Imperien und Demokratie. Integrationskonzepte im 20. Jahrhundert

Hans-Jürgen Schröder

 

Imperien und Demokratie. Integrationskonzepte im 20. Jahrhundert

 

Einleitend ging der Referent auf Fragen der Begrifflichkeit ein. Bei Imperien handle es sich um Industriestaaten oder -staatengruppen die formell oder informell über andere Staaten oder Staatengruppen Herrschaft ausüben und diese dominieren. „Demokratien“ seien Regierungsformen mit unterschiedlichem Inhalt. Im westlichen Sinne handelt es sich um parlamentarische Demokratien mit grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Strukturen zum Wohle des Einzelnen. Bei den vormals östlich-kommunistischen „Volksdemokratien“ handelte es sich demgegenüber um planwirtschaftlich ausgerichtete Einparteiensysteme und Repressionsapparate. Integration bedeute die Abgabe von Teilsouveränitäten.

Für das 20. Jahrhundert stelle sich die Frage nach der Epochenwende. Die revolutionären Ereignisse 1917 in Russland und die Umbrüche in Mittel- und Osteuropa 1989 stünden für ein kurzes 20. Jahrhundert während die Phase von 1989 bis zum 11. September 2001 eine Übergangsphase bis in das 21. Jahrhundert hinein darstellen würden. Mit dem 20. Jahrhundert setzte die Geschichte der USA als informelles Imperium ein. Schröder gliederte seinen Vortrag in verschiedene Phasen:

(1)   Der Erste Weltkrieg als Epochenwende;

(2)   Versailles – „die Amputation“ des Deutschen Reiches;

(3)   Die 1920er Jahre: Inkubationsphase neuer Imperien;

(4)   Das versuchte Empire-Building der Diktaturen in den 1930er Jahren;

(5)   Der Zweite Weltkrieg mit der gewaltsamen Integration und dem Kampf der Imperien

(6)   Die Teilung der Welt 1945-1989 mit dem globalen Machtanspruch der USA;

(7)   Der Epochencharakter des Jahres 1989;

(8)   Vom Sub-Imperium zum Imperium: der Aufstieg von der EG zur EU seit Maastricht;

(9)   Das Mächtesystem zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

(10)                      Die Demokratie in der Weltwirtschaftskrise.

 

Zu (1): Im Zuge des Ersten Weltkrieges und dann letztlich in Versailles wurde das Ende des deutschen Kolonialreichs besiegelt und die deutsche Vormachtstellung in Europa beschnitten. Die anderen Kolonialreiche hätten noch nicht gewusst, dass ihnen ein ähnliches Schicksal blühte, d. h. ihr Abstieg, Niedergang und Zerfall sich bereits in dieser Phase der Geschichte des 20. Jahrhunderts abzeichnete. Allerdings erkannte man Selbstamputationstendenzen im Falle des britischen Empire, die mit der Unabhängigkeit Indiens 1947 einen Höhepunkt erreichten. Schröder sprach vom Ersten Weltkrieg als Epochenwende, die durch eine Globalisierung und Ideologisierung der internationalen Beziehungen gekennzeichnet gewesen sei. Autokratie, Bolschewismus und Weltrevolution standen der Demokratie, Freiheit und einer „open door“-Konzeption gegenüber. „To make the world safe for democracy“ war einer der Leitsprüche von US-Präsident Wilson, verbunden mit einem globalen Führungsanspruch der USA.

Zu (2): Mit Versailles war nicht nur die „Amputation“ des Deutschen Reiches verbunden, sondern auch die Ausgrenzung und Einkreisung des bolschewistischen Sowjetrusslands. Asien spielte bei der Friedensregelung nur eine Randrolle. Die Krise der Pariser Friedensordnung war mit der Absage der USA und ihrem Fehlen im Völkerbund eng verbunden. Die USA betrieben dennoch keinen Isolationismus, doch wollten sie sich nicht einseitig binden. Die Revision der Pariser Friedensordnung war eines der Leitmotive der 1920er Jahre. Das galt nicht nur für die Verliererstaaten (Bulgarien, Deutsches Reich, Österreich, Türkei und Ungarn), sondern auch für Siegerstaaten wie Frankreich und Italien, die ihre territorialen und materiellen Revisionsbedürfnisse nicht befriedigt sahen und ebenfalls die Regelungen von 1919/20 aufweichen wollten. So entwickelte sich bspw. eine französische Revisionspolitik mit Blick auf die Ruhrfrage. 1923 erwies sich trotz der Ruhrbesetzung, dass eine französische Hegemonie über Deutschland und damit auch über Europa nicht möglich war. Locarno 1925 war nur ein Scheinfriede. Im deutsch-französischen Ringen um die Hegemonie auf dem Kontinent ging es um zwei Europa-Konzepte: Mitteleuropa diente als Vehikel für deutsche Ambitionen (Stresemann), Paneuropa für die französische Europapolitik (Briand). Schröder verwies auf das Briand-Memorandum vom 1. Mai 1930, einem Bund, in dem 27 europäische Staaten (wie heute in der EU) präsent sein sollten. Der deutsch-österreichische Zollunionsplan Curtius-Schober brach dem Briand-Plan das Genick. Mitteleuropa blieb letztlich ein demokratiefeindliches Projekt, so Schröder, bei Paneuropa stellte sich diese Frage weniger.

Zu (3): In der Inkubationsphase neuer Imperien spielte der Demokratiegedanke keine Rolle. Das Mitteleuropa-Konzept blieb ein deutsches, Paneuropa tendenziell ein französisches. Schröder erwähnte in diesem Zusammenhang das Washingtoner Vertragssystem von 1922 und die „Legende“ vom US-amerikanischen Isolationismus. Der Übergang zu den Diktaturen war gekennzeichnet von der Weltwirtschaftskrise, wobei die verfehlte Wirtschaftspolitik Brünings als verhängnisvoll qualifiziert wurde. Sie diente nicht zur Rettung und Verteidigung der Demokratie, wie Brüning in seinen Erinnerung weismachen wollte, sondern führte zur Verschlechterung der politischen Lage und in die Diktatur.

Zu (4): Das Empire Building der Diktaturen folgte in den 1930er Jahren. Das „Dritte Reich“ war auf ideologische, territoriale und wirtschaftliche Expansion ausgerichtet. Das begann spätestens mit der Durchdringung Österreichs und dem „Anschluss“ 1938. Das faschistische Italien hatte hingegen schon früher das Konzept des „mare nostro“ verfolgt, was im Abessinien-Krieg 1935/36 deutlich geworden war. Japan griff nach China. Die Sowjetunion entwickelte 1939/40 ihre Expansionspolitik mit Blick auf Polen und Finnland. Die Reaktionen der westlichen Demokratien waren von Ambivalenzen gekennzeichnet, was in der zwiespältigen Appeasement Policy Ausdruck fand, eine Politik auf Zeitgewinn.

Zu (5): Der Zweite Weltkrieg war mit gewaltsamer Integration verbunden und einem Kampf der Imperien untereinander. Mit einer Fülle von Plakaten demonstrierte Schröder den voll entbrannten Propagandakrieg. Das „Dritte Reich“ versuchte sich als das „neue Europa“ darzustellen, Mussolinis Italien als das „neue Rom“. Japan versuchte ein „Imperium des Wohlstandes“ zu symbolisieren und brachte damit den „rise of Asia“ zum Ausdruck. Eine großasiatische Wohlstandssphäre sollte geschaffen werden. Die Jahre von 1943 bis 1945 leiteten den machtpolitischen Aufstieg der Sowjetunion als neues Imperium in der Mitte und im Osten Europas ein. Das britische Empire ist spätestens 1945 am Anfang vom Ende. Die USA stehen für den Kampf gegen die „Achsenmächte“ und damit auch für den „good war“ im Zweiten Weltkrieg unter Mobilisierung aller Ressourcen zur „Verteidigung der Demokratie“. Präsident Roosevelt hatte die „Vier Freiheiten“ verkündet.

Zu (6): Es folgt die Phase der Teilung der Welt, die Schröder mit 1945 ansetzt, verbunden mit dem globalen Machtanspruch der USA. Ein Filmausschnitt „One world“ demonstrierte dieses Einstellungsmuster. Der Aufstieg der UdSSR erscheint als eine Art „Betriebsunfall“. Die Macht der Sowjetunion stützte sich überwiegend auf militärische Macht, die ideologische Propagierung ihres Systems sowie die Planwirtschaft. Gleichzeitig etabliert sich der „amerikanische Westen“, der die Garantie der individuellen Freiheit vorgibt. Europa versuchte sich zwischen West und Ost als „dritte Kraft“ zu etablieren, tatsächlich wurde Westeuropa ein Subsystem der USA.

Zu (7): Das Epochenjahr 1989 steht für ein Sowjetimperium in Agonie. „Wir sind ein Volk“ lautete die Losung in der DDR und „wann bricht schon einmal ein Staat zusammen?“ fragte Schröder ergänzend. Nach dem Zusammenbruch des mittel-osteuropäischen Satellitensystems 1989/90 folgte die Auflösung der UdSSR 1991. Es schien das Zeitalter einer neuen (unipolaren) Weltordnung anzubrechen.

Zu (8): In der achten Phase sieht Schröder die EU mit dem Vertrag von Maastricht (1993) zu einem Imperium heranwachsen. Helmut Kohl bezeichnete den Euro als ein „Gegengewicht zum Dollar“ und die Vorbereitung der „Osterweiterung“ war der Vollzug hin zu einer imperialen Machtbildung.

Zu (9): Das Mächtesystem zu Beginn des 21. Jahrhunderts sieht den Übergang der USA von einem informellen zu einem formellen Imperium, während die EU ein informelles Imperium bildet. Die Russische Föderation sieht Schröder als ein Imperium ohne Zukunft, gekennzeichnet von demographischer Stagnation, rein militärisch basierter Macht mit ökonomischen Ressourcen, die auf Dauer nicht entscheidend seien. China bezeichnete Schröder als ein entmythologisiertes Imperium mit einem Weltwirtschaftskurs der zum Aufstand der Massen führe, die Illusion von einem Imperium. Im Kontext der Dynamik der „zweiten Welt“ sieht Schröder die EU als ein modernes Imperium mit großen Zukunftsperspektiven. Die innergemeinschaftlichen Differenzen würden zwar weiter bestehen (siehe als Beispiel die Ideen einer EU-Ostpartnerschaft von Angela Merkel oder die der Mittelmeerunion von Nicolas Sarkozy), die sich mehr widersprachen als ergänzten. Die Europäische Union bleibe durch die Anziehungskraft des Euro und die Solidarität mit schwächeren Mitgliedern die attraktivste Form einer Imperienbildung im 21. Jahrhundert, die erste moderne supranationale Demokratie.

Zu (10) Die Demokratie steht im Zeichen der Weltwirtschaftskrise zur Diskussion. Die soziale Frage dient als Sprengsatz. Es stellt sich die Frage der Grenzen der freien Marktwirtschaft. Steht die Welt vor einem neuen atlantischen Zeitalter? Schröder warnt vor den Abgesängen der US-Weltmacht. Die USA hätten mehrfach bewiesen, dass sie Krisen überstehen und meistern könnten, wie die Vietnamkrise, aus die die Reagan-Administration das Land herausführte. Schröder sieht ein transatlantisches Doppelimperium als echte Chance für die weltweite Sicherung der Demokratie. Die Doppelrevolution des 18. Jahrhunderts in Frankreich und den USA sei in gewisser Weise vergleichbar mit der doppelten Imperienbildung der EU und der USA, einem informellen und einem formellen Imperium.


Bericht zum Download (pdf)