Sie lechzen nach Praxis: „Bei uns in Hildesheim schreibt man Briefe“

Friday, 17. October 2014 um 19:18 Uhr

Was macht ihr denn da? Aus Seminarräumen werden Aufführungsorte. Das von Studierenden des Fachbereichs Kulturwissenschaften und ästhetische Kommunikation organisierte Theaterfestival „state of the art“ startet an der Universität Hildesheim. Einen Blick hinter die Kulissen warf Isa Lange.

Für drei Tage werden aus Seminarräumen Aufführungsorte. In der ehemaligen „Eisfabrik“ ist die Gruppe Ingrid und Othello zu Gange, im angrenzenden „Bunker“ entsteht eine Raum- Klanginstallation, auf den Emporen findet eine Fotoausstellung und die Performance von Laurin Thiesmeyer und Tobias Malcharzik statt. Im ehemaligen Wohnhaus des Hofcafébesitzers steht ein Fliegentamagotchi und natürlich wird auch das Burgtheater auf dem Domänengelände genutzt. Auf der Wiese neben dem Festivalzentrum gibt es die Möglichkeit in einer Mobilen Sauna schweißtreibende Gespräche zu führen.

An diesem Wochenende schwirren junge Künstlerinnen und Künstler mit ihren Stücken über die Bühne, auf Dächer, an Waldränder, in Seminarräume, durch die Hirne der Zuseher, abseits der Konvention. Das von Studierenden der Universität Hildesheim organisierte Festival „State of the Art“ akzeptiert den Begriff Publikum nicht mehr.

„Schmeiß dich in deinen schicksten Jogger, die schnittigste Sporthose und komm vorbei“, rufen die Performerinnen Marie Simon, Marielle Schavan und Freya Hermann ihre Zuschauer auf. Das Leben schreibe die besten Geschichten und Sport ist Leben im Kleinen. Die Hildesheimer Studentinnen befassen sich in der Performance „Let’s get physical“ (Samstag, 18. Oktober 2014, 22.00 Uhr; Sonntag 13.00 Uhr State Camp) mit Triumph und Tränen, Sieg und Niederlage von der F-Jugend bis zur Seniorenmannschaft.

Dass Theater von gesellschaftlichen Entwicklungen kaum trennbar ist, zeigen Eva Hintermaier und Sarah Kindermann: Die beiden Studentinnen der Universität Hildesheim reagieren auf Weltpolitik und schreiben in der Performance „HATERSGONNAHATE“ (Freitag, 17. Oktober 2014, 21:00 Uhr) einen Brief an den Präsidenten Russlands. Darin heißt es: „Sie haben nach einer anfänglichen erfreulichen Phase der Modernisierung in Ihrer aktuellen Legislaturperiode einen verstärkt konservativen Kurs eingeschlagen. Bei uns in Hildesheim schreibt man in einem solchen Fall Briefe – daher wenden wir uns hiermit persönlich an Sie. Ist die plötzliche Rückbesinnung auf alte Werte und die Konstruktion neuer Feindbilder innerhalb und außerhalb Ihres Landes gar nur eine Ablenkung von der Unzufriedenheit des russischen Volkes mit Ihrer eigenen Person und Ihrem Führungsstil? In aller Höflichkeit bitten wir Sie darum, die von uns als menschenverachtend empfundenen politischen Aktivitäten noch einmal zu überdenken.“ Die beiden Performerinnen sorgen mit scharfen Gedanken, politischem Zündstoff und einer „do it yourself“-Haltung für einen in Erinnerung bleibenden Abend.

Rückblick – vier Wochen zuvor: An einem Freitagabend in Hildesheim. Es sind Semesterferien und über das Campusgelände schlendern drei junge Männer. 20 Meter Kabel im Arm, Boxen auf der Schulter. Die Woche war wieder lang, Laurin Thiesmeyer und Tobias Malcharzik sind mitten in den Proben. Und das Leben von Johann D. Thomas dreht sich in diesen Tagen um Produktionen, Technik, Geld und Räume. Gemeinsam mit Veronika Knaus und Julia Roth organisiert er das „State of the Art“. Was das ist? Der 25-Jährige beschreibt das so: „Es ist ein „Performing Arts“-Festival, auf dem Theater, Medien, Kunst, Literatur und Musik zusammenkommen, alle Institute der Universität Hildesheim, die hier auf der Domäne sind. Wir trennen nicht, sondern bringen zusammen und wollen einen Ort für gesellschaftliche Diskurse schaffen.“

Neben ihm stehen Laurin und Tobias. Sie „machen ein Theaterstück“. „Wir sind mitten in der Entwicklung und tarieren gerade aus, was passieren wird. In unserem Stück geht es um Individualismus, wir setzen uns mit Selbstinszenierung auseinander“, sagt Laurin Thiesmayer. Das begegne einem ununterbrochen im Alltag. „Es ist omnipräsent. Wir debattieren immer, ist man echt, ist man ‚man selber'? Wie stellt man sich dar? Wir fragen uns, was ist das überhaupt?“, sagt der 23-Jährige aus Bonn. „Wir arbeiten zunächst mit theoretischen Texten. Auf der anderen Seite probieren wir praktische Dinge aus, geben uns gegenseitig Aufgaben“, sagt Tobias Malcharzik.

Wie startet man, wie beginnt man? „Unsere Arbeit beginnt meistens am Schreibtisch“, sagt Tobias. Dazu unterhalten sie sich viel und diskutieren. Die schwierige Stufe sei, das, was man theoretisch erarbeitet und beredet hat, auf die Bühne zu bringen. Schreibt man erst den Text oder ist man erst körperlich aktiv? Das sei eine Typfrage. Bei Laurin sieht das so aus: Er hat Anweisungen aufgenommen, wie er sich im Raum positioniert und bewegt. Während die Audiospur läuft und die Anweisungen abgespult werden – gehe geradeaus, gehe fünf Schritte –, führt er diese Aufträge aus. „Ich höre den Monolog und tue Dinge. Ich äußere, was ich gerade tue“, sagt der Student, der auf diese Weise Stimme und Handeln trennt. Er spricht nicht. „Eine Stimme von außen sagt, was passiert, das führt den Zuschauer ins Ungewisse, eröffnet Spielraum, wer hier bestimmt, was passiert.“

Raum und Zeit für Probenprozesse, das benötigen Studierende, sagt Johann Thomas. „Wir lechzen nach Praxis. Wir arbeiten im Studium praktisch, etwa in Übungen und im Projektsemester, wir reflektieren die Praxis. In den Semesterferien haben wir dann mehr Zeit, um Produktionen und solche Kunst und Performance Festivals vorzubereiten.“ Ohne Unterstützer ginge das nicht, deshalb seien sie froh, das Festival auch dieses Jahr finanziell stemmen zu können. Außerdem helfen etwa 100 Studierende, vom Aufbau der Tribünen bis hin zum Grafikdesign und Texten für den hauseigenen Blog (www.statesechs.wordpress.com).

Während das Gespräch auf dem Hof der Domäne Marienburg läuft, dringt plötzlich der Refrain des Schlagerhits „Atemlos“ von Helene Fischer aus einem der Gebäude. Eigentlich kann den ja keiner mehr hören. Und: Was hat er ausgerechnet auf einer Theaterprobe zu suchen? In diesem Gebäude probt die Gruppe Ravechannel für ihre Produktion „Lasst mich euch unterhalten“, in der sie den Mechanismen des Schlagerbusiness auf den Grund geht und sich fragt, wieso Stars wie Helene Fischer heute solche Begeisterungsstürme auslösen. Dafür haben sie sogar auch eigene Songs geschrieben und aufgenommen, die sie neben bekannten Hits und anderen Szenen in ihrer Show zum Besten geben. Aber ganz wie im Musikantenstadl geht es eben doch nicht zu.

Ein eingespieltes Team sind Simon Niemann und Denise Biermann: Die beiden haben das Türkisch-Deutsche Theater gemeinsam mit weiteren Menschen aus der Stadt und Uni geleitet. „Ich bin seit drei Jahren in der Regieproduktion unterwegs, jetzt wage ich nach dem theaterpädagogischen ein künstlerisches Experiment. Ich gehe wieder auf die Bühne, nur mit dem Text, auch andere Menschen sollen den Text hören", sagt Niemann, der die Performance „Alles zwischen hier und Madrid" (Freitag 16:00 Uhr) bereits in Vlotho in Ost-Westfalen zeigte, wo er aufgewachsen ist. Wie die Proben ablaufen? „Den Text lernen kann ich überall, im Zug, zu Hause, das sind etwa zehn Seiten", sagt er. Dann kommt Denise Biermann ins Spiel: Die beiden arbeiten auf der Studiobühne der Universität an Szenen, an der Sprache, Denise spiegelt wieder, was sie beobachtet. „Sie achtet auf das Gleiche, nur aus einer anderen Perspektive. Sie ist die erste Zuschauerin", sagt Niemann.

Mit der Verbindung von Theorie und Praxis geht es weiter: Der 21-jährige Tobias Malcharzik gehört zum Beispiel auch zum studentischen Leitungsteam von transeuropa2015. Auf dem europäischen Festival für performative Künste stellen junge Künstlerkollektive im Mai und Juni kommenden Jahres ihre Vorstellungen von Arbeit vor und befassen sich mit gegenwärtigen Arbeitsbedingungen („Wie wollen wir arbeiten?“). Und Denise Biermann arbeitet an der nächsten Produktion des Türkisch-Deutschen Theaters, das sie neben dem Studium in dieser Spielzeit mit Mehmet Cetik und Tobias Kubern leitet. „In der nächsten Woche gehen die Proben los. Ausgangspunkt ist ein Text über einen Richter und Staatsanwalt, die unter verschärften Bedingungen spielen. Wir befassen uns in der Produktion damit, welche Regeln unser Handeln bestimmen. Wir setzen uns im Jubiläumsjahr der Stadt Hildesheim mit der Frage auseinander: Welches Gefühl haben Leute, die eigentlich ausgeschlossen sind?", erzählt sie. Nach der Probe ist vor der Probe, in Hildesheim wird durchgehend gespielt.

Information: State of the Art

Das „State of the Art“ ist ein studentisch organisiertes Diskursfestival des Fachbereichs Kulturwissenschaften und ästhetische Kommunikation der Universität Hildesheim. Beteiligt sind Studierende der Bachelorstudiengänge Kreatives Schreiben, Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis, Szenische Künste, Philosophie-Künste-Medien, sowie der Masterstudiengänge Inszenierung der Künste und Medien, Kulturvermittlung und Literarisches Schreiben. Seit seiner Gründung 2009 wurde das Festival zur Plattform für die freie künstlerische Praxis von Studierenden. Das Festival organisiert Probenbesuche bei den produzierenden Gruppen, stellt Räume, Technik und ein Produktionsbudget bereit – und vor allem ein diskussionsfreudiges Publikum. An die Produktionen schließen sich Nachgespräche mit Zuschauern und Beteiligten an. Interessierte sind herzlich eingeladen. Die Studierenden verwischen die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Studiengängen und Instituten durch „transdisziplinäre Zusammenarbeit“ und verknüpfen Praxis und Theorie. 2014 organisieren Johann D. Thomas, Veronika Knaus und Julia Roth das Festival.

Die Studierenden wollen in diesem Jahr neben Gesprächen über die künstlerischen Arbeiten auch einen Diskurs über die Produktionsbedingungen im Studienbetrieb anregen. Das sechste „State of the Art“ läuft vom 17. bis 19. Oktober 2014. Alle Veranstaltungen auf dem Kulturcampus Domäne Marienburg sind öffentlich und laufen Freitag ab 15:00 und Samstag und Sonntag ab 11:30. Der Festivalpass kostet 28 Euro (erm. 19 Euro); Tagestickets für Freitag oder Samstag 15 Euro (erm. 10 Euro), Tagesticket für Sonntag 12 Euro (erm. 8 Euro).


Nach den Proben auf dem Hof der Domäne Marienburg: Johann D. Thomas, Laurin Thiesmayer und Tobias Malcharzik. Ein eingespieltes Team: Simon Niemann und Denise Biermann wagen sich mit nur Text auf die Bühne. Sie organisieren das Theaterfestival an der Universität Hildesheim: Veronika Knaus, Julia Roth und Johann Thomas. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim, Foto (Orgateam): state of the art

Nach den Proben auf dem Hof der Domäne Marienburg: Johann D. Thomas, Laurin Thiesmayer und Tobias Malcharzik. Ein eingespieltes Team: Simon Niemann und Denise Biermann wagen sich mit nur Text auf die Bühne. Sie organisieren das Theaterfestival an der Universität Hildesheim: Veronika Knaus, Julia Roth und Johann Thomas. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim, Foto (Orgateam): state of the art

Nach den Proben auf dem Hof der Domäne Marienburg: Johann Thomas, Laurin Thiesmayer und Tobias Malcharzik. Ein eingespieltes Team: Simon Niemann und Denise Biermann wagen sich mit nur Text auf die Bühne. Sie organisieren das Theaterfestival an der Universität Hildesheim: Veronika Knaus, Julia Roth und Johann Thomas. Fotos: Isa Lange/Uni Hildesheim, Foto (Orgateam): state of the art