In der Arbeitswelt zurechtkommen

Sonntag, 22. Februar 2015 um 11:23 Uhr

Wer arbeitet nachts? Das kriegt man gar nicht mit, sagen Theaterstudierende der Universität Hildesheim. Künste können auf eine sinnliche Art sichtbar machen – anders als Statistiken. Über Arbeit und Privatleben und das europäische Festival transeuropa sprach Isa Lange mit Birgit Schachner und Marten Flegel. Gemeinsam mit 50 Studierenden laden sie Ende Mai Künstlerinnen und Künstler aus Europa ein, die sich mit der Frage befassen: Wie wollen wir arbeiten?

Ihr seid mitten bei der Arbeit. Womit beschäftigt ihr euch gerade?

Marten Flegel: Wir sind selbst auf dem Weg zur Professionalisierung. Wenn ich mir den Kulturbetrieb anschaue, stelle ich mir die Frage: Will ich so arbeiten, wie das derzeit abläuft? Ungesichert, befristet.

Birgit Schachner: Etwa im Theater, man kann sich fest an eine Institution binden oder flexibel arbeiten. Beides birgt Vorteile und Schwierigkeiten. In der freien Arbeit tauchen Fragen auf wie: Was bedeutet das, sich von einem Projektantrag zum nächsten zu hangeln und nie zu wissen, was mache ich in fünf Monaten? Was macht diese Unabhängigkeit aber auch möglich?

Warum befasst sich transeuropa mit Arbeitswelten? Was mache ich, wo gehe ich hin, was wird aus mir – diese Fragen gehören zu eurem Alltag?

Marten: Wir fragen: Wie wollen wir arbeiten, wie kann Arbeit organisiert werden? Entstanden ist der Schwerpunkt des diesjährigen Theater- und Performancefestivals aus sehr persönlichen Fragen. Wir diskutieren mit künstlerischen Mitteln – im Raum, mit Worten, in Bildern – welche Gesellschaft vorstellbar ist, die Arbeit und Leben trennt oder nicht.

Könnt ihr ein Beispiel nennen?

Birgit: Im Kulturbetrieb fällt auf: Private Freundschaften werden total verflochten mit dem Arbeitsleben, gerade wenn man frei im Theaterbereich arbeitet, ist das oft identisch. Sollte man das trennen, ist das angenehm, wann arbeitet man, wann beginnt Freizeit?

Wie organisiert ihr das Festival?

Marten: Wir bereiten uns seit zwei Jahren – aktuell in einer Lehrveranstaltung mit 50 Studierenden – darauf vor, mussten im neunköpfigen Kernteam erst einmal eine Gruppe werden und haben Festivals in Kopenhagen und Zagreb besucht. Wir stellen die komplette Infrastruktur her und haben Anträge gestellt, um Fördergelder zu bekommen – das Ministerium für Wissenschaft und Kultur, die Stiftung Niedersachsen und die NORD/LB Kultur Stiftung unterstützen uns zum Beispiel.

Birgit: Wir haben nicht nur klassische Räume, die Kulturfabrik, das Theaterhaus. Die „Nachtschicht“ spielt sich an verschiedenen Orten in Hildesheim ab, die Besucher suchen nachts Arbeitsorte auf…

…manche arbeiten nachts – ob Krankenpfleger, Ärztin, Taxifahrer, Polizist, Journalistin.

Marten: Wir überlegen, wer arbeitet nachts – in der Produktionshalle, in der Frühschicht der Bäckerei? Und wer arbeitet nachts nicht mehr, welche Räume stehen also leer? Was kann zum Beispiel in einem leeren Großraumbüro passieren, wenn nachts niemand mehr da ist? Wir suchen gerade Zugang zu diesen Räumen, das Großraumbüro, der Taxifahrer, bei dem man in unserem Festival mit einsteigen kann.

Was sollen Besucher bei transeuropa erleben?

Marten: Sie begegnen Theatergruppen aus verschiedenen Ländern Europas – wir haben uns gegen Schwerpunktländer entschieden, laden unsere Gäste nicht als Repräsentanten bestimmter Nationalitäten ein. Das Künstlerinnenduo Sööt/Zeyringer aus Estland und Österreich produziert während einer Residenz für mehrere Wochen in Hildesheim.

Birgit: Auf dem Programm stehen auch Konzerte, Projekte mit Menschen, die noch nicht oder nicht mehr arbeiten, mit Kindern und Senioren und Seniorinnen. Für einen zweitägigen „Kongress“ entwickeln wir gerade Formate, wie wir als Festivalgemeinschaft Wissen und Erfahrungen zu unserer Leitfrage austauschen können.

Was heißt das, wenn man keine Arbeit hat, wie beeinflusst das eine Familie? Ich erinnere mich an Gespräche mit spanischen Studentinnen: Die Schwester sucht Arbeit in London, die Jüngste studiert in Hildesheim – die Eltern sind ohne Arbeit in Spanien. Das ist ja eine schwierige Lage, wenn die Kinder weggehen, wenn Hundertausende junge Leute ihre Heimatländer verlassen. Wie können die Künste auf Gesellschaft, auf Arbeit blicken – anders als Finanzexperten oder Wirtschaftsweisen?

Birgit: Künste können Möglichkeiten und Gegenentwürfe aufzeigen.

Marten: Künste können die Augen öffnen und sichtbar machen, was sonst unsichtbar ist – etwa wie in unserer „Nachtschicht“ zeigen: Welche Arbeiten werden nachts verrichtet? Das kriegt man sonst gar nicht mit. Was passiert hinter den Kulissen einer Firma, in die ich sonst keinen Zutritt habe. Auf eine sinnliche Art und Weise können Künste sichtbar machen – anders als Statistiken.

Die Fragen stellte Isa Lange.

In Hildesheim entwickeln Sööt/Zeyringer während einer Künstlerresidenz eine neue Arbeit. Foto: Laura Põld.

Wie wollen wir arbeiten? Das Festival transeuropa im Überblick

Alle drei Jahre wird die Stadt zu einer Bühne: transeuropa ist das europäische Festival für performative Künste und findet vom 27. Mai bis 1. Juni 2015 zum 8. Mal in Hildesheim statt. Etwa 40 Künstlerinnen und Künstler untersuchen in Gastspielen, Eigenproduktionen und partizipativen Projekten während der Festival-Woche, wie, warum und unter welchen Bedingungen Menschen heute arbeiten. Sie entwerfen am Beispiel der performativen Künste alternative Modelle des Arbeitens und zeigen, welche Vorstellungen und Ansprüche junge Künstler an zukünftiges Arbeiten haben.

Sie äußern auch Selbstkritik: Künstler sind es, die zu flexiblen und eigenverantwortlichen Arbeitsformen inspirieren. Ein Kongress bietet Raum für Austausch. In der „Arbeitsresidenz“ leben Künstler aus anderen Ländern bis zu fünf Wochen in Hildesheim, beobachten Arbeitsweisen und produzieren eine neue künstlerische Arbeit. Eine Aufführung, die besonderen Wert auf Musik und Sound legt entsteht in der „Soundresidenz“. Wem das alles nicht genügt, der darf selbst zum Kunstwerk werden: Erwachsene können für Kinder Modell stehen, sie porträtieren die Erwachsenen, es geht um Hierarchieverhältnisse und den Wert der Arbeit.

transeuropa besteht seit 1994 und fördert den Nachwuchs in den performativen Künsten. Ein Team aus Studierenden des Fachbereichs Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation der Universität Hildesheim realisiert das Festival. Die Studierenden vertraten die Bundesrepublik Deutschland mit dem Thema „Gemeinschaften“ in der Endrunde des Europäischen Jugendkarlspreises.


Begegnungen organisieren: Studierende schaffen mit dem Festival Raum für Diskurse. Foto: Henning Schlüter, 2012

Zur Person

Birgit Schachner, 24, kommt aus Graz, wo sie Germanistik und Anglistik studiert hat, und studiert an der Universität Hildesheim „Inszenierung der Künste und der Medien“ mit dem Schwerpunkt Theater. Sie ist im transeuropa-Team für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig.

Marten Flegel, 23, kommt aus Jena und studiert auch „Inszenierung der Künste und der Medien“ mit dem Hauptfach Theater in Hildesheim, seit zwei Jahren bei transeuropa dabei.


Theaterstudierende blicken auf Arbeit: sinnlich, statt statistisch. Künste können sichtbar machen, was sonst unsichtbar ist, sagen Marten Flegel und Birgit Schachner von der Universität Hildesheim. In das studentische Festival „transeuropa" binden sie auch Menschen ein, die noch nicht oder nicht mehr arbeiten, darunter Kinder und Senioren. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim

Theaterstudierende blicken auf Arbeit: sinnlich, statt statistisch. Künste können sichtbar machen, was sonst unsichtbar ist, sagen Marten Flegel und Birgit Schachner von der Universität Hildesheim. In das studentische Festival „transeuropa" binden sie auch Menschen ein, die noch nicht oder nicht mehr arbeiten, darunter Kinder und Senioren. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim

Theaterstudierende blicken auf Arbeit: sinnlich, statt statistisch. Künste können sichtbar machen, was sonst unsichtbar ist, sagen Marten Flegel und Birgit Schachner von der Universität Hildesheim. In das studentische Festival „transeuropa" binden sie auch Menschen ein, die noch nicht oder nicht mehr arbeiten, darunter Kinder und Senioren. Foto: Isa Lange/Uni Hildesheim