbau desselben

·       der vorausgehende Aufbau europäischer Kontrollinstanzen (OEEC, Europarat)

·       die Priorität der Vorrangstellung und Sicherheit Frankreichs (Das beinhaltete: keine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland)

Großbritannien hingegen sträubte sich gegen eine Stärkung der OEEC und des Europarates, und die Bundesrepublik Deutschland stellte ihrerseits Forderungen. Hauptsächliches Problem war aus französischer Sicht die bundesdeutsche Wirtschaftskraft, die bedeutend schneller wuchs als die französische. Die französische Strategie, sich erst aus einer Position der Stärke heraus zu öffnen, konnte daher nicht gelingen. Der Verantwortliche für die französische Wirtschaftsplanung, Jean Monnet, änderte daher - ähnlich dem Motto „if you cannot beat them, join them“ - seine Maximevon „stark werden, um sich öffnen zu können“ auf „sich öffnen, um stark zu werden“. Dies war nur durch ein Zugehen auf die Bundesrepublik Deutschland möglich. Besonders wichtig für die französische Stahlindustrie war die Ruhrkohle. Um an dieser gebührend teilhaben zu können, ließ Frankreich die „internationale Ruhrbehörde“ einrichten, die vor Ort jedoch auf geringe Akzeptanz stieß und auch nur über geringe und unklare Kompetenzen verfügte. Kohle war und blieb wenig und teuer, was durch die bundesdeutsche Doppelpreisstrategie sowie durch Kartelle und steigende bundesdeutsche Produktionsquoten noch verstärkt wurde. 1950-52 erreichte die finanzielle Abhängigkeit Frankreichs von den USA zudem ihren Höhepunkt.

In dieser Situation, erläutert Angerer, wurde Schuman und Monnet deutlich, dass ein Beharren auf den alten Positionen den Einfluss Frankreichs nur schmälern würde, so dass sie gewissermaßen die Flucht nach vorn antraten. Hierbei, so der Redner, müsse allerdings betont werden, dass die beiden Genannten keineswegs die herrschende Meinung vertragen, weder in der Öffentlichkeit noch in den politischen und administrativen Eliten. Sie waren Realisten und im Vergleich zu anderen französischen Industriellen und Politikern Ausnahmeerscheinungen. Schuman, aus einer lothringischen Familie stammend, in Luxemburg geboren und an deutschen Universitäten ausgebildet, sprach Französisch mit deutschem Akzent und war bis dahin eher ein Politiker mit regionalem Horizont, geprägt von der französisch-deuschen Grenzregion, aus der er kam. Monnet hingegen war zu sehr Weltbürger, um französischer Nationalist sein zu können, und entstammte einer durch Cognac-Handel zu Reichtum und globalen Verbindungen gelangten Familie. Während Schuman als der Entscheidungsträger gelten muss, war Monnet der - wie de Gaulle ihn nannte – „inspirateur“ des Plans. Schuman und Monnet kamen auch nicht aus den Europabewegungen und dämpften euphorische Erwartungen, indem sie warnten, dass Europa sich nicht auf einen Schlag einigen, sondern dies ein langer Prozess sein werde. Regierung und Wirtschaft waren am Schuman-Plan nicht maßgeblich beteiligt. Die französische Bevölkerung reagierte skeptisch bis desinteressiert.

Der Plan bestand in der Zusammenarbeit von Staaten – nicht etwa von Industriellen. Die „Hohe Behörde“ der Union sollte Gesetze erlassen, die in allen Mitgliedsstaaten gelten. Sie besaß ein eigenes Budget. In seiner Erklärung vom 9. Mai 1950 sprach Schuman noch nicht von „Supranationalität“, denn dies wäre nicht konsensfähig gewesen. Schon Briand war es umunion, aber nicht um unité gegangen. Großbritannien war gegen den Plan und wurde folglich nicht in ihn integriert. Stattdessen schlossen sich Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland sowie die Benelux Staaten und Italien in der Montanunion zusammen. Der Vorstoß Schumans und Monnets bewirkte, dass Frankreich federführend war, bevor die bundesdeutsche Wirtschaft es eingeholt hatte. So wurde es statt zum Juniorpartner der Seniorpartner. Doch muss man sich vor Augen halten, dass es letztlich nicht um wirtschaftliche Aspekte allein ging. Kohle und Stahl waren keine beliebigen Wirtschaftssektoren, sondern kriegssymbolische und daher zentrale. Letztlich und hauptsächlich ging es um Friedenssicherung. Zurecht, so Angerer, wurde in der Forschung vom Schuman-Plan als einem Ersatz-Friedensvertrag zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland gesprochen.

 

2. Worin besteht das Erbe des Schuman-Plans in der französischen Europapolitik?

Wichtigste Kontinuität ist hier das enge Bündnis zwischen Frankreich und Deutschland. Die Wechselseitigkeit schaffte und schafft Vertrauen. Während die Franzosen dem Plan – wie gesagt – zunächst skeptisch gegenüberstanden, klammern sie sich noch heute an le franco-allemand“, so Angerer. Die Kontrolle der Bundesrepublik Deutschland  durch Integration ist nach wie vor alternativlos. Geblieben ist gleichwohl die französische Maxime, Gleichberechtigung in den europäischen Gemeinschaften zu gewähren, doch Vorrang in der großen Politik zu behalten. Eingeschränkt wurde dies durch den nur fünf Tage nach Beginn der Vertragsverhandlungen ausbrechenden Koreakrieg, der die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland unausweichlich machte. 1954-55 wird sie „souverän“ zum Preis der totalen Integration in den Westen. Auf diese Weise behauptet Frankreich gegenüber Deutschland die militärische und weltpolitische Überlegenheit (Atomwaffen, Stützpunkte auf der ganzen Welt, ständiger Sitz mit Vetorecht im UN-Sicherheitsrat).

Frankreich hat Osteuropa im Kalten Krieg früh „abgeschrieben“, konstatiert Angerer. Überhaupt sei die Teilung Europas und vor allem Deutschlands wohl eine wesentliche Voraussetzung für den Schuman-Plan gewesen, da dieser aus französischer Perspektive nur mit einem Partner möglich war, dem man „irgendwie gewachsen“ war. Ein „halber Partner“ war hier allemal besser als ein ungeteilter – was auch die Vorbehalte Frankreichs zur deutschen Wiedervereinigung zum großen Teil erklärt.

Um das eigene Gewicht zu stärken, setzte Frankreich daher auch auf Kerneuropa statt auf Großeuropa. Die wichtigste Frage war: Welche Partner waren absolut unverzichtbar? Die Integrationsbereitschaft war wichtiger als die Größe, wodurch sich die großen Erweiterungskrisen der EU erklären: Es ging Frankreich stets eher um Vertiefung statt Erweiterung.

Ein weiteres Erbe besteht im Primat des Politischen innerhalb des europäischen Einigungsprozesses.

Eine dritte Kontinuität ist der technokratische Zugang, der sich aus den Traditionen des französischen Obrigkeits- und Beamtenstaates erklärt. Dieses Erbe wirkt parlamentarisch-demokratischen Ansätzen bis heute entgegen. (Die Hohe Behörde sollte ja unabhängig sein!)

Weltpolitik geht auch heute aus französischer Sicht noch vor Europapolitik. Das heißt konkret, dass Frankreich nach wie vor bemüht ist, seine Stellung gegenüber den USA zu verbessern und Europa zwar als Macht aufzubauen, dabei jedoch auch darauf zu achten, dass dies nicht zu Lasten französischer Interessen in Afrika und anderen Teilen der Welt geht.

 

Was hat sich inzwischen geändert?

Hier nennt Angerer zunächst die Rolle der Supranationalität, die in den 1950er und 60er Jahren in Frankreich auf heftige Ablehnung stieß. Die französische Haltung hat sich inzwischen auf eine Mittelmaß eingependelt.

Schon ab Mitte der 1950er Jahre gibt es auch eine direkte Partnerschaft zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland. Zu nennen ist hier der Deutsch-Französische Vertrag.

Festzustellen ist auch ein deutlicher Gewichtsverlust Frankreichs in der Welt wie (durch die Erweiterungen) auch in Europa. Gleichwohl behält Frankreich einen unverhältnismäßig hohen Einfluss. Die Fähigkeit Frankreichs und Deutschlands, sich untereinander zu einigen, geht jedoch zurück.

Als Fazit zieht Angerer dennoch: Der Schuman-Plan war „ein Quantensprung“.

 

Die sich an den detaillierten und sehr erhellenden Vortrag anschließende Diskussion bestätigte nochmals, dass es beim Schuman-Plan vor allem um grundlegende politische Interessen, um wirtschaftliche wie politische Machtfragen ging. Während damals zwei Pragmatiker handelten, die keineswegs als „Europafanatiker“ bezeichnet werden können, herrscht heute um diese Mythenbildung vor, die ihre vielleicht skurrilste Ausformung im Seligsprechungsprozess für Robert Schuman findet.

 

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