Keynotes

Professor Dr. Michael Corsten

Stiftung Universität Hildesheim, Institut für Sozialwissenschaften

Dr. Michael Corsten ist Professor für Soziologie an der Stiftung Universität Hildesheim. Seine aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind die Lebenslauf- und Generationsforschung, Ansätze der Wissenssoziologie und Theorien sozialer Praxis sowie die interpretative Methoden der empirischen Sozialforschung, hier auch besonders der Qualitativen Videoanalyse.

Moritz, Christine/Corsten, Michael (Hg.) Handbuch Qualitative Videoanalyse. Wiesbaden: VS Springer. 2018. Darin: Corsten, Michael (2018) Videoanalyse – Quo vadis, S. 799-817

Kurzzusammenfassung des Vortrags

„Vor die Therapie hat der liebe Gott die Diagnose gesetzt…“

Zum Professionalitäts- und Wissenschaftsverständnis von Videoanalysen zur Bildungspraxis

Das Interesse der Bildungsinstitutionen, insbesondere des Schulwesens an Videoaufzeichnungen von Bildungsprozessen, hier wieder vor allem des Unterrichts, reicht weit zurück. Anfänge dazu lassen sich schon in den 1960er Jahren finden. Aber was wollen oder sollen die Bildungswissenschaften und die Bildungspraxis mit einem derartigen „Taping the World“ (Harvey Sacks) anfangen?

Nach meinem bisherigen (oberflächlichem) Eindruck geschieht meist etwa Folgendes: Anhand von Videoaufzeichnungen wird etwas beobachtet, beschrieben und reflektiert. Mit reflektieren ist oft stillschweigend mehr gemeint, z.B. bewerten oder Rückschlüsse für die Praxis ziehen. Das ist nicht immer unproblematisch.

Dazu zwei Gedankenspiele: Stellen Sie sich erstens vor, wir hätten zum Arbeitsverhalten von Kfz-Mechanikern eine ähnlich umfangreiche Videodokumentation und würden sie in der Ausbildung dieser Berufsgruppe einsetzen. Weshalb aber haben wir dies nicht und tun wir dies nicht, obwohl es dort doch auch zur beruflichen Professionalisierung beitragen könnte? Zweitens finden wir in einer anderen Profession einen Satz, der in dem Zusammenhang auch zu denken geben könnte: „Vor die Therapie hat der liebe Gott die Diagnose gesetzt“ – so heißt es bei den ‚Halbgöttern in weiß’.

Es lässt sich also der Überlegung nachgehen, dass es in einem technikwissenschaftlichen Feld (Automobilismus) oder in einem humanwissenschaftlichen Feld (Medizin) nicht nötig ist, Diagnosen anhand von (beruflichen) Verhaltensaufzeichnungen zu gewinnen. Aber zu welcher Art von Diagnosen führen eigentlich Videos von Bildungspraktiken? Sind es überhaupt Diagnosen im eigentlichen Sinn? Könnten die ‚Video-Diagnosen’ von Bildung durch eine stärkere wissenschaftsanalytische, nomothetische Fundierung gewinnen? Welchen Sinn macht demgegenüber die idiographische Beschreibung einzelner Fälle von Videoaufzeichnungen? An welches Verhältnis von Diagnose und Therapie, Methode und Empirie sowie von Theorie und Praxis wird dabei gedacht?

 

Professor Dr. Christof Wecker

Stiftung Universität Hildesheim, Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Angewandte Erziehungswissenschaft

Christof Wecker ist Professor für Empirische Unterrichtsforschung an der Universität Hildesheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unterrichtsmethodische Handlungsformen, fächerübergreifende Kompetenzen und evidenzbasierte Praxis. Im DFG-Projekt „Förderung von Kompetenzen der Diagnose des wissenschaftlichen Denkens und Argumentierens“ im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „Förderung von Diagnosekompetenzen in simulationsbasierten Lernumgebungen in der Hochschule“ (COSIMA) befasst er sich mit dem Einsatz von Unterrichtsvideosimulationen zur Förderung des Erwerbs professioneller Kompetenzen bei zukünftigen Lehrkräften.

Kurzzusammenfassung des Vortrags

Simulationsbasiertes Lernen mit Videos in der Lehrkräftebildung

In diesem Vortrag wird der Einsatz von Unterrichtsvideos im Hinblick auf den Erwerb von Unterrichtskompetenzen betrachtet. Ausgehend vom einschlägigen Forschungsstand werden Unterrichtsvideosimulationen als Ansatz für das Training derartiger Kompetenzen vorgestellt. Eine Simulation bildet einen Realitätsausschnitt ab, ermöglicht Eingriffe durch die Nutzerinnen und Nutzer und hängt in ihrem weiteren Verlauf von deren Entscheidungen und Verhalten ab. Simulationsbasiertes Lernen eignet sich daher als Gelenkstück zwischen dem Erwerb deklarativen Wissens über wissenschaftliche Erkenntnisse, der in universitären Lehrveranstaltungen im Vordergrund steht, und deren Anwendung und Übung in der Praxis, wie sie durch Praxisphasen ermöglicht werden sollen. Es wird eine Plattform für videobasierte Simulationen zur Förderung von Kompetenzen der Diagnose von Fähigkeiten im wissenschaftlichen Denken im Physik- und Biologieunterricht vorgestellt, die im Projekt „Förderung von Kompetenzen der Diagnose des wissenschaftlichen Denkens und Argumentierens“ im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „Förderung von Diagnosekompetenzen in simulationsbasierten Lernumgebungen in der Hochschule“ (COSIMA) entwickelt und eingesetzt wird. Auf dieser Plattform können Lehramtsstudierende Schülerinnen und Schüler beim Experimentieren beobachten und durch die Auswahl von geeigneten Fragen weitere diagnostisch relevante Informationen zu deren Fähigkeiten im wissenschaftlichen Denken sammeln. Im Vortrag wird insbesondere auf Arbeiten zur Validierung des simulierten Diagnosesettings eingegangen.