Abgadza statt Jay-Z: Musikarchive in Westafrika

Thursday, 15. November 2012 um 08:40 Uhr

Nachwuchswissenschaftler aus Maiduguri und Cape Coast dokumentieren in Ton- und Filmarchiven die heutige musikalische Praxis in Westafrika. Als einzige Forschungsinstitution aus Deutschland ist das Center for World Music der Universität Hildesheim am dreijährigen Forschungsprojekt beteiligt – und greift auf Digitalisierungserfahrung in Sierra Leone, Malawi und der koptischen Kirche in Ägypten zurück. Von den politischen Unruhen in Nigeria bleibt die musikethnologische Forschung nicht unberührt. Derzeit sind junge Forscher aus Westafrika vor Ort in Hildesheim.

Zwölf junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ghana und Nigeria erforschen Musikgenres in Westafrika und ihre Bedeutung für die Identität von Menschen. Einer von ihnen ist Eric Debrah Otchere. Der 28-Jährige dokumentiert Lieder und Singspiele von Kindern, die er in Grundschulen in Cape Coast mit Mikrofon und Videokamera aufgenommen hat. In seiner Doktorarbeit will er herausfinden, wie Musik mit der Gemütslage von Menschen zusammenhängt. Dazu hat er ghanaische Studenten zu ihren musikalischen Vorlieben befragt.

Andere untersuchen Musik- und Tanzrituale bei Beerdigungen, die Vermischung von Tradition und Moderne bei regionalen und nationalen Kultur-Festivals, oder den wachsenden Einfluss evangelikaler Pfingstkirchen auf populäre Musik. Damit dokumentieren sie gegenwärtige musikalische Praxis in Westafrika.

Außerdem interessiert die jungen Wissenschaftler, was die Bevölkerung über Musik denkt. Erstaunlich ist: Während auch in Westafrika die Medien an Einfluss gewinnen und sich Gesellschaft und Musikkultur stark wandeln, ist die Stellung lokaler Musikstile ungebrochen hoch. Vielleicht haben lokale Identitäten in der Auseinandersetzung mit der Globalisierung sogar an Bedeutung gewonnen.

Das dreijährige Forschungsprojekt „Formation und Transformation von Musikarchiven in Westafrika“ endet 2012 und wird mit 410.000 Euro von der Volkswagenstiftung gefördert. Beteiligt sind die Universität Cape Coast in Ghana, die Universität Maiduguri in Nigeria und als einzige deutsche Institution das Center for World Music (CWM) der Universität Hildesheim.

„Wir haben es in Ghana und Nigeria mit einer unglaublichen Vielfalt unterschiedlicher Musiken zu tun. Dabei spielen vor allem das Internet, Radio, Fernsehen und die neuen digitalen Formate wie MP3 eine große Rolle. Auf dem Handy kann heute praktisch jeder sein privates Musikarchiv mit sich herumtragen“, sagt Prof. Dr. Raimund Vogels, Direktor des Center for World Music. „Es sind nicht in erster Linie Michael Jackson, Dolly Parton, oder Jay-Z, deren Musik natürlich verfügbar ist, sondern gerade lokale Genres wie ‚abgadza‘, ‚borborbor“ oder ‚tsinza‘-Musik, die wir als MP3 auf dem Handy von Leuten wiederfinden.“

Das dokumentierte Material wurde aufbereitet und ist für die Forschung zugänglich. Neben der Publikation der Ergebnisse geht es nun um die Vernetzung der Musikarchive an den drei Standorten. Das Musikarchiv in Maiduguri besteht bereits seit den 80er Jahren, das Material ist aber in großen Teilen noch nicht digitalisiert. In Cape Coast wird durch das Projekt nun ein audiovisuelles Archiv aufgebaut, der Fokus liegt auf aktueller ghanaischer Popularmusik. Bei der mittel- und langfristigen Datensicherung – eines der größten Probleme für die afrikanischen Partner – kommt dem Center for World Music eine Schlüsselrolle zu.

Von den politischen Unruhen in Nigeria bleibt die musikethnologische Forschung nicht unberührt. Vier Doktoranden aus Nigeria und Ghana sind bis Ende November in Hildesheim. „Der dreimonatige Forschungsaufenthalt ist für uns ein großes Glück, da seit 2011 die akademische Arbeit im Nordosten Nigerias immer schwieriger geworden ist. Zwar handelt es sich bei den Unruhen der vergangenen Monate insgesamt um punktuelle Vorkommnisse. Aber die Menschen müssen stets mit der sehr realen Gefahr eines möglichen terroristischen Anschlags leben. Und zuletzt sind Universitäten in das Visier der Extremisten gerückt, was uns sehr beunruhigt“, erklärt ein Doktorand aus Maiduguri. „Wir freuen uns, dass die Hildesheimer Bürger uns so herzlich aufnehmen. Eine Vermieterin stellt uns sogar eine Drei-Zimmer-Wohnung zur Verfügung.“

Center for World Music – Sammeln, forschen und vermitteln

Das Center for World Music, eine 2009 gegründete musikethnologische Forschungseinrichtung der Stiftung Universität Hildesheim, zählt über 5000 Musikinstrumente aus aller Welt, rund 50.000 Tonträger und mehr als 10.000 Bücher zur Musikethnologie. Regionale Forschungsschwerpunkte sind Westafrika, Zentralasien und Nordeuropa.

Neben der musikethnologischen Forschung, der Erschließung und Erweiterung der Sammlungen und interkultureller Musikvermittlung ist das CWM mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes in die Sicherung und Katalogisierung von Musikarchiven im Ausland involviert. Bisherige Projekte widmeten sich Sammlungen aus Sierra Leone, Malawi, Ghana und der koptischen Kirche in Ägypten. In Vorbereitung sind Projekte im Iran und in Tadschikistan.

Im Juni 2015 findet eine gemeinsame Konferenz „Memory, Power, and Knowledge in African Music and Beyond'" an der University of Cape Coast in Ghana statt, auf der die jungen Forscher ihre Ergebnisse vorstellen.

Medienkontakt: Uni Hildesheim, Isa Lange (presse@uni-hildesheim.de, 0177.8605905)


Eric Debrah Otchere dokumentiert Lieder und Singspiele von Kindern, die er in Grundschulen in Cape Coast mit Mikrofon und Videokamera aufgenommen hat. Das Center for World Music der Uni Hildesheim  ist als einziges deutsches Forschungszentrum am Aufbau der Musikarchive in Westafrika beteiligt. Foto: Johannes Kühner für VolkswagenStiftung

Eric Debrah Otchere dokumentiert Lieder und Singspiele von Kindern, die er in Grundschulen in Cape Coast mit Mikrofon und Videokamera aufgenommen hat. Das Center for World Music der Uni Hildesheim ist als einziges deutsches Forschungszentrum am Aufbau der Musikarchive in Westafrika beteiligt. Foto: Johannes Kühner für VolkswagenStiftung