Weichen stellen: Entscheidungsstress

Monday, 14. July 2014 um 08:40 Uhr

Loslassen oder auf Nummer sicher gehen? Viele Eltern haben in den letzten Wochen ihre Kinder bei der Studienwahl unterstützt. Das spüren auch Studienberater in ihrem Arbeitsalltag an der Universität. Eine Entscheidung abnehmen, sollten Eltern nicht, sagt Studienberater Martin Scholz im Interview. Unsicherheit bei der ersten Entscheidung, wo es persönlich und beruflich hingehen soll, ist ganz normal. Es gibt ein großes „Drücken und Drängen" von außen, etwa durch Entwicklungen wie kürzere Schulzeit und Anforderungen von Eltern.

Herr Scholz, setzen sich eigentlich viele Jugendliche erst kurz vor dem Stichtag – der Bewerbungsfrist am 15. Juli – mit der Studien- und Berufswahl auseinander? Was erleben Sie im Beratungsalltag?

Der überwiegende Teil der Studieninteressierten befasst sich ab dem Frühjahr konkreter mit der Studienwahl. Viele sind zwar fest entschlossen, dass sie studieren wollen und oft steht auch die grobe Richtung fest, aber welchen konkreten Studiengang sie wählen, entscheiden sie häufig erst zum Zeitpunkt der Bewerbung. Das führt bei einigen zu Entscheidungsstress. Wir wünschen uns eine frühzeitige und profunde Beschäftigung mit diesen weichenstellenden Entscheidungen – gleichwohl ist es verständlich, dass bei Schülerinnen und Schülern im letzten Schuljahr die Zeit von Klausuren und dem Abitur dominiert ist. Umso schwieriger ist es für alle Beteiligten, wenn sich diese Zeit dann bis weit in die Bewerbungsphase hinein ausdehnt, wie in diesem Jahr hier in Niedersachsen.

Kommt es häufiger vor, dass Eltern in den Beratungsprozess „reinreden", in der Studienberatung anrufen? Und was raten Sie – eher loslassen, eher reingrätschen und auf Nummer sicher gehen?

Eltern sollten ihre Kinder stärken und unterstützen, ohne sie dabei zu dominieren. Die angehenden Studierenden müssen die Entscheidung selbst treffen, sicher sind sie dankbar für „mentale“ Begleitung, aber eben nicht für übertragene „elternrelvante" Entscheidungskriterien. Gespräche mit Studieninteressierten wie Eltern im Beratungsalltag zeigen: Bei ihnen besteht mindestens der Wunsch, dass die Studienentscheidung auch in der Familie harmonisch aufgenommen wird und Unterstützung findet. Die Unsicherheit bei der ersten autonomen Bildungsentscheidung ist ganz normal. Unterstützung ist daher gut und notwendig, aber bitte keine Entscheidung abnehmen, das führt selten zum Erfolg.

Sie haben gemeinsam mit Studierenden das Anker-Peers-Programm aufgebaut. Die für die Beratung geschulten Studierenden gehen in Jugendzentren, Schulen und Stadtteile, um über den Uni-Alltag zu berichten (erste Bilanz). Dabei wollen sie auch Schüler erreichen, die als erste in ihrer Familie den Weg zur Universität einschlagen. Wie sind da die Erfahrungen, erreichen Sie Jugendliche zu einem Zeitpunkt, zu dem die Studien- und Berufswahl noch stattfinden kann?

Ja, unbedingt, dies ist ja gerade der Kern unseres Angebotes. Die Anker-Peers erreichen junge Menschen in der Zeit deutlich vor der Studienentscheidung. Sie stellen einen ersten sehr niederschwelligen Kontakt her und wollen potentielle Ratsuchende an die Universität mit all ihren beratenden und unterstützenden Institutionen heranführen, die von außen nicht immer eindeutig sichtbar sind. Dazu haben wir Studierende höherer Semester in beratungsrelevanten Kompetenzen geschult und einen theaterpädagogischen Workshop entwickelt. Im Workshop kommen sie in lockerer Atmosphäre mit den jungen Leuten ins Gespräch, etwa über die Motivation zum Studium. Dabei sprechen sie alle Studieninteressierten an, also auch diejenigen, die bislang nicht auf dem Weg zum Abitur waren oder für die das Studium nie eine Option war, ganz gleich welche Schullaufbahn sie bislang durchlaufen haben. Die Anker-Peers sind mit ihrem Workshop und Vortragsangebot in unterschiedlichen Schulformen unterwegs, bieten Veranstaltungen auch abseits der üblichen Lernorte an, wie im zum Beispiel im Berufsinformationszentrum und in Freizeitheimen. Und sie sind in der Uni direkt erreichbar, haben einen eigenen Beratungsraum am Hauptcampus. Das Beratungsangebot profitiert von der Nähe der Studierenden zu den Ratsuchenden, etwa was das Alter oder Bildungsbiografien betrifft.

Mit der Öffnung der Hochschulen sollen weitere Personen erreicht werden, etwa Menschen ohne Abitur, mit Meister – wie sind Ihre Erfahrungen? Tauchen viele Fragen in der Studienberatung auf?

Das ist ja eine extrem heterogene Zielgruppe und der Bedarf an Information und individueller Beratung ist enorm. So haben zum Beispiel Meister schon seit langer Zeit eine allgemeine Hochschulzugangsberechtigung – wie das im Amtsdeutsch heißt. Die Öffnung der Universitäten und Hochschulen in wesentlich weitreichenderem Maße, zum Beispiel über berufliche Vorbildung, besteht erst seit Sommer 2010.

Es kommen seitdem viele Menschen zu uns, die erfahren haben, dass man auch ohne Abitur und nur auf der Basis von Berufsausbildung und Erfahrung studieren kann und jetzt Unterstützung benötigen, um ihre „Studienidee" zu konkretisieren und in den „Realitätscheck" zu gehen. Die Gespräche drehen sich dann um grundlegende Fragen nach Studienmotivation, Zieldefinition (Was will ich mit einem Studium erreichen?). Es geht häufig um die Hochschulzugangsberechtigung, die Studienform – Teilzeit oder Vollzeitstudium – und Finanzierungsmöglichkeiten. Eine weitere Gruppe sind Menschen, mit einem Studienabschluss eine neue Qualifikationsstufe oder gleich ein neues Berufsfeld erschließen wollen. In der Beratung geht es zum Beispiel um die Anforderungen des Studiums und  Veränderungen im Alltag: Wie hoch ist der Arbeitsaufwand? Wie kriege ich Job, auch Familie und Studium unter einen Hut? Schaffe ich das überhaupt und was ist, wenn nicht? Viele Menschen sorgen sich aufgrund der zusätzlichen Belastungen. Andere hingegen geben zu Gunsten der Studienaufnahme eine relativ sichere berufliche Existenz auf oder schränken sie massiv ein, für sie ist das Studium eine Art „Bildungsinvestition mit Renditeerwartung".

Versuche, hier eine Zielgruppe zu definieren und für diese gemeinsame Informationen auf Landesebene zentralisiert anzubieten, funktionieren nicht. Weshalb diese Studieninteressierten mit ihren individuellen Belangen sich direkt an die jeweiligen Hochschulen wenden, und das ist aufgrund der Unterschiede auch gut so. Vielen ist ein gutes Stück geholfen, wenn die „Blackbox" Universität erfahrbar wird. Dafür haben wir verschiedene Angebote entwickelt, wie die Infotage „Abi! ...und dann?" – die wir übrigens umbenennen werden, da sich viele Studieninteressierte, die ohne Abitur an die Uni kommen, aufgrund des Titels gar nicht angesprochen fühlen. Oder das Schnupperstudium zum Ausprobieren, wir nennen es „Studium Live". Unsere Anker-Peers sind schnell und unkompliziert ansprechbar und können aus erster Hand vom Studienalltag und den Anforderungen berichten. Wir haben grundlegende Informationen umfassend aufbereitet, auch im Web. Besteht erst mal Klarheit über die eigene Bildungsbiographie und wie diese mit Blick auf den Hochschulzugang bewertet ist, wird die Informationsrecherche wesentlich einfacher und man kann die folgenden Beratungsgespräche zielgerichtet führen.

Was häufig auffällt: Die Ratsuchenden weisen zumeist ein sehr hohes Maß an Motivation und Zielstrebigkeit auf, was auf dem Weg zu einem erfolgreichen Studium durchaus hilfreich sein kann.

Die Fragen stellte Isa Lange.


Martin Scholz leitet an der Universität Hildesheim die Zentrale Studienberatung und wirkt im Vorstand der Gesellschaft für Information, Beratung und Therapie an Hochschulen mit, der bundesweiten Vereinigung der Studienberater. Dass man auch ohne Abitur, aber mit Berufserfahrung studieren kann, kommt im Beratungsalltag an.

Martin Scholz leitet an der Universität Hildesheim die Zentrale Studienberatung und wirkt im Vorstand der Gesellschaft für Information, Beratung und Therapie an Hochschulen mit, der bundesweiten Vereinigung der Studienberater. Dass man auch ohne Abitur, aber mit Berufserfahrung studieren kann, kommt im Beratungsalltag an.