Das Land Niedersachsen – eine Region im Herzen Europas

Das Land Niedersachsen – eine Region im Herzen Europas

Ministerialdirigent Heinz Davidsohn

Vortrag an der Universität Hildesheim am 11.05.09

Das Land Niedersachsen – eine Region im Herzen Europas

Seit dem 1. September 2000 sammele ich als Abteilungsleiter für Europa und Internationales in der Niedersächsischen Staatskanzlei Erfahrungen im Umgang mit der Europäischen Union. Gern und mit Neugier auf den heutigen Tag bin ich der Einladung von Herrn Prof. Dr. Gehler gefolgt, Ihnen über Niedersachsen als eine Region im Herzen Europas zu berichten. Bitte verstehen Sie meine Ausführungen als persönliche Erkenntnisse und Einschätzungen, die ich in den letzten 9 Jahren gewinnen durfte. Anders ausgedrückt: Ich möchte Ihnen keine „reine Regierungskost“ bieten.

Wenn wir über „Niedersachsen“, „Region“ und „Europa“ sprechen wollen, dann lassen Sie uns bei den Randbedingungen beginnen: Welche Begrifflichkeiten nutzen wir, und welche Akteure sind gemeint?

Region Niedersachsen

Bei Niedersachsen ist dies vergleichsweise einfach. Wir meinen damit eines der 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland, das nach dem 2. Weltkrieg durch den Willen der Besatzungsmächte geschaffen wurde, und die früheren deutschen Länder Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe in sich vereinte.

Bei dem Begriff „Region“ wird es schon schwieriger. Die EU benutzt den Begriff vielfach und für unterschiedliche Räume und Organisationsstrukturen. Schauen wir auf die Karten der Generaldirektion Regional- und Strukturpolitik, dann finden wir unser Land Niedersachsen so begrenzt und dargestellt, wie wir es noch aus der Zeit der früheren 4 Bezirksregierungen kennen.

Bringen wir etwas Farbe in unser Land:

Niedersachsen ist flächenmäßig das zweitgrößte und mit rund 8 Millionen Einwohnern das viertgrößte Land der Bundesrepublik Deutschland.

  • Mit der Region Braunschweig liegt die forschungsintensivste Region Europas in Niedersachsen. Hier beträgt der Anteil an Forschung und Entwicklung über 7% des regionalen Bruttoinlandsprodukts. Die Europäische Union unterstützt die Politik des Landes mit ihren Forschungsprogrammen. Die Hochschulen in Niedersachsen haben sich erfolgreich am 6. Forschungsprogramm beteiligt.

  • Niedersachsen ist ein wichtiger Standort der Energiewirtschaft in Deutschland. Über 94% der deutschen Erdgasförderung und 35% der deutschen Erdölförderung stammen aus Niedersachsen. Das Land steht bei den erneuerbaren Energien – insbesondere bei der Windenergie – deutschlandweit an der Spitze. Gut 25% der gesamten Windenergiekapazität in Deutschland sind hier installiert. Niedersachsen ist auch Biogasland Nr. 1 und erzeugt mit ca. 700 Biogasanlagen jede dritte Kilowattstunde Biogas-Strom in Deutschland. Wir schauen interessiert und neugierig auf die Wünsche der EU zur CO2-Reduzierung, zur Erhöhung des Anteils der regenerativen Energien in der Energieerzeugung und zur Fortsetzung der Verpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll.

  • Die Automobilindustrie prägt Niedersachsen: Die Volkswagen AG als Europas größter Autobauer hat in Niedersachsen weit mehr als 50 Millionen Fahrzeuge gebaut. Eine Grundlage für diesen Erfolg bildet auch das VW-Gesetz, das seit fast 50 Jahren ein faires Machtgleichgewicht zwischen Aktionären, Arbeitnehmern und Staat garantiert. Zulieferbetriebe wie zum Beispiel Continental in Hannover oder Bosch-Blaupunkt in Hildesheim gehören technologisch zur Weltspitze – ebenfalls innovative Antriebstechnologien (Brennstoffzellenantriebe, Hybridmotoren, Erdgasantriebe, Wasserstoffantrieb usw.), die wir aus der technologischen Marktführerschaft in diesem Zukunftsfeld gezielt ausbauen und fördern wollen.

  • Auch die Luft- und Raumfahrtindustrie spielt für Niedersachsen mit seinen Luftfahrtstandorten in Buxtehude, Nordenham, Varel, Lemwerder und insbesondere dem CFK-Valley Stade eine große Rolle. Zudem ist der Forschungsflughafen Braunschweig mit seinen zahlreichen Forschungseinrichtungen und dort angesiedelten Unternehmen ein europaweit einzigartiges Cluster der Verkehrsforschung. Als Anwendungszentrum für das EU-Satellitennavigationssystem „GALILEO“ soll Braunschweig in Deutschland eine führende Rolle übernehmen.

  • Nicht nur der Bau von Fahrzeugen, sondern auch der Bau von Schiffen hat in Niedersachsen eine lange Tradition. Die Meyer-Werft in Papenburg baut seit dem Jahr 1795 erfolgreich Spezialschiffe und hat sich beim Bau von Kreuzfahrtschiffen weltweit einen hervorragenden Ruf erarbeitet. Die niedersächsischen Werften an der Ems, Jade, Weser und Elbe sind im Marineschiffbau Weltmarktführer. Der Nordwesten Niedersachsens ist nach der Hansestadt Hamburg der zweigrößte deutsche Reedereistandort. Mit dem JadeWeserPort – gefördert mit EU-Strukturfondsmitteln – wird Niedersachsen zukünftig über Deutschlands einzigen Tiefwasserhafen für die Containerschiffe der Zukunft verfügen.

  • Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft haben für das Flächenland Niedersachsen eine besondere Bedeutung. Deutsches Schweinefleisch stammt zu rund 1/3 aus Niedersachsen, bei Geflügelfleisch sind es sogar fast 50%. In Niedersachsen wird jedes dritte Ei erzeugt und ca. 1/5 der Milch stammt von niedersächsischen Kühen. Niedersachsen erwirtschaftet damit 1/6 der landwirtschaftlichen Wertschöpfung in Deutschland. Die niedersächsische Agrarpolitik ist eng mit der gemeinsamen Agrarpolitik der EU verknüpft.

  • Niedersachsen ist mit Partnern in Europa, Asien und Afrika international aufgestellt. Die Landesregierung ist Partnerschaften eingegangen mit

Darüber hinaus hat die Landesregierung ihre Zusammenarbeit mit den westlichen Nachbarn auf Arbeitsebene in der Neuen Hanse Interregio und in den Euregios intensiviert. Auf der politischen Leitungsebene kommt es zu kontinuierlichen Kontakten des Herrn MP mit den Kommissaren der Königin aus den angrenzenden Provinzen sowie dem Chef der Zentralregierung in Den Haag.

Europäische Union

Wie steht es mit Europa dem nach Australien zweitkleinsten Kontinent der Erde? Mythologisch einfach – eine phönizische Königstochter, die sich von Zeus – hier als Stier auftretend - nach Kreta ent- und dort verführen lässt. Sprachlich analysiert bedeutet Europa im Altgriechischen soviel wie „die Frau mit weiter Sicht“.

Geografisch lässt sich Europa bis auf die diffuse Grenze am Ural und am Kaukasus einigermaßen gut mit der Begrenzung durch das Mittelmehr und den Atlantik beschreiben.

Politisch und rechtlich verhält sich die Sache schon schwieriger: Die Europäische Union ist nicht – noch nicht – gleichzusetzen mit Europa. Teile Russlands, Teile der Türkei, der Ukraine, Länder des Balkans, Norwegen und die Schweiz fehlen.

Gleichwohl haben wir bei einem Blick auf die Karte eine beachtliche Ansammlung von Mitgliedstaaten vor uns.

Konkret sind es 27 Staaten mit knapp 500 Mio. Einwohnern, 23 Amtssprachen und 286 Regionen. Die Verteilung von Bevölkerung, Wohlstand und Fläche auf die Mitgliedstaaten sind höchst unterschiedlich: Deutschland mit 82 Mio. Einwohnern, Malta mit 410.290 Einwohnern (Stand: 2007) um nur ein Beispiel aus dem bunten Strauß der EU-Mitglieder herauszugreifen.

Die Europäische Union ist ein vielfältiges und sehr unterschiedliches Gebilde – und ich benutze diesen neutralen Begriff deshalb, weil ich zögere zu einer politisch-rechtlichen Definition zu kommen. Was haben wir vor uns: einen Staatenbund? einen Bundesstaat? Letzteres wohl nicht – und über den „Staatenbund“ streiten sich die Juristen. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu im Zusammenhang mit seiner Maastricht-Entscheidung den Begriff „Staatenverbund“ geprägt. Als ich in den Ausschüssen des Bundesrates als Ländervertreter für die Freie und Hansestadt Hamburg und Niedersachsen gearbeitet habe, war die Antwort der Bundesregierung auf eine solche Frage: Es handele sich um eine Gemeinschaft, eine Union und eine supranationale Institution – na dann! An dem Haus Europa wird weiter gebaut – wir werden vielleicht noch erleben, ob es fertig wird, und wie es dann ausschaut.

So unscharf wie die politische Rechtsform so flexibel stellt sich die äußere Begrenzung dar. Zurzeit bilden die 27 Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit auch die äußere Grenze der EU. Allerdings sind die Grenzen wegen der konkreten Beitrittsperspektiven für Kroatien und der potentiellen Perspektive für Mazedonien, Island, die Türkei und weitere Staaten in Ost- und Südeuropa prinzipiell veränderbar.

Dieser Zustand der gewollten Veränderbarkeit war Anfang der 60er Jahre verständlich, denn die EWG der 6 war nicht Europa, was man als Ganzes erreichen wollte; mit jeder Erweiterung: UK, Irland, Süderweiterung, Norderweiterung und vor kurzem die Osterweiterung ist die prinzipielle Unbegrenztheit der EU Ausgangspunkt für die offene Erweiterungsfrage. Jeder europäische Staat kann nach Art. 6 Abs. 1 EGV die Aufnahme beantragen. Als Voraussetzungen muss er die Grundsätze der Freiheit, Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie die Rechtsstaatlichkeit beachten, ohne allerdings damit einen Anspruch auf Beitritt erheben zu können, denn darüber entscheiden der Rat, EU Parlament und alle Mitgliedstaaten einzeln – wie sie es in ihren jeweiligen Verfassungen geregelt haben. Das sind also zahlreiche Akteure, die sich an einem Beitrittskandidaten zu schaffen machen.

Frauen und Männer aus Niedersachsen in/für die EU

Apropos Akteure – in Zeiten der parlamentarischen Demokratie bringt sich Niedersachsen in die EU ein, beeinflusst und entscheidet mit. Wer sind die Akteure? Im Europäischen Parlament, das in knapp einem Monat für 5 Jahre neu gewählt wird, vertreten 785 Abgeordnete die Bürgerinnen und Bürger der Union. 10 Abgeordnete kommen aus Niedersachsen.

Im Ausschuss der Regionen mit 344 Mitgliedern werden nicht bindende Empfehlungen für die Meinungsbildung im Parlament, Rat und Kommission verabschiedet. Niedersachsen ist dort vertreten mit dem Präsidenten des Nds. Landtags, Herr Herrmann Dinkla und Staatssekretär Wolfgang Gibowski. Ihre Stellvertreter sind der Herr Ministerpräsident und der Landtagsabgeordnete Roland Riese.

Unsere Landesvertretung in Brüssel, für uns zur Früherkennung und zum Lobbying bedeutsam, umfasst 19 Mitarbeiter und für die Beratungen im EU-Ministerrat, den für Deutschland die Bundesregierung wahrnimmt, stellt Niedersachsen den Stellvertreter des sog. Länderbeobachters, der die Bundesregierung bei den Verhandlungen im Rat begleiten darf und umgehend danach alle Länderregierungen unterrichtet. Nicht zu vergessen die von der Landesregierung bestimmten Vertreter im Bundesrat und die aus Niedersachsen stammenden Mitglieder im Bundestag. Alle beabsichtigten Regelungen der EU müssen den Deutschen Bundestag durchlaufen und können mit Stellungnahmen versehen werden.

Nachdem wir die Akteure aus Niedersachsen kennen, unsere Region in den geographischen Raum der Europäischen Union eingebracht haben und von den niedersächsischen Akteuren gehört haben, kommt es zur Frage nach dem Motiv oder den Beweggründen für den europäischen Ansatz in der Politik der Nationalstaaten. Was treibt uns dabei an?

Grundlagen der europäischen Einigung

Nach meiner Einschätzung waren und sind die Motive der politischen Führung in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich: Die stärkste gemeinsame Antriebsfeder war sicherlich die traumatische Erinnerung an zwei Weltkriege, die knapp 80 Millionen Menschen in Europa den Tod sowie vielen weiteren Millionen Not und Elend brachten. Sie haben auch der strategischen Bedeutung Europas in der Welt massiv geschadet. Damit sollte nun Schluss sein, europäische Bruderkriege nie wieder!

Nun lassen sich Kriege nur führen, wenn Bereitschaft oder Aggressivität abrufbar und die materielle Basis mit einer entsprechenden wirtschaftlichen Produktion einsetzbar sind. Kriegsbegeisterung nach dem 2. Weltkrieg war für einen Krieg in Europa kaum vorhanden, aber die wirtschaftliche Produktion würde sich in absehbarer Zeit sicher wiederherstellen lassen. Was lag also näher, als in Umwandlung eines US-amerikanischen Slogans über die Notwendigkeit der NATO in Westeuropa: „To keep the Russians out, the U.S. in and the Germans down!“ zu formulieren: Die deutsche Wirtschaft um-, auf und (in europäische Strukturen) einbauen. Damit war der Grundgedanke für die Montanunion sowie die EWG gelegt, die zuerst ja auch nur die engsten Nachbarn umfasste. Adenauer hat dazu einmal sinngemäß gesagt, Eisen und Stahl haben Europa früher getrennt, jetzt führen sie es zusammen. Der Deutschland kontrollierende Aspekt verflüchtigte sich im Laufe der Jahre mehr und mehr. Ganz verflogen sind Misstrauen und Missmut gegenüber den Deutschen bis heute nicht.

Ein weiterer wichtiger Impuls war der sichtbare Erfolg des EWG-Modells mit der Grundlage der sich herausbildenden deutsch-französischen Verständigung, der verbunden mit einer hohen wirtschaftlichen Attraktivität gegenüber anderen europäischen Kooperationsformen (EFTA) eine Perspektive eines europäischen Weges in der sich globalisierenden Welt verhieß. Nicht in den Neutralisierungssog der damals mächtigen Sowjetunion zu geraten, kein atlantischer Vorposten der Vereinigten Staaten zu werden und den eigenen europäischen Interessen zu folgen. „Nichts wirkt da erfolgreicher als der Erfolg.“

Gerade diese Hoffnung entwickelte Nachhaltigkeit und zog frühere Militärdiktaturen wie Portugal, Spanien und Griechenland genauso in den Bann wie geordnete oder wohlhabende Staaten in Nordeuropa: Schweden, Dänemark und Finnland. Vor dem Hintergrund der mit den aufstrebenden Schwellenländern China, Indien und Brasilien multipolar werdenden Welt, der aufkeimenden Furcht vor dem internationalen Terrorismus, der Entgrenzung und Beschleunigung durch die sich dynamisch entwickelnden Fortschritte in der Kommunikation, Naturwissenschaft sowie die global auftretenden Wirtschaftsunternehmen und grenzüberschreitende Umweltprobleme sickerte die Erkenntnis, dass die europäischen Nationalstaaten nicht mehr vollständig grundlegende staatliche Aufgaben würden erfüllen können wie z.B.

  • die innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten,

  • wirtschaftlichen Wohlstand zu entwickeln,

  • den Klimaschutz zu sichern und die soziale Sicherheit zu garantieren.

Künftig sollten Teile der eigenen Souveränität von einer supranationalen Institution gemeinschaftlich wahrgenommen werden.

Als das sowjetische Imperium implodierte, sahen alle europäischen Staaten des früheren Ostblocks ihre eigene Perspektive in einem möglichst schnellen Anschluss an die westlich geprägte Europäische Union. Nie stellte sich für die immerhin 11 früheren Staaten des Comecon – Weißrussland, die Ukraine und Moldawien gar nicht eingerechnet – die Alternative, nach einem eigenen Weg oder einem gemeinsamen osteuropäischen Verbund unter demokratischen Vorzeichen zu suchen. Nüchtern betrachtet lag dies wohl weniger an dem überzeugenden politischen System der Union oder an der Erinnerung an die Schrecken der Weltkriege, die für die Westeuropäer vor 50 Jahren so bewegend waren. Entscheidend war die wirtschaftliche Robustheit, mit der sich die Union darstellte und die erfahrungsgestützt den südeuropäischen Mitgliedstaaten so hilfreich nach ihrem Beitritt bei der Entwicklung unter die Arme gegriffen hatte. Das war für die früheren Comecon-Staaten in Europa sehr eindrucksvoll. Am 06.05. haben sich die EU-Regierungschefs mit den Spitzen der früheren Sowjetrepubliken Weißrussland, Ukraine, Moldawien, Armenien, Aserbeidschan und Georgien getroffen, um die östliche Partnerschaft zu gründen und dafür 600 Mio. € in Aussicht zu stellen. Natürlich verstehen die neuen Partner dies als Vorstufe zur Aufnahme in die EU.

Keine Verfassung

Wenn sich Menschen dazu durchgerungen haben, zusammenleben zu wollen, werden sie, ob kurz oder lang, diesen Zustand ordnen wollen. Nicht anders vollzieht sich die Entwicklung zwischen den Staaten und prägt die europapolitische Diskussion seit Anfang des Jahres 2001 mit den Verhandlungen über die Verträge von Nizza und Lissabon – anders ausgedrückt:

1) Nach welchen Regeln sollen die Staaten in der EU zusammenarbeiten und

2) Wer darf noch in die EU hinein?

Alle damit verbundenen Fragen, Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit, Mitspracherecht des Europäischen Parlaments, Gottesbezug und Kriterien für die Aufnahme von weiteren Mitgliedern laufen in Deutschland durch die Gremien des Bundestages und Bundesrates und damit durch die Kabinette aller Landesregierungen in Deutschland. Vor dem Hintergrund der vielschichtigen Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern ergeben sich insbesondere bei Planungen zur Übertragung von Kompetenzen zur inneren Sicherheit, Strafverfolgung, Bildung, Forschung und Lehre an die EU Verlustängste bei den Ländern.

Nehmen Sie die Verbünde der A- und B-Länder hinzu und denken Sie an die vom Bundesrat für notwendig gehaltene 2/3-Mehrheit des Bundesrates bei den Entscheidungen über die Verträge von Nizza und Lissabon, dann können Sie sich vielleicht vorstellen, welche Stresslagen in den Ländern Deutschlands herrschten, obwohl sie bei den Verhandlungen der Staatschefs gar nicht dabei waren. Zur Realität gehören auch die Berichte von den Teilnehmern an diesen Konferenzen, die behaupten, die Staatsschefs hätten nach stundenlanger Gefeilsche nicht mehr gewusst, was sie beschlossen hatten. 
Also: In Deutschland wurden im parlamentarischen Beratungsverfahren alle notwendigen Mehrheiten bei der Entscheidung über „Nizza“ und „Lissabon“ am Ende erreicht. Offen ist der Ausgang eines von Bundestagsabgeordneten und weiteren Persönlichkeiten angestrengten Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht gegen den Vertrag von Lissabon. Aus diesem Grund hat der Herr Bundespräsident seine Unterschrift unter die Ratifizierungsurkunde noch nicht gesetzt. Zu den Erfolgen und zur Kritik am Vertragswerk gibt es eine Fülle von Hinweisen.

Nun werden Sie vielleicht denken: Ursachen, Ausmaß und Formen der europäischen Integration mit Gottesbezug, Verfassung, Mehrheitsentscheidungen in EU-Institutionen alles gut und schön, was bedeutet das für das Land und für das alltägliche Leben der Menschen?

EU-Regional- und Strukturpolitik

Damit bewegen wir uns auf das Feld der Interessen, die sich als erste pragmatische Definition mit Geld umschreiben lassen: Die EU erwirtschaftet 43% ihres BIP auf nur 14% ihrer Fläche, dem sog. Fünfeck, das durch die Metropolen London, Hamburg, München, Mailand und Paris beschrieben wird. Die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede sind erheblich. London erwirtschaftete pro Kopf ca. dreimal so viel wie der EU-Durchschnitt pro Kopf und in Nordost-Rumänien lag das pro-Kopf-BIP bei nicht einmal einem Viertel dieses Durchschnitts. Unter den Zielsetzungen „Solidarität“, „Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit“ und Förderung/Ausschöpfung der Potenziale stellt die EU von 2007 – 2013 außerhalb des Bereichs Landwirtschaft im Rahmen der Kohäsionspolitik 347,4 Mrd. € bereit. Es ist die bisher größte Gemeinschaftsinvestition in der Geschichte der europäischen Institutionen.

Die Mittel sprudeln aus

  • dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE),

  • dem Kohäsionsfonds und

  • dem Europäischen Sozialfonds.

Die wichtigsten Investitionsbereiche sind:

  • Wissen und Innovation,

  • Verkehr,

  • Umweltschutz,

  • Humanressourcen.

Niedersachsen hat sich seit 2005 frühzeitig auf diese neuen Programme eingestellt. In Regionalveranstaltungen Kommunen, Verbände, Unternehmer, Gewerkschaften und Arbeitgeber beteiligt und auf den Ebenen des Bundes und in Brüssel erfolgreich verhandelt.

Die EU-Mittel 2007 – 2013 verteilen sich für Niedersachsen wie folgt:

EFRE 1.227 Mio Euro

ESF 447 Mio Euro

ELER 815 Mio Euro

EFF 23 Mio Euro

Das ist im Bundesvergleich ein hoher Betrag und für Nds. sind es rd. 900 Mio. Euro mehr als in dem Förderzeitraum 2000-2006.

Hinzuzurechnen sind die Mittel, die die Projektnehmer für die Kofinanzierung von EU-Projekten aufbringen müssen. Die Möglichkeiten, nationale Kofinanzierung auch anteilig mit privaten Mitteln einzubringen und Mehrwertsteueranteile der Projektkosten zu fördern, sind auch auf die erfolgreichen Interventionen der Landesregierung zurückzuführen. Andererseits hat die KOM Flexibilität bewiesen und ist auf dieses Anliegen eingegangen.

Der EFF-Fonds und dessen Verwendung

Mit dem neuen Europäischen Fischereifonds sind Finanzhilfen für die Umsetzung der letzten Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik und zur Unterstützung der im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des Sektors notwendigen Umstrukturierungen vorgesehen. Für Niedersachsen stehen nur 23 MIO Euro zur Verfügung.

Weitere Förderprogramme

Neben den EU-Strukturfonds gibt es noch viele andere EU-Förderprogramme. Ein großer Unterschied zu den Strukturfonds, die von Niedersachsen selbst bewirtschaftet werden, besteht darin, dass die anderen Programme von der Europäischen Kommission direkt verwaltet werden und diese somit über die Projekt- und Mittelbewilligungen entscheidet. Dies gilt z.B. im Bereich der EU-Bildungsprogramme wie etwa Erasmus für die Hochschulbildung und Leonardo da Vinci für die berufliche Bildung oder dieForschungsrahmenprogrammen (FRP) wie aktuell das 7. Forschungsrahmenprogramm. Niedersächsische Hochschulen belegen sowohl bei der Beteiligung als auch bei der EU-Drittmittelakquise im Bundesvergleich jeweils den vierten Platz. 79,1 Mio. € EU-Mittel aus dem 6. FRP wurden von den niedersächsischen Hochschulen eingeworben. Das sind 8,3% der gesamten EU-Mittel, die aus dem 6. FRP nach Deutschland geflossen sind.

Als letztes Förderbeispiel soll die Summe von ca. 9 MIO Euro erwähnt werden, die im Jahr 2008 zur Beseitigung der durch den Kyrill-Sturm verursachten Schäden aus dem Europäischen Solidaritätsfonds nach Niedersachsen geflossen ist.

Geben und Nehmen

Bei diesen schönen Zahlen für Niedersachsen kann man fast ins Schwärmen kommen: Eine Geschichte wie im Märchen mit Frau Holle und den Sterntalern, die über das Land zur Förderung des Guten verteilt werden. Ja für die Empfängerseite ist der warme Geldsegen auch angenehm. Aber zur Wahrheit gehört, dass nur verteilt werden kann, was da ist oder über Schulden lockergemacht wird. Damit komme ich zur Erläuterung dessen, was im EU-Sprachgebrauch mit „Nettozahlern“ umschrieben wird. Die wichtigsten Nettozahler und Nehmerländer habe ich in einem vergleichenden Schaubild dargestellt. Sie sehen im Jahresvergleich eingetretene Veränderungen. Gleichgeblieben ist die Position Deutschlands als größter Nettozahler in absoluten Zahlen. Dies wird nach meiner Einschätzung auf absehbare Zeit so bleiben. Die Einzelbeträge für Deutschland von 2000 bis 2007 haben sich folgendermaßen entwickelt:

Die beachtliche Nettozahlerposition Deutschlands ergibt sich – stark verkürzt – daraus, dass für alle EU-Mitgliedsländer die Regeln, Mittel an die EU abzuführen einheitlich sind. Der Rückfluss der Mittel nach Deutschland gestaltet sich aus zwei Gründen ungünstig.

Im Bereich Landwirtschaft bekommt Deutschland im Vergleich zu Frankreich und anderen relativ weniger und im Bereich des Kohäsionsfonds gar nichts. Kritikern dieses jährlich eintretenden Verlusts für Deutschland zwischen ca. 4 und 8 Mrd. € wird entgegengehalten, kein Land profitierte so von der EU wie Deutschland. Nach meiner Bewertung war das über viele Jahre hinweg sicher bedenkenswert, ob es heute noch richtig ist, bezweifle ich, und als immerwährende zutreffende Feststellung halte ich es für falsch.

Die Nachdenklichkeit über den deutschen Beitrag für die finanzielle Funktionstüchtigkeit der gesamten EU führt uns an den Bereich heran, der das Alltagsgeschäft eines Landes wie Niedersachsen in der EU-Politik ausmacht: Die Fülle von Regelungen, die durch den Binnenmarkt und weitere Harmonisierungsbemühungen der Kommission und des Parlaments ausgelöst werden.

Gleiche Regeln auch für Unterschiedliches?

Als kleinen Ausschnitt mit verallgemeinernden Überschriften der Themen, mit denen wir uns ständig befassen, sei folgende Übersicht präsentiert:

Keine Sorge, mir fehlt die Zeit zu jedem der tausendfachen Details zu berichten, und Ihnen wird die Lust fehlen, dem zuzuhören.

Deshalb nur einige Bemerkungen zu den Themen, zu denen Niedersachsen eine besondere Betroffenheit hat:

1.) Sie werden sich an die Fernsehbilder von verzweifelten Fleischern aus dem westlichen Niedersachsen erinnern, die entlassen worden waren, weil billigere Arbeitskräfte aus Polen und der Slowakei sie ersetzt hatten. Ursachen waren die EU-Richtlinien über Dienstleistungen und Entsendemöglichkeiten. Es hat viel Mühe gekostet, Übergangsfristen einzubauen und die Bedeutung der rechtlichen Regeln des Gastlandes zu verankern. Vertagt ist der Streit in der Dienstleistungsrichtlinie zur Daseinsvorsorge. Dies betrifft die Leistungen der Kommunen von den Krankenhäusern und Verkehrsunternehmern bis zu den Energielieferungen und Umweltaktivitäten. Der Streit ist geeignet, die zentralen Aufgaben der deutschen und österreichischen Kommunalverwaltung in Frage zu stellen.

2.) Eine natürliche Landschaft mit Artenvielfalt ist attraktiv und hat auch einen eigenen Wert. Um was es sich konkret handelt, und was zum Schutz getan werden muss, regeln mittlerweile europäische Richtlinien flächenscharf und artgenau. Dies kollidiert manchmal mit den Wünschen der Wirtschaft und Politik. Problemlösungen selbst bei zentralen Prioritäten des Landes sind nicht einfach. Dies betrifft den Zugang zu den Seehäfen in den Ästuaren, die Infrastrukturmaßnahmen an Land beim Bau des Jade-Weser-Ports und den Gesteinsabbau an vielen Stellen des Landes.

3.) Stahlindustrie und Chemische Industrie schlagen Alarm, weil sie für Emissionszertifikate bezahlen sollen, die ihre Konkurrenten in Asien, Amerika und Russland gar nicht kennen müssen. Ursache waren Vorschläge der Kommission im Zusammenhang mit notwendigen CO2-Reduzierungen zum Klimaschutz. Die Landesregierung hat sich mit Erfolg massiv für eine Öffnungsklausel eingesetzt.

4.) Die Chemische Industrie beklagte Wettbewerbsverzerrungen, weil die EU kostenträchtige Überprüfungen für Stoffe und Materialien im Zusammenhang mti REACH einführen wollte, die die globale Konkurrenz in Asien und Amerika nicht fürchten musste. Es gelang schließlich, eine pragmatische Lösung zu finden.

5.) Als zentral im Herzen Europas gelegenes Land schaut Niedersachsen ständig den Kolleginnen und Kollegen in Brüssel über die Schulter, wenn die Transeuropäischen Netze alle 5 Jahre neu gezeichnet werden. Hier wird Zukunft nach einer Evaluierung 2009/2010 beschrieben. Wir möchten Defizite wie bei der Süd-West-Nord-Ostverbindung (Amsterdam-Hamburg) und Mängel (Berlin-Hannover-Amsterdam) beseitigt sehen.

6.) Trödeln oder Meinungsverschiedenheiten bei der Umsetzung von EU-Regeln in deutsches und niedersächsisches Recht führen zu Vertragsverletzungsverfahren. Folgende Übersicht zeigt die Lange Deutschlands auf diesem Feld im Vergleich zu den anderen Mitgliedstaaten:

Einen Fall möchte ich einzeln darstellen. Es geht um das Vertragsverletzungsverfahren, das die Kommission gegen das VW-Gesetz angestrengt hat. Sie behauptet, dass die 20% Sperrminorität das Land Niedersachsen begünstige und den garantierten freien Kapitalfluss behindere. Bisher haben unsere Gegenargumente

- jeder kann 20% erwerben,

- eine Behinderung des freien Kapitalflusses ist nicht nur falsch, sondern der Handel mit Aktien stellt sich nicht anders dar als bei anderen Großunternehmen auch und

- insbesondere haben die Regelungen im VW-Gesetz dem Unternehmen und Beschäftigten Erfolg und Wohlstand beschert

nicht gefruchtet.

7.) Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise haben die großen Industriestaaten der Welt die EU aber auch ihre nationalen Mitgliedstaaten und die Länder tief getroffen. Alle – selbst das im Weltmaßstab kleine Niedersachsen - haben finanzträchtige Gegenmaßnahmen ergriffen. Bei genauem Hinschauen ergibt sich eine bemerkenswerte Starre der EU-Kommission. Hier war kaum vorsorgendes Handeln erkennbar. Obgleich das EU-Parlament mehrfach vor der Krise dazu aufgefordert hatte, für Finanzdienstleister und ihre Produkte durchschaubarere Regeln zu erlassen, blieb die Kommission untätig. Es handelte schließlich der Rat und stimmte einen sog. Werkzeugkasten ab, aus dem jeder Mitgliedstaat seine Instrumente ziehen konnte. Die Konjunkturprogramme der EU-Mitgliedsstaaten belaufen sich auf 440 Mrd. Euro. Die Kommission hat mit größter Mühe 5 Mrd. Euro für den Energiesektor und die Breitbandverkabelung als eigene Mittel zur Verfügung stellen dürfen. Diese Entwicklung hat drei Dinge klargestellt.

1.) Europa hat dazu gelernt. Es werden nicht wie 1929 die gleichen Fehler gemacht. Der offene Binnenmarkt bleibt erhalten. Protektionismus ist keine Alternative. Dies ist – auch im Weltmaßstab betrachtet – eine große Leistung, die andere – hier denke ich insbesondere an die USA – angespornt hat, ähnlich vorzugehen.

2.) Gehandelt hat der Rat – also die Spitzen der Nationalstaaten – immerhin in einer gemeinschaftlichen Aktion. Die Kommission hat der Entwicklung trotz Rüffel aus dem Parlament lange Zeit nicht die notwendige Beachtung geschenkt.

3.) Über die national aufgebrachten Summen für die Konjunkturpakete und ihre Verwendung wird weitgehend national entschieden, sie wurden nicht der Kommission zur Verteilung gegeben.

Die Zukunft der EU

Wo geht die Reise hin? oder wie Eurokraten es formulieren würden, wie wird die finale Struktur der EU sein?

Meine Antworten dazu sind vielfach:

1.) Das ist ein offener Prozess, und das Ende ist offen.

Eine aktuelle Umfrage von Forsa in Deutschland, Erhebungsdatum 20.04.2009, ergab zu den Fragen:

- Weiterentwicklung zum europäischen Bundesstaat: 18%

- Beibehaltung des Status Quo: 32%

- Rückkehr zur reinen Wirtschaftsgemeinschaft: 34%

- Auflösung der EU: 10%

2.) Es gibt kein Zurück zu den Nationalstaaten des 20. Jahrhunderts. Das liegt nicht an der immer wieder zitierten gegenseitigen Exportabhängigkeit der nationalen Volkswirtschaften - die war zu Zeiten des 2. deutschen Kaiserreichs fast gleich – sondern an den die Staatsgrenzen überwindenden, zusammengewachsenen großen Unternehmen, den praktizierten gemeinsamen europäischen Regeln, der Erfahrung einer erfolgreichen Kooperation, der Solidarität und dem gewandelten Bewusstsein.

3.) Aufmerksamkeit ist geboten vor der umsichgreifenden Erkenntnis und Furcht vor der Ohnmacht der vermeintlich Mächtigen. Der Klimawandel ist kaum zu stoppen. Die Rohstoffkrise mit ihren warnenden Rauchsäulen explodierender Preise ängstigt. Die gestiegenen Nahrungsmittelpreise sind von Millionen Menschen in den Entwicklungsländern nicht zu bezahlen und von der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise wissen wir nicht, ob wir erst am Ende des Anfangs stehen oder uns bereits über das berühmte Licht am Ende des Tunnels freuen dürfen. Sollten die zentralen Instanzen der EU auch weiterhin hier keine überzeugende Rolle spielen, entfällt eine der tragenden Begründungen, warum wir uns eine supranationale Institution wie die der Kommission überhaupt leisten sollen.

4.) Feinsinnige Beobachter – wie Dr. Cornelius Adebahr – haben im jüngsten Mai-Heft der Deutschen Gesellschaft für Internationale Politik darauf hingewiesen, dass bis 1991 die EU-Gipfel auf einer Welle der gewollten Integration entscheiden konnten – seit 2001 nicht mehr, sondern seither wegen erkannter Notwendigkeit. Dies klingt erst einmal nach mehr Rationalität, schließt aber einen „Pferdefuß“, nämlich den Mangel an emotionaler Zuwendung ein. Dieser Mangel ist eklatant. Brüssel wurde und wird nicht geliebt, und wenn Volksabstimmungen durchgeführt werden, gehen sie für Brüssel verloren. Dagegen fühlen sich laut Eurobarometer 91% mit ihrer Nation verbunden, 87% sind es immerhin noch bei ihrer Region. Mit der EU fühlen sich dagegen 49% verbunden.

5.) Da helfen kein Leugnen und kein Beleidigtsein, sondern nur gemeinsames Handeln mit dem Ziel und Hintersinn, die Einsicht in ein gemeinsames Europa – wie es auch immer verfasst sein mag – zu stärken. Dies kann gelingen über Maßnahmen, die für jeden erkennbar nur europäisch Sinn machen. Einige haben wir erfolgreich hinter uns gebracht. Den Euro, den Airbus, aber weitere müssen folgen:

- GALILEO,

- europäische Verkehrsverbünde und Verkehrswege auf Straßen, Schienen und Kanälen – an die Transeuropäischen Netze sei erinnert –,

- Verstärkung von EUROPOL und EUROJUST bei grenzüberschreitender Schwerkriminalität,

- europäische Verteidigung,

- europäische Forschungszentren,

- europäischer Klimaschutz.

Wir Deutschen haben unsere Erfahrungen mit der Überwindung der Zersplitterung im 19. Jahrhundert gemacht. Allein aus dem Zollverein hätte es die Gründung eines Nationalstaates nicht gegeben – und das waren damals alles Deutsche mit einer gemeinsamen Kultur und Geschichte.

Es müssen Handlungsschemata auf Europäischer Ebene aufgegriffen werden, bei denen gleich klar ist, dass ein Mitgliedstaat oder eine nationale Volkswirtschaft allein auf dieser Ebene aus fachlichen und finanziellen Gründen versagen müsste. Dabei ist es nicht notwendig, dass es „Kommissionsprojekte“ sind. Ein auf dem Weltmarkt erfolgreicher Transrapid oder ein europäischer Lkw sind ebenso geeignet. Ohne Zustimmung der Menschen wird Europa nicht zustande kommen, und ohne dass sie Europa wahrnehmen auch nicht.

6.) Harmonisierungsbemühungen sollte die Kommission nicht mehr die hohe Priorität schenken. Regionale und nationale Besonderheiten sind nicht nur liebenswert, sie sind auch wertvoll. Gleichmacherei ist für das bunte und vielfältige Europa ein Gräuel. Viele werden dem zustimmen, gleichwohl geht der Trend weiter und paart sich mit einem risikoreichen Verständnis von Mehrheiten. Ein Beispiel: Die europäische Chemische Industrie hat noch namhafte Standorte in 3 Ländern: Deutschland, Frankreich und Italien.

Gerät die Chemische Industrie in die Regelungsmechanik der EU, ergeben sich sofort zwei Lager mit unterschiedlichen Argumentationen. Das eine, das auf den Erhalt einer der letzten geschlossenen industriellen Fertigungsketten (Forschung, Planung, Produktion, Vertrieb) in Europa verweist, und das andere Lager, das Mensch und Umwelt vor Giften schützen will. Das letztere weiß die Mehrheit der Staaten und Bevölkerung hinter sich. Allen sollte die Bedeutung von Gesundheit und Umwelt klar sein, nur darf es nicht dahin kommen, dass sich der wirtschaftliche Wohlstand in andere Kontinente verlagert, worüber sich Amerikaner und Chinesen mit niedrigeren Umweltstandards freuen dürfen, wir in Europa dafür eine saubere Umwelt haben, aber global betrachtet Umwelt und Gesundheit zu den Verlierern zählen.

Ohne eine stärkere Industriepolitik in Europa werden wir dem Konkurrenzdruck speziell aus Asien nicht standhalten.

7.) Europa „als Frau mit Weitsicht“ wird einsehen, dass die Menschen nicht noch eine zusätzliche Regierung wollen. Wir haben in Hannover die Stadt, die Region, das Land, den Bund und die EU, also fünf Institutionen mit jeweils eigener Wahl eigener demokratischer Legitimation mit überlappenden Verantwortlichkeiten. Manchmal bedeutet Demokratie nicht unbedingt häufig wählen dürfen, sondern dort mitbestimmen, wo klare Verantwortlichkeiten gegeben sind. Dr. Wolfram Eilenberger, Korrespondent des Magazins Cicero, meint, dass es niemals in der Geschichte 500 Millionen Menschen besser gegangen sei als den Europäern zur Zeit in der EU, und er wagt die Prognose: Europa wird weiterhin der Kontinent des relativen Optimismus sein, die besten aller möglichen Zukunftswelten. Gelegen ist es in einem mit hohen Mauern umgebenen Garten, dessen Früchte ein bekömmliches Auskommen garantieren.

Es ist der Garten des Candides von Voltaire, in den sich die Romangestalt des abenteuerlustigen Helden zurückgezogen hat. Wenn Schreckensmeldungen aus aller Welt durch die Mauern dringen, sagt der alt und weise gewordene Candides: „Cela est bien dit, mais il faut cultiver notre jardin.“

Den eigenen Garten pflegen, ihn innovativ kultivieren, darin liegt Europas Zukunft – hinter Mauern!

8.) Die Debatte über die finale Struktur der EU ist ein Lieblingskind der Deutschen und insbesondere der deutschten Juraprofessoren, die den nach 60 Jahren verstaubten Föderalismus in ganz Europa verbreiten wollen. Gelassenheit, Zurückhaltung, Freundlichkeit und Geduld sind die Tugenden, mit denen das Haus Europa gebaut wird. Wenn es keine europäische Regierung beheimatet, ist das auch nicht schlimm – Europa wird auch weiterhin ohne eine eigene Regierung gut vorankommen, weil es eben die Frau mit Weitsicht ist.

Adenauer hat dazu einmal gesagt – und dies soll der prophetische Schlusssatz sein:

Die Einheit Europas war ein Traum Weniger, sie wurde eine Hoffnung für Viele.

Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.